Wenn die Natur zum Politikum wird
Wandern, Bergsteigen, im Wald spazieren, Baden gehen: Das Betreten der Landschaft ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Das Betretungsrecht ist in verschiedenen Gesetzen abgesichert, aber es gibt immer wieder Streit - zuletzt waren es Uferwege in Brandenburg.
Der Griebnitzsee liegt an der Stadtgrenze zwischen Berlin und Potsdam. Die Villen, die hier seit der Kaiserzeit gebaut wurden, haben einen malerischen Blick auf das Wasser und das gegenüber liegende bewaldete Berliner Ufer. Als zu DDR-Zeiten die Mauer gebaut wurde, war das nicht so. Die Uferzone lag im Sperrgebiet, Vorder- und Hinterlandmauer trennten die Villen vom Ufer. Dann wurde mit dem Mauerfall 1989 das Sperrgebiet zugänglich - Spaziergänger, Jogger und spielende Kinder genossen den ehemaligen Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen als Uferweg. Doch es war eine trügerische Idylle: Denn Anwohner fühlten sich gestört und seit 2009 ist der Weg unterbrochen, weil einige Villenbesitzer ihn mit Zäunen und Hecken abriegelten. Zum Ärger der Passanten:
"Wir finden die Art und Weise, wie das von den Anrainern gemacht worden ist, eine Zerstörung der Landschaft ist, und natürlich für diejenigen, die den Uferweg benutzt haben, nicht nur für die Potsdamer, sondern auch für die vielen Berliner, eigentlich eine sehr schlechte Lösung ist."
Streit um den Uferweg
Der Streit um den Uferweg beschäftigt die Gerichte und die Potsdamer Stadtverwaltung schon seit Jahren. Anrainer, denen die Uferflächen bis zum Wasser gehören, berufen sich auf den Schutz des Privateigentums, Uferweg-Befürworter auf einen Grundsatz der brandenburgischen Landesverfassung, auf den Artikel 40, Absatz 3:
"Land, Gemeinden und Gemeindeverbände sind verpflichtet, der Allgemeinheit den Zugang zur Natur, insbesondere zu Bergen, Wäldern, Seen und Flüssen unter Beachtung der Grundsätze für den Schutz der natürlichen Umwelt freizuhalten und gegebenenfalls zu eröffnen."
Auch im Brandenburgischen Naturschutzgesetz wird ein Betretungsrecht formuliert. Im April 2009 erklärte jedoch das Oberverwaltungsgericht Berlin Brandenburg in einem Verfahren, dass dieses Recht hier nicht greife ...
"... weil der streitbefangene Grundstücksteil nicht Teil der freien Landschaft im Sinne von Satz 1 der Vorschrift ist und zum privaten Wohnbereich nach Satz 3 gehört."
Die Stadt Potsdam verfolgt dennoch weiterhin das Ziel eines durchgängigen Uferweges. Bürgermeister Burkhard Exner, Jurist und stellvertretendes Stadtoberhaupt:
"Wir haben schon 1991 beschlossen, dass hier ein Bebauungsplan aufgestellt wird, der den existenten Kolonnenweg für die Öffentlichkeit sichert, das war ja eine wesentliche Errungenschaft 1989/90 folgende, dass aus diesem ehemals völlig unzugänglichen Kolonnenweg ein Weg für die Öffentlichkeit wurde, für Fußgänger, für Radfahrer, für alle. Und die Stadt hat seit 1991 nie einen Zweifel daran gelassen, dass wir die Öffentlichkeit sichern wollen."
Die Stadt hofft mithilfe eines Mediationsverfahrens die Anrainer überzeugen zu können - und mit einem neuen Bebauungsplan, der ihnen als Ausgleich für den Weg erlauben soll, Stege und Bootshäuser zu bauen. Ausgang: offen.
Freier Zugang zur Natur
Der freie Zugang zur Natur – dieses Recht steht in Deutschland eigentlich außer Frage, auch wenn immer wieder um die konkrete Ausgestaltung gestritten wird. Der Jurist Martin Burgi, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Experte für Umweltrecht:
"Sie haben grundsätzlich das Recht, die freie Natur zu betreten, und zwar aufgesplittet danach, ob Sie sich im Wald befinden, auf einem Gewässer oder in der sonstigen freien Natur. Jeweils ist die Rechtslage ein bisschen unterschiedlich, aber im Kern so, dass Sie ohne Zulassung einer Behörde und ohne Erlaubnis des jeweiligen Eigentümers, wenn es einen gibt, diese entsprechenden Grundstücke für Erholungszwecke nutzen dürfen."
