"Unter lebhaftem Jubel schob sich ein kleiner Kraftwagen, auf dessen Oberdeck Karl Liebknecht unter einer großen roten Fahne stand, durch die Masse und hielt gegenüber dem Hauptportal des Schlosses."
Wie Akademikerinnen die Hohenzollern verdrängten
29:13 Minuten
Nach 1918 bekam das Berliner Schloss ungewöhnliche Zwischenmieter: Der Hofstaat zog aus, Kultur und Wissenschaft zogen ein – und damit auch ein ganz neuer Typus Frau: Akademikerinnen der ersten Generation. Wer waren diese Frauen?
Der 7. September 1950 war ein schlechter Tag für Margarete Kühn: Margarete Kühn war kurz nach dem Krieg die Leitung der preußischen Schlösser übertragen worden. Und ihr Dienstsitz – das war das Berliner Schloss, das nun inmitten einer Ruinenlandschaft stand und selbst schwer kriegsbeschädigt war. Kühn, die seit 1929 in der Schlösserverwaltung Stufe um Stufe aufgestiegen war, wollte die Wiederherstellung des Schlosses, das zwar stark beschädigt, aber keineswegs zerstört war.
Doch der kommunistische Stadtrat Arthur Pieck erklärte, niemand habe "Interesse an Machwerken, die nur Ausdruck des hohenzollernschen Imperialismus sind". 1950: War da der Bau noch Ausdruck des "hohenzollernschen Imperialismus", über 30 Jahre, nachdem die Hohenzollern das Schloss verlassen hatten?
Deutschland macht Revolution
November 1918: Der Erste Weltkrieg ist verloren, der Kaiser in Belgien. Deutschland macht, was es selten macht: Revolution. In Kiel und Wilhelmshaven meutern die Matrosen der Kriegsmarine, in allen größeren Städten bilden sich Arbeiter- und Soldatenräte, und in der Hauptstadt, in Berlin, versammeln sich am 9. November Tausende am Schloss.
Auch ein Spielfilm der DEFA von 1971 zeigt Liebknecht auf dem Platz vor dem Schloss: "Werktätige Berlins, Soldaten. Nun ist Eure Stunde gekommen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloss Jahrhunderte gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland", ruft er.
Wenige Meter westlich, am Reichstag, hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann ebenfalls vor demonstrierenden Massen gesprochen: "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die Deutsche Republik!"
Welche Republik – da waren sich die Revolutionäre nicht einig. Aber: Republik. Das war klar. Keine Monarchie mehr. Von diesem 9. November 1918 an war das Schloss nicht mehr das Schloss der Hohenzollern, sondern das Schloss der Republik. Die Revolution verdrängte Kaiser Wilhelm, Kaiserin Auguste und die Zofen aus dem Schloss. Der Hofstaat zog aus, Kultur und Wissenschaft zogen ein – und damit kam auch ein ganz neuer Typus Frau ins Haus: Akademikerinnen der ersten Generation, Frauen, die sich ihren Weg in die Wissenschaft oft mühsam gebahnt hatten.
Eugenie Schwarzwald zum Beispiel. Sie stammte aus Galizien, im Osten von Österreich-Ungarn. Zum Studium musste sie ins Ausland, nach Zürich, wo Frauen damals schon an der Uni zugelassen wurden. Auch die Promotion zum Dr. phil. gelang der Pädagogin in der Schweiz, als einer der ersten Frauen Österreichs.
"Dann kam sie nach Wien im Jahr 1900, ein sehr wichtiges Jahr für die Wiener Kultur- und Geistesgeschichte, und fing an als No-Name, als unbekannte weibliche Person, Mädchenschulen zu gründen, zu einer Zeit, wo die Behörden überhaupt kein Interesse und keine Mittel zur Verfügung gestellt haben für öffentliche Schulen für Mädchen – also das war durchaus innovativ in der Zeit", sagt Deborah Holmes. Sie hat eine Biografie über Eugenie Schwarzwald geschrieben.
Eugenie Schwarzwald wurde auch Genia genannt, oder schlicht Fraudoktor. Fraudoktor baute in Wien zunächst in Friedenszeiten eine Reihe von Bildungseinrichtungen für Mädchen und Frauen auf, sodann im Ersten Weltkrieg ein ganzes Netz von Wohlfahrts- und Volksgemeinschaftseinrichtungen.