Das Betreten von Wäldern, Fluren und Seeufern ist in verschiedenen Gesetzen geregelt, unter anderem im Bundeswaldgesetz und im Bundesnaturschutzgesetz, daneben gibt es unterschiedliche Bestimmungen in den Ländern, zum Beispiel in den Landesforstgesetzen. Vorreiter war Bayern, dort wurde schon in der bayerischen Verfassung von 1946 im Artikel 141 formuliert:
"Der Genuss der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wildwachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang ist jedermann gestattet."
"Das Betretungsrecht kam 1946 auf Initiative des damaligen SPD-Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner in die bayerische Verfassung."
Die Historikerin Ute Hasenöhrl von der Universität Innsbruck:
"Hoegner war ja auch einer der Väter der bayerischen Verfassung und er trug damit langjährigen Forderungen der Arbeiterschaft Rechnung, die wegen privater Zutrittsbeschränkungen nicht von den landschaftlich attraktivsten Stellen des Landes ausgeschlossen werden wollten."
Diese Forderungen waren besonders von den "Naturfreunden" erhoben worden, einer Naturschutzorganisation, die sich Ende des 19. Jahrhunderts gegründet hatte und bei der auch Wilhelm Hoegner Mitglied war.
"Die Naturfreunde sind 1895 in Wien gegründet worden mit dem expliziten Ziel, den Arbeitern den Zugang zur Natur zu eröffnen. Sie waren jetzt kein reiner Naturschutzverein, sondern gleichzeitig auch eine Freizeitorganisation, die Urlaubsreisen organisiert hat, die Ausflüge organisiert hat und auch ein gewisses klassenkämpferisches Engagement an den Tag legte, dem sogenannten sozialen Wandern, wo die Absicht war, dass man sich zum einen Informationen über die Zustände auf dem Land verschafft und zum anderen diese Gelegenheit auch zur sozialistischen Agitation nutzt."
Die Naturfreunde protestierten
In ihrer Verbandszeitschrift protestierten die Naturfreunde regelmäßig gegen Wegsperrungen im Gebirge, die oft das Ziel hatten, Wanderer und auch einheimische Bauern aus Jagdrevieren fernzuhalten. So war etwa in der Ausgabe vom Januar 1902 zu lesen:
"Kürzlich ist ein Teil des Harzberges und der Lusthausboden bei Vöslau in den Besitz des Herrn R. v. Gutmann übergegangen. Die erste Tat dieses neuen Besitzers war die Löschung der Markierungen. Es sind infolgedessen die Zugänge (...) zu der Kaiser-Jubiläumswarte auf dem Harzberge bei Vöslau verboten. In unserer heutigen Gesellschaft kann eben jeder hirnrissige Geldprotz seinen Mitmenschen den Naturgenuß konfiszieren."
"Sie hatten da eine Aktion 'Verbotener Weg', in der auch bewusst private Grundstücksgrenzen übertreten wurden, um eben diesen freien Zugang zu Bergen, Wäldern und Seen zu erzwingen."
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde den Naturfreunden allerdings bewusst, dass das "soziale Wandern" mit organisierten Ausflügen und Sonderzugreisen für die Arbeiterklasse auch negative Folgen für die Umwelt haben kann. Die Reichsleitung des Vereins gab deshalb ein Flugblatt heraus, das auf Bahnhöfen, in Wander- und Jugendherbergen sowie in Gewerkschaftshäusern verteilt wurde:
"Wanderer, Ausflügler, Spaziergänger! Schutz und Schonung der Natur. Mit elementarer Natursehnsucht zieht es heutzutage die Städter hinaus in die freie Natur. ... Mögen immerhin bescheidene Wünsche ihre Befriedigung finden, wo es im Übermaß ausartet, da ist ein nie wieder gutzumachender Frevel an der Natur. Aus diesem Grunde rufen wir allen, die hinauswandern wollen, zu: Schont und schützt die Natur."
Berlin war eine boomende Großstadt mit starken sozialen Gegensätzen: Auf der einen Seite die wachsenden Arbeiterviertel, auf der anderen Seite die sich ausweitenden Villensiedelungen im Umland, im Grunewald, am Schlachtensee und am Nikolassee.