Dann fiel ihr Blick auf Berlin, ein Sehnsuchtsort der Wiener Bohème, schon vor dem Ersten Weltkrieg. "Dann kommt es nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, in Deutschland natürlich zur Inflation und auf einmal steht Berlin vor gravierenden Problemen", erzählt Deborah Holmes.
Man könne sich das Essen, das Leben nicht mehr leisten, vor allem als freier Schriftsteller, Student oder Künstlerin. "Und da hat Schwarzwald die Idee: Retten wir doch Berlin!"
Spendenappelle in Österreich
Sie gründete die Österreichische Freundeshilfe – der Freund, das war Deutschland – und machte sich an die Arbeit. Sie wendete sich mit Spendenappellen an die österreichische Bevölkerung. Aber sie brauchte natürlich auch einen Platz in Berlin, um ihr philanthropisches Projekt zu verwirklichen.
"Und da kommt sie auf die glorreiche Idee: Das Stadtschloss steht doch leer. Wir brauchen größere Räumlichkeiten, wir brauchen eine große Küche, die sonst nicht gebraucht wird. Das ist ja doch perfekt. Machen wir es da auf", berichtet Holmes.
"Und sie war eine sehr mutige, auch sehr extrovertierte Frau und sie ist angeblich – nach den Erinnerungen ihrer Mitarbeiterinnen – ist sie einfach zum Oberbürgermeister der Stadt Berlin gegangen und hat direkt gefragt, ob sie die Schlossküche übernehmen darf, und er hat zugesagt."
So eröffnete 1923 in der einst kaiserlichen Schlossküche, direkt an der Spree gelegen, die Gemeinschaftsküche der Eugenie Schwarzwald. Der Andrang war gewaltig, so groß, dass Hungernde abgewiesen werden mussten. Die Küche sollte vor allem Künstlern, Freiberuflern, Studenten ein günstiges Essen sichern, und dies an kleinen, weiß gedeckten Tischen mit Blumen.
Es sollte auch in lausigen Zeiten ein Ort gutbürgerlicher Atmosphäre sein. "Sie hat dann nach und nach an den verschiedenen Hochschulen in Berlin ähnliche Küchen gegründet", sagt Holmes. Am besten sei es langfristig bei den Studenten angekommen.
Doch nach und nach versiegte der Spendenstrom für Schwarzwald und sie musste die Küchen dichtmachen. Das eben erst gegründete Studentenwerk Berlin aber übernahm – und so gab es fortan die Mensa im Schloss.
Eugenie Schwarzwald ging, die Reichstagsabgeordnete Marie Elisabeth Lüders kam. Lüders gehörte zu den ersten Frauen, die Staatswissenschaften studierten und auch promovierten. Das war 1912. Als Abgeordnete engagierte sie sich intensiv für die Sache der Frauen.
Lüders gehörte zu den unterschätzten Politikerinnen der Weimarer wie auch der frühen Bundesrepublik, meint die Historikerin Marion Röwekamp von der Freien Universität. Sie sei "eine ganz tolle, wichtige Frau," gewesen, insbesondere in der Weimarer Zeit. Als Frauenrechtlerin habe sie immer in der ersten Reihe dafür gekämpft, dass Frauen gleiche Rechte erlangen. "Und ohne jetzt Juristin gewesen zu sein – sie war ja Nationalökonomin von der Ausbildung her –, hat Lüders ganz klar erkannt, wie wichtig es ist, dass Frauen formell gleiche Rechte bekommen. Alle Anliegen, die die Frauenbewegung hatte, zum Beispiel auch die Zulassung der ersten deutschen Frauen als Juristinnen, sind in der Regel über sie ins Parlament eingefiltert worden. Und sie hat meistens auch die wortkräftigsten und besten Beiträge dazu geleistet."
Lüders setzt sich für Studentinnen ein
Zugleich hat sie sich in Berlin für die Einrichtung eines Tagesheims für Studentinnen eingesetzt. Es sollte der Ruhe und Erholung in den Arbeitspausen und am Abend dienen. Eine solche Einrichtung war notwendig, weil die Wohnsituation besonders der Studentinnen prekär war. Die Suche nach geeigneten Räumen gestaltete sich schwierig.
Wo war Platz? Im Schloss! Das preußische Kultusministerium stellte kostenlos elf Zimmer, Küche, Bad sowie Lagerräume zur Verfügung – im Apothekenflügel an der Spree. In vier Ruhezimmern standen 31 Betten. Es galt – wie dem Jahresbericht aus dem Jahr 1929 zu entnehmen ist: das Gesetz der unbedingten Ruhe und Untätigkeit.
Lebhaft ging es dagegen in den drei Aufenthaltsräumen zu, die mit 14 Tischen, 48 Sesseln und zehn Bänken sowie einer Reihe von Stehlampen möbliert waren. Dazu kamen Radio und Grammofon – und darauf vielleicht ein Schlager des Jahres.
Die ehemalige Hohenzollernresidenz beherbergte nun das Helene-Lange-Tagesheim für Studentinnen, das in Würdigung und Anwesenheit der inzwischen 80-jährigen Frauenrechtlerin Helene Lange am 5. Mai 1928 eingeweiht worden war. Geöffnet war es montags bis samstags von zehn Uhr früh bis zehn Uhr abends.
Zur Lektüre lag die Jungdeutsche Frauenzeitung ebenso aus wie der Manchester Guardian oder die Blätter des Central Vereins für Deutschtum und Judentum. Im Sommersemester war das Bad mit je zwei Wannen und Brausebecken an zwei Tagen in der Woche geöffnet, im Winter an drei Tagen. Ein Bad kostete 40 Pfennig, mit Handtuch 50, mit großem Laken 75. Seife ging extra.
Die Teeküche bot Gebäck an zum Selbstkostenpreis – drei Stück für zehn Pfennig. Für das Mittagessen war die benachbarte Mensa in der Schlossküche zuständig.
Mehr als nur eine Politikerin
Für die Reichstagsabgeordnete Marie-Elisabeth Lüders stand das Tagesheim für Studentinnen nicht im Zentrum ihrer politischen Bemühungen, aber sie war mehr als nur eine Politikerin, die ihren Namen für die gute Sache gab. Im Landesarchiv Berlin finden sich Briefe, mit denen Lüders wiederholt beim Bürgermeister Berlins vorstellig wurde, sei es mit der Bitte um einen größeren Zuschuss zum Unterhalt, sei es mit Dank für eine Kohlenspende.
Zu den zahlreichen und nicht selten prominenten Mitgliedern des Trägervereins gehörte auch die Lebensgefährtin Helene Langes, die Reichstagsabgeordnete Gertrud Bäumer, hier in einem Wahlaufruf zur Reichstagswahl 1928 für die Deutsche Demokratische Partei:
"Ich bin Demokratin, weil ich an das deutsche Volk glaube, das in schwerster Stunde seine Fähigkeit gezeigt hat, Ordnung und Recht wiederherzustellen. Und weil ich an das deutsche Volk glaube, glaube ich an die Verfassung von Weimar, die jeden Bürger und jede Bürgerin zur Mitentscheidung in Reich, Staat und Gemeinde beruft."
Zu den Unterstützerinnen des Helene-Lange-Tagesheims im Berliner Schloss zählte auch, wie man damals sagte, das Fräulein Professor Doktor Meitner. Dieses Fräulein Meitner ist Lise Meitner, die erste weibliche Professorin für Physik in Deutschland. Sie hatte ihr Studium in Wien begonnen. Als eine der Ersten, noch dazu im Fach Physik.
In Wien war das einfacher als in Deutschland, wie sie später, 1953, im Radio erzählte. "Im Allgemeinen war aber damals die Einstellung in Deutschland zum Frauenstudium sehr ablehnend. Es waren keineswegs nur Universitätslehrer, die Schwierigkeiten machten, Viele Mädchen mussten sich die Studienerlaubnis von ihren Eltern erkämpfen."