Wälder für Erholungszwecke
Schon 1897 wurde im Preußischen Herrenhaus ein Antrag verhandelt und letztlich abgewiesen, den Grunewald zum "Staatspark" zu erklären, ähnlich wie die Nationalparke in den USA. Der preußische Staat spekulierte mit seinem Waldbesitz, verkaufte bis 1910 über 2.000 Hektar als Bauland. 1909 forderte deshalb die Berliner Waldschutzbewegung, ein Zusammenschluss von über 30 Vereinen, den Erhalt von Wäldern zu Erholungszwecken durch die Stadt Berlin und einen Generalbebauungsplan für Großberlin. Einer der Köpfe der Waldschutzbewegung war Wilhelm Wetekamp vom Bund Heimatschutz Brandenburg:
"Wir müssen durch die Übernahme der Wälder seitens der Kommune einen Gemeinbesitz an die Stelle des Einzelbesitzes treten lassen, ... unsere gemeinsame, schöne Natur, in der wir uns gemeinsam, hoch und niedrig, reich und arm bewegen können und immer wieder neue Kraft und Freude für das Leben finden können."
"Wilhelm Wetekamp war ein Sozialpolitiker, der im preußischen Landtag saß. Und er hat sich mit Naturschutz beschäftigt und hat etwa ab 1909 dafür gesorgt, dass die Ufer im Umkreis von Berlin zugänglich bleiben. Das war sein großes Anliegen, er war außerdem Schulpolitiker, er hat eine Reformschule gegründet und er hat sich sehr für die Förderung des Esperanto eingesetzt, also da kommen die ganzen Tendenzen der Freiheit zusammen."
Der Landschafswissenschaftler Prof Hansjörg Küster vom Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover. 1912 wurde ein Zweckverband Groß-Berlin gegründet. Seine Aufgabe war laut Satzung:
"Erwerb und Erhaltung größerer von der Bebauung freizuhaltender Flächen, wie Wälder, Parks, Wiesen, Seen, Schmuck-, Spiel- und Sportplätze."
Mit einem "Dauerwaldvertrag" konnte der Verband 10.000 Hektar Wald vom preußischen Staat erwerben, um sie von Bebauung freizuhalten. Auch die Berliner Uferbereiche der Havel, des Griebnitzsees und anderer Gewässer wurden durch diesen Vertrag geschützt.
Im Ruhrgebiet gründete sich 1910 ein ähnlicher Verband, um Erholungsmöglichkeiten für die Arbeiter der Zechen und Hüttenwerke zu bewahren. Der Naturschutz fand dann auch Eingang in der Weimarer Verfassung von 1919, mit Artikel 150:
"Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates."
Von einem Recht auf Erholung in freier Natur ist dort allerdings noch nicht die Rede. 1922 wurde in Preußen ein Gesetz erlassen, das in diese Richtung wies:
"Das Gesetz zur Erhaltung des Baumbestandes und Erhaltung und Freigabe von Uferwegen im Interesse der Volksgesundheit".
Es beschränkte sich allerdings auf den Schutz von Baumbeständen in Großstädten und deren näherer Umgebung und gelangte auch nur im Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und im Großraum Berlin zur Anwendung. Dort wurden bis 1929 rund 45.000 Hektar baumbestandene Fläche außerhalb des Stadtgebietes unter Schutz gestellt.
An Sommertagen zählte man im Grunewald über 120.000 Besucher
In den 1920er-Jahren nahm auch die Zahl der Erholungssuchenden stetig zu. An schönen Sommertagen zählte man im Grunewald über 120.000 Besucher. Hans-Werner Frohn von der Stiftung Naturschutzgeschichte schreibt dazu:
"Technische Neuerungen und der Ausbau der touristischen Infrastruktur bewirkten, dass der 'Moloch Stadt' mit seinen Kulturangeboten der Natur nicht nur immer näher rückte, sondern sich sogar in ihr selbst einnistete. Die wesentlichen Vehikel hierzu waren nun von der Industrie produzierte tragbare Grammofone und am Rande der Naturschutz- oder Wandergebiete errichtete Ausflugslokale."
Eine Entwicklung, die nicht allen behagte. So warnte der Leiter der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege, Walter Schoenichen, vor einer "Verjazzung und Verrummelung der Natur", Fragen der sozialen Teilhabe an der Natur interessierten ihn nicht.
Der Gedanke, Natur zur Erholung der Stadtbevölkerung bereit zu halten, ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Er findet sich in anderer Form auch schon lange vor dieser Zeit. Hansjörg Küster:
"Ein Park für das Volk, das gab es schon ein bisschen früher, da gilt immer der Englische Garten in München als das erste Beispiel dafür, der interessanterweise genau im Jahr der Französischen Revolution 1789 fertiggestellt war. Und das war ein Garten, in dem das Volk spazieren gehen sollte, das war kein königlicher Garten mehr. Aber man muss auch sagen, dass die Gärten, die es vorher gab, auch die königlichen Gärten, die waren durchaus auch betretbar von einfachen Leuten. Sie mussten sich dann nur an bestimmte Regeln halten, und beispielsweise die Bänke räumen, wenn Standespersonen näher kamen, also das gilt zum Beispiel für den Großen Garten in Hannover."
Relativ jung ist der Gedanke, sich in der Landschaft außerhalb der Städte und Dörfer erholen zu wollen. Über Jahrhunderte und Jahrtausende war die Natur für den Menschen vor allem wichtig, um sie für Jagd und Landwirtschaft zu nutzen, wichtig zum Überleben. Feste bäuerliche Dorfgemeinschaften gibt es bei uns erst seit dem Mittelalter. Die Natur, die Landschaft um die Dörfer, ist zu dieser Zeit für die Menschen in der Regel frei betretbar. Der Historiker Stefan Brakensiek von der Universität Duisburg-Essen:
"Es ging niemals darum, in irgendeiner Art und Weise zu reglementieren, wer denn jetzt einen bestimmten Weg benutzen durfte, wer denn jetzt durch einen Wald oder durch eine Feldflur hindurch gehen konnte, also diese Fragen standen nicht zur Debatte. Zur Debatte stand eigentlich immer sozusagen die Arbeitsleistung, das Produkt, die Nutzung des Landes, die war natürlich hoch umstritten sehr häufig. Aber nicht das Durchschreiten, solange man nichts kaputtmachte, konnte man hindurchgehen."
Als die zu bewirtschaftenden Flächen mit wachsender Bevölkerung knapp wurden, schlossen sich einzelne Bauern oder ganze Dorfgemeinschaften zusammen, um Wiesen, Felder und Wälder gemeinsam zu nutzen - bekannt unter dem Begriff Allmende. Allerdings stimmen nicht alle Bilder, die man sich bis heute oft davon macht:
"Das sind eben Idealisierungen, die im 19. Jahrhundert sehr stark aufgekommen sind, dass man auch in diesen Marken, Gemeinheiten, Allmenden einen Ausdruck sozusagen der 'germanischen Urfreiheit' entdecken wollte, davon kann keine Rede sein. Diese Art der Nutzung ist eine Nutzung unter Ungleichen. Damit fängt alles an, die Ungleichheit zwischen Herren und Bauern ist die basale Ungleichheit. Die Herren nutzen eben diese Flächen anders, sie gehen dort jagen, das ist ein ganz wesentlicher Punkt und sie beziehen Dienste, Abgaben aus diesen Flächen, aus der bäuerlichen Bearbeitung dieser Flächen. Und unter den Bauern herrschte ebenfalls keine Gleichheit, das heißt, es gibt Familien, es gibt einzelne Hofverbände, die wesentlich fundiertere, größere Nutzungsrechte haben, auch über größere Ackerflächen verfügen, und andere, die deutlich benachteiligt sind. Also man darf sich überhaupt nicht vorstellen, dass Allmenden oder Marken ein Ort harmonischer Gleichheit gewesen wären, das ist eigentlich nicht der Fall."
Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Allmenden privatisiert
Die Herren, Adlige oder Geistliche, versuchten immer wieder, ihren Zugriff auf diese Flächen auszuweiten, was ein Grund für die Bauernaufstände Anfang des 16. Jahrhunderts war, die blutig niedergeschlagen wurden. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden die Allmenden schließlich schrittweise privatisiert - im Zeitalter des aufkommenden Wirtschaftsliberalismus galt dieses Modell als ökonomisch überholt.