Annette Vogt vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte kennt die Biografie Lise Meitners: Sie habe in Wien promoviert, sei 1906 nach Berlin gekommen. "Ursprünglich wollte sie nur einige Vorlesungen hören und sie ist entsetzt: An der Wiener Uni dürfen die Frauen schon regulär studieren, ungefähr ab 1900, aber in Preußen erst ab 1908. Sie war etwas erstaunt. Sie muss dann zu jedem Professor gehen, muss den fragen, der muss einverstanden sein, dass sie als Gast seine Vorlesungen besucht. Da lernt sie also gleich Max Planck kennen, der unterstützt sie, und dann lernt sie Otto Hahn kennen, und dann fängt diese wunderbare, erfolgreiche Zusammenarbeit an zwischen dem Chemiker Otto Hahn und der Physikerin Lise Meitner zu diesem neuen, damals neuen Forschungsgebiet Radioaktivität."
"Erst im August 1908 wurde durch ein besonderes Gesetz die allgemeine Zulassung der Frauen zur Universität geregelt. Trotzdem gab es bis Ende der 20er-Jahre Professoren, die Studentinnen den Zutritt zu ihren Vorlesungen verweigerten. Das klingt verwunderlich. Aber was sollte das Ministerium gegenüber einem berühmten Wissenschaftler tun, der – wie der Germanist Röthe – erklärte, sobald eine Studentin in seinem Hörsaal auftauchte, er werde die Vorlesung nicht beginnen, ehe die Dame den Saal verlassen habe."
Meitner ist der Star des Abends
Ab 1912 – und bis zu ihrer Emigration 1938 – arbeitete Lise Meitner mit dem späteren Nobelpreisträger Otto Hahn in Berlin-Dahlem. Das Institut für Chemie war ein Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – und die hatte ihren Sitz seit 1922 im Berliner Schloss.
Das machte das Fräulein Professor Doktor Meitner noch nicht zum Schlossfräulein, aber am 19. Januar 1927 war sie im Schloss der Star des Abends. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft veranstaltete sogenannte Wintervorträge, Referate von Wissenschaftlern aus den Instituten der Gesellschaft. Der Auftritt einer Wissenschaftlerin: Das war etwas Besonderes, auch ihr Thema "Der Bau des Atominneren".
Die Presse attestierte Meitner, fesselnd gesprochen zu haben, und berichtete von lebhaftem Beifall einer großen Zuhörerschar, wobei der Saal, in dem sie vortrug, nicht übermäßig groß war. Es war der frühere Sitzungssaal des preußischen Staatsrates, Raum 489 auf der südöstlichen Seite des Schlosses mit Blick auf den Neptunbrunnen draußen auf der Straße.
1918, als die Republik das Schloss übernahm, war es weitgehend intakt. Die Hohenzollern waren draußen, einige Nutzer waren noch drin, andere zogen zunächst relativ ungeordnet ein. Doch der preußische Staat, das demokratische Preußen als neuer Eigentümer, traf seine eigenen Entscheidungen. Zunächst wurde das Kunstgewerbemuseum aus dem heutigen Martin-Gropius-Bau ins Schloss verlagert. Später wurden die früheren kaiserlichen Wohnräume umgebaut zu einem Museum für die Geschichte der Hohenzollern. Beide Museen entwickelten sich zu Besuchermagneten.
Schloss als Zentrum von Kultur und Forschung
1925 eröffnete das erste Sportmuseum der Welt, das Museum für Leibesübungen, etwas beengt, oben im dritten Stock des Schlosses. Sogar in der Nazizeit kam noch ein Museum hinzu, das Museum der preußischen Staatstheater, im Quergebäude zwischen Eosander- und Schlüterhof. Gleich daneben der Alabastersaal wurde noch 1940 für das Staatsopernballett als Probenbühne ausgebaut.
Zu den Mietern im Schloss zählte seit Mitte der 20er-Jahre auch die Deutsche Kunstgemeinschaft. Sie wurde gegründet, um die Not der Künstler zu mildern, und propagierte den Ankauf von Kunst durch Ratenzahlungen. Im Sommer 1926 wurde die erste Verkaufsausstellung im Schloss eröffnet. Nach 1933 wurde die Kunstgemeinschaft aufgelöst. Die Reichskammer für bildende Künste, eine Sektion der Goebbelsschen Reichskulturkammer, übernahm die Räume.