Etwa zur gleichen Zeit, um 1800, veränderte sich das Bild, das sich die Menschen von der Natur machten. Die Natur wurde einerseits immer stärker ökonomisiert, sie wurde andererseits mit romantischen Ideen aufgeladen, wurde zum Ort der Kontemplation, der Erholung und der Sinnsuche. Hansjörg Küster:
"Man hat beispielsweise Arkadien gesucht, aber Arkadien für die Mitteleuropäer lag nicht in Griechenland, wo es eigentlich lag, sondern da, wo Vergil es einmal hingepflanzt hatte, nämlich in Süditalien. Und dann hat man als Nächstes die Schweiz gesucht, das ging aber nicht nur um die wirkliche materielle Schweiz, sondern es ging auch um die Stätte der Freiheit, weil dort kein König herrschte und es ging auch um die Naturverbundenheit der Menschen, die auf der Alm gelebt haben. Und dann hat man überall Schweizen gesucht, nicht nur in der Schweiz selber, sondern in der Zeit um 1800 wurde dann eben auch die Sächsische Schweiz Schweiz genannt und dann kam die Holsteinische Schweiz dazu und so weiter und so weiter, die Märkische Schweiz und wieviel Schweizen haben wir nicht alles heute."
Die Entdeckung der Alpen als Sehnsuchtsort und das Besteigen der Gipfel war neu, die Einheimischen hatten sich bis dahin kaum für die Berggipfel interessiert. Es war die Geburt des Tourismus, der über die Jahre stetig wachsen sollte. Zuerst reisten freilich nur die wenigen, die es sich leisten konnten: Adlige, Künstler, Intellektuelle und das aufstrebende städtische Bürgertum. Kuraufenthalte in Bädern hatten damals schon eine längere Tradition, nun wurden sie oft mit Wanderungen in der freien Natur verbunden, meist ohne dass dies jemanden störte.
"Also die Konflikte um Betretungsrechte haben etwas damit zu tun, dass zunehmend größere Teile der Stadtbevölkerung vor allem Landschaft aktiv zum Beispiel als Wanderer erleben wollen, dass sie Seen als Schwimmer nutzen wollen, dass sie in Flüssen baden wollen, dass sie am Meer sich aufhalten wollen, am Strand sich aufhalten wollen. Das kollidiert unter Umständen mit alten Nutzungsrechten, sehr häufig ist es allerdings so, dass die Landbewohner das gar nicht so ungern sehen, denn der Tourist ist ja ein nutzbares Wesen. In dem Moment, wo scharenweise Menschen an einen Strand gehen, der Jahrtausende lang nahezu menschenleer war, werden Landschaften, die bis dato nur ganz, ganz sparsam genutzt wurden, auf einmal Gegenstände von intensiver Nutzung."
Während es für uns normal ist, über gemähte Wiesen und Felder zu gehen oder Wälder zu durchstreifen, ist das in anderen Ländern alles andere als selbstverständlich. In den USA kann beispielsweise jeder seinen Besitz, auch Wälder oder Seen, einzäunen und andere davon aussperren:
"Derjenige, der das Land besitzt, entscheidet darüber, ob es betreten werden darf oder nicht, das ist ganz klare Regelung, und da sind die Amerikaner auch sehr starr."
Michael Hochgeschwender, Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Grund sind unterschiedliche historische und ideengeschichtliche Traditionen:
"Im kontinentaleuropäischen Bereich hat es immer sehr stark die Idee des Primats der Gemeinschaft und des Gemeinwohls gegeben, während umgekehrt im britischen Rechtsbereich vor allen Dingen ab dem 17./18. Jahrhundert die Vorstellung von Individualrechten im Vordergrund stand. Und das zentrale Individualrecht, das Eigentum, das sicherte gleichzeitig auch die Freiheit der Individuen. Insofern waren Eigentum und Freiheit ganz eng miteinander verknüpft und Eigentum galt auch als zentrale Bedingung der Möglichkeit, sich gegen den Staat zu wehren. Nur wer Eigentum hatte, konnte sich gegen den Staat auch stellen und seine eigene Unabhängigkeit garantieren. Das heißt, der Nicht-Eigentümer ist im Grunde kein richtiger Mensch."
So lässt sich auch erklären, dass der Eigentümer bis heute das Recht hat, seinen Besitz zu schützen und zu verteidigen. Und zwar mit allen Mitteln, auch mit der Waffe:
"Es gibt in vielen Bundesstaaten die sogenannten 'stand your ground laws', wo es oft so ist, dass jemand, der auf seinem Eigentum auf jemanden, der sein Eigentum betritt, heraus schießt, immer Recht hat. Und das sollte man immer im Hinterkopf haben. Wenn man in den USA irgendetwas betritt, sollte man sehr sicher sein, dass es nicht Privateigentum ist."
Zäune versperrten den Zugang zu den Seen
Bei uns ist das anders: In Deutschland darf die freie Landschaft außerhalb der Städte und Dörfer betreten werden, die Eigentumsrechte der Besitzer von Wäldern und Wiesen sind eingeschränkt. Das Betretungsrecht, wie es erstmals in der bayerischen Verfassung von 1946 formuliert wurde, musste aber auch in Bayern erst mit Leben gefüllt werden, da es kein Ausführungsgesetz gab, um das Recht durchzusetzen. An bayerischen Seen wurden viele private Anwesen errichtet, auch ohne Baugenehmigung, und Zäune versperrten den Zugang zu den Seen.
Wilhelm Hoegner von der SPD, der ehemalige bayerische Ministerpräsident und Vater der Verfassung, kritisierte 1971, zum 25-jährigen Jubiläum der Verabschiedung, dass die Bestimmungen über den freien Zugang zu landschaftlichen Schönheiten in der Praxis zum großen Teil noch nicht Realität geworden seien.
"Es kann nicht geleugnet werden, dass alle Staatsregierungen sich bemüht haben, in dieser Hinsicht Fortschritte zu machen. Aber ich möchte sagen, dieser Götze Eigentum, nicht wahr, der steht dem entgegen. Eigentum über alles, das ist eben noch weiten Volkskreisen eingeschworen und eingefleischt und deshalb tut man sich furchtbar schwer, wenn man für die Allgemeinheit Beschränkungen dieses Eigentumsrechtes durchführen will."
Seit Ende der 60er-Jahre machte sich besonders ein SPD-Landtagsabgeordneter für den freien Zugang zu den Seeufern stark: Reinhold Kaub, der deswegen auch "der Seeuferdoktor" genannt wurde.
"Für alle Großstädter, die sich in den See stürzen wollten, war es eine ganz schlechte Zeit, denn wenn sie rauskamen aus den Städten an die oberbayerischen Seen, suchten sie vergeblich nach einem Zugang zum See, um hineinspringen zu können und baden zu können mit den Familien. Sie standen immer wieder vor verschlossenen Zugängen."
1973 wurde schließlich das bayerische Naturschutzgesetz verabschiedet, die Erwartungen waren groß:
"An Bayerns Seen sollen die Zäune und Verbotstafeln fallen",
war in der "Süddeutsche Zeitung" zu lesen.
"Was manchen Grundstücksbesitzern als 'finsterer Sozialismus' dünkt, wird durch das vor gut einer Woche vom Landtag verabschiedete neue bayerische Naturschutzgesetz ausdrücklich sanktioniert."
Als erster Testfall galt ein bundesweit beachteter Prozess der Gemeinde Kochel gegen den Bankier und Milliardär August von Finck und seinen "Zaun im Paradies", wie damals der Spiegel schrieb. Schon seit 1905 wollte die Gemeinde die Uferpromenade am Kochelsee durch Fincks Seegrundstück fortführen. In erster Instanz zog Finck den Kürzeren und Bayerns Umweltminister Max Streibl erklärte stolz:
"Das Urteil zeigt, dass unser Naturschutzgesetz seinen Zweck erfüllt."
Doch letztlich hatte Finck die besseren Anwälte: Noch heute endet der Uferweg an der Grundstücksgrenze des Anwesens.
Aus heutiger Perspektive fällt die Bilanz in Bayern gemischt aus. In der Umgebung von München wurden seit den 70er-Jahren mehrere Naherholungsgebiete ausgewiesen, es entstanden neue Uferwege und Promenaden an den oberbayerischen Seen, zum Teil auf den Verlandungsflächen vor Privatgrundstücken. Am Starnberger See wurde ein besonders prominenter Platz für die Öffentlichkeit zugänglich, der Uferstreifen vor dem Schloss Possenhofen, wo vormals die Kaiserin Sissi gebadet hatte. Die Münchner "TZ" schrieb dazu 1989:
"Aus mit der Herrlichkeit: Seit gestern steht das Sissi-Schloss nicht mehr am Starnberger See! Denn das Verwaltungsgericht hat beschlossen: Zaun und Hecke um das letzte Fleckchen Grund, das Schloß Possenhofen noch mit dem See verband, müssen fallen. Und die Nachmieter der Kaiserin von Österreich