In den Jahren der Republik war eine Wissenschaftseinrichtung nach der anderen ins Schloss eingezogen: die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Alexander von Humboldt Stiftung, das Psychologische Institut der Universität, das auf Betreiben von Fritz Haber gegründete Japaninstitut, die Mexiko-Bücherei, das Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission, das Seminar für Publizistik oder auch das Forschungsinstitut für Geschichte der Naturwissenschaften.
Die Juristinnen im Schloss
Das Schloss war also ab etwas Mitte der 20er-Jahre nicht nur das Schloss der Republik, es war auch ein Zentrum von Kultur und Wissenschaft. Und die vom Kaiser 1911 eingerichtete Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war mittendrin – mit ihrer Hauptverwaltung und zwei großen Instituten: dem 1924 gegründeten Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht sowie jenem für ausländisches und internationales Privatrecht.
Für kurze Zeit war hier als Hilfskraft eine junge Juristin namens Anne-Gudrun Scherling tätig – eine Frau, die in der Bundesrepublik noch Karriere machen sollte. Marion Röwekamp hat ihr Leben nachgezeichnet:
"Anne-Gudrun Meier-Scherling war Juristin, eine der frühen Juristinnen, muss man dazu sagen, weil Juristinnen in Deutschland überhaupt erst seit 1922 in juristische Berufe gehen konnten. Das heißt, zu dem Zeitpunkt, als Gudrun Meier-Scherling am Institut für ausländische und internationales Recht bei Professor Hallstein gearbeitet hat, gehörte sie immer noch zu den Pionierinnen in dem Fach. Anne-Gudrun Meier-Scherling ist allerdings später, nach dem Krieg dann, zu einer der ganz wichtigen Figuren der deutschen Juristinnen geworden, weil sie die erste Richterin am Bundesarbeitsgericht war."
Die neuen Frauen im ehemaligen Hohenzollernschloss: Dazu gehörte auch die in London geborene Marguerite Wolff, die schon seit der Gründungsphase am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht arbeitete. Sie hatte in Cambridge studiert, lebte aber seit ihrer Heirat mit dem Rechtswissenschaftler Martin Wolff in Berlin.
Sie hat also unglaubliches Wissen gehabt in juristischen Fragen und mit ihrem Englisch konnte sie auch sehr gut die Übersetzung leisten", sagt Annette Vogt. "Weil – wer ein bisschen Ahnung hat von Jura: Das Kontinentalrecht ist anders als das angelsächsische Recht. Deshalb sind da auch viele Dinge nicht kompatibel. Und da sie nun in beiden Sprachen fit war, im Deutschen und im Englischen und in den juristischen Termini, war sie also unglaublich wichtig und hat bei Viktor Bruns ganz viel Übersetzungsarbeiten gemacht, hat den Aufbau des Instituts mit geleitet, muss dann in Folge dieses sogenannten Gesetzes, des antisemitischen, sie ist jüdisch, sie in einer jüdischen Familie in London geboren, Martin Wollf ist jüdisch, also sie verliert sofort ihre Stelle im Mai 1933."
1935 ging sie zurück nach London. Ihr Mann folgte nach seiner Vertreibung aus Universität und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1938. Beide arbeiteten dann gemeinsam an einem Buch über Privatrecht in Großbritannien. Sie arbeitete zudem für die BBC und war später Übersetzerin beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst
Dass im Schloss zwei Institute für internationales Recht ihren Sitz hatten, war auch eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg. Deutschland war nach dem verlorenen Krieg international isoliert, der Bedarf an Rechtsberatung in Wirtschaft und Regierung war groß.
Eine andere Reaktion auf den Krieg war die Gründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Das Ziel: Die Wiederanknüpfung akademischer Beziehungen zu den großen, uns im Weltkrieg feindlichen westlichen Kulturnationen: Vereinigte Staaten, England, Frankreich.
Was als studentische Initiative in Heidelberg begonnen hatte, konnte bald in Berlin fortgesetzt werden. Adresse für mehrere Jahre: Berlin C2. Schloss, Portal III. Auch hier eine Frau, diesmal in führender Position. Eine Frau, von der selbst der DAAD heute nur weiß, dass sie Ingrid Dybwad hieß und dass sie wohl noch bis 1934 Leiterin des Akademischen Hauptreferates war, und dass sie dann als Halbjüdin entlassen wurde.
Eine Recherche im Internet hilft weiter. Ein kleines, feines amerikanisches Frauen-College in Poughkeepsie hat nämlich seine Studentenzeitung bis in ihre Anfänge hinein ins Netz gestellt. Und da findet sich ein Artikel aus dem Jahr 1930 über Dybwads Besuch in den USA. Das Blatt stellte sie vor als Sekretär der deutsch-amerikanischen Abteilung beim DAAD mit großen Verantwortlichkeiten.
Woanders gibt es einen Hinweis auf Karl Korn, der nach dem Krieg Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wurde. Er hatte den Einstieg in den Journalismus Ingrid Dybwad zu verdanken. Korn war vom DAAD als Lektor nach Frankreich entsandt worden. Bei einem Vorbereitungstreffen lernte er die Leute des Austauschdienstes kennen, so auch Ingrid Dybwad. Zurück aus Frankreich traf er die "Seele des Austauschdienstes" wieder.
Dybwad fragte ihn, der sich gerade erfolglos um ein Volontariat bei der "Frankfurter Zeitung" beworben hatte, ob er zum "Berliner Tageblatt" kommen wolle. Sie kannte den damaligen Verlagsleiter. Der brachte Korn zu Chefredakteur Paul Scheffer. So wurde Korn zum 1. September 1934 Volontär, machte Karriere, auch in der NS-Publizistik, während Dybwad den DAAD, das Schloss, verlassen musste – die junge Frau jüdischer Abstammung starb 1940 an einer Lungenentzündung und wurde in Leipzig beigesetzt.
Die Frau der Schlösser und Gärten
Ähnlich erging es Elisabeth Henschel-Simon. Die Kunsthistorikerin wurde 1927 Kustodin bei der neu geschaffenen preußischen "Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten", die all jene Schlösser zwischen Königsberg und Kassel in Obhut hatte, die nach der Revolution vom Staat übernommen worden waren. Dienstsitz war das Berliner Schloss. Henschel-Simon wurde 1933 entlassen, weil sie Jüdin war.
Mit ihrem Mann machte sie sich auf den Weg nach Palästina. Doch das Land blieb ihnen fremd. In Briefen an Freunde schrieb sie: "Wer keinen unerschrockenen Zionismus mitbringt, wird es schwer haben, sich einzufinden, und sogar viele Zionisten sind desillusioniert zurückgekehrt." Immerhin fand Henschel-Simon nach einiger Zeit eine Beschäftigung im neuen Rockefeller-Museum für Archäologie in Jerusalem.
In seiner Reportage "Von Kairo nach Damaskus" berichtet der amerikanisch-armenische Publizist John Roy Carlson über einen Abend im Mai 1948, an dem er von Arabern in ein offensichtlich verlassenes Haus geführt wird, ein Haus von Juden.
"Die Bibliothek zerstört, Bücher überall auf dem Boden, vieles Deutsch oder Französisch, manches Hebräisch, Ferner Schallplatten und Kunstbände. In einem Papierhaufen ein Stapel Visitenkarten: Dr. Elisabeth Henschel-Simon. Dann ein Briefumschlag, adressiert an Henschel-Simon im Palästinensischen Antiken-Museum, ein anderer adressiert an ihren Mann, ein dritter wiederum an sie, Tante Elisabeth."
Carlson hat keinen Zweifel: Man hat ihn in ein Haus von Flüchtlingen aus Deutschland geführt. Von ihnen selbst aber keine Spur in jener Reportage. Elisabeth Henschel-Simon, die Kustodin aus dem Berliner Schloss, soll bereits 1946 gestorben sein.
Die Kunsthistorikerin Margarete Kühn
Letztes Kapitel: Margarete Kühn, die letzte der neuen Frauen im Berliner Schloss. Sie hatte 1923 Abitur gemacht, Kunstgeschichte studiert und im Sommer 1928 in München promoviert – in dem Sommer, in dem die Frauen in Großbritannien, zehn Jahre nach Deutschland, das Wahlrecht erlangten.
Im Frühjahr 1929 wurde Kühn Volontärin bei der Verwaltung der staatlichen Schlösser und Gärten. Viele Frauen gab es da nicht, weiß der Kunsthistoriker Helmut Börsch-Supan, der später lange mit Kühn zusammengearbeitet hat: "Es gab hier außer Margarete Kühn eine Erika Henschel-Simon, offenbar mit einem jüdischen Hintergrund. Die musste sich nach 1933 irgendwie verflüchtigen und zurückziehen. Sonst war die Kunstgeschichte damals noch eine ziemlich reine Männerangelegenheit."
Zwischen 1929 und 1933 werden sich Margarete Kühn und Elisabeth Henschel-Simon geradezu zwangsläufig im Schloss begegnet sein, bei ihrer Arbeit in der Schlösserverwaltung, zumindest gelegentlich.
Ob sie jemals gemeinsam etwas unternommen haben, und sei es nur gemeinsam zu einem der Freiluftkonzerte im Schlüterhof des Schlosses zu gehen, die die Philharmoniker und die Staatskapelle ab 1932 gaben?
"Ich weiß nur, dass Margarete Kühn auch später noch in Verbindung mit ihr stand, übrigens auch mit einem anderen jüdischen Kunsthistoriker, Hans Huth, der sich dann nach Chicago zurückgezogen hat, daran können Sie sehen, dass sie politisch ganz und gar auf der richtigen Seite stand, und sie war in der Beziehung eine absolut integre Person", sagt Helmut Börsch-Supan.
Während Henschel-Simon 1933 ins Exil getrieben wurde, wurde Kühn 1935 ins Angestelltenverhältnis übernommen. Was sie im Einzelnen getan hat in jener Zeit, ist schwer zu sagen, denn eine Biografie existiert nicht und Nachrufe galten vor allem ihrer Zeit als Chefin der Schlösser und Gärten in West-Berlin, wo es Glienicke, Grunewald, Pfaueninsel und vor allem Charlottenburg zu retten, zu sichern oder wieder aufzubauen galt.
Zuvor aber führte Kühn den Kampf um das Schloss in der Mitte der Stadt, das die SED-Oberen sprengen lassen wollten. "In dem Moment, wo die DDR-Regierung auch gegen den Widerstand vieler, also natürlich der Mehrheit der Kunsthistoriker im Westen für den Erhalt des Schlosses kämpften, da liefen bei ihr die Fäden des Widerstandes ein bisschen zusammen", berichtet Helmut Börsch-Supan.
Im Oktober 1948 erklärte das Baupolizeiamt von Berlin-Mitte das Schloss für baufällig und ordnete die Räumung des Gebäudes an. Dabei war das Schloss nach 1945 noch Ort großer Ausstellungen: Im Weißen Saal wurden Werke der französischen Moderne gezeigt, Neubaupläne für das zerstörte Berlin wurden präsentiert und 1948 wurde an die Revolution von 1848 erinnert.
Margarete Kühn widersprach der Räumung des Schlosses. Vergeblich. Sie schrieb einen flammenden Appell im Tagesspiegel für die Wiederherstellung des Schlosses. Vergeblich. Sie ermunterte den schwedischen Kunsthistoriker Ragnar Josephson zur Stellungnahme. Und Josephson schrieb. Auch er vergeblich: Als sein Text erschien, am 19. November 1950 im Svenska Dagbladet, war das Schloss schon weitgehend gesprengt.
Im Westen Berlins stand damals ein anderes Hohenzollernschloss, das noch viel stärker zerstört war und dessen Tage eigentlich gezählt waren: das Schloss Charlottenburg.
"Der Rückenwind für den Wiederaufbau des Schlosses Charlottenburg, der ja mit Bundesmitteln betrieben wurde, der kam natürlich durch den Abriss, durch die Sprengung des Berliner Schlosses", sagt Helmut Börsch-Supan. "Da sagte man, im Westen machen wir hier etwas anders als im Osten."
Wer weiß – hätte Ulbricht das Schloss im Ostsektor stehenlassen, wäre das Schloss Charlottenburg womöglich abgerissen worden. So aber blieb Margarete Kühn Schlossfrau: Sie organisierte den Wiederaufbau des Charlottenburger Schlosses – während im Zentrum Berlins 1951 auch der Name Schlossplatz getilgt wurde und der Wind fortan über den öden Marx-Engels-Platz wehte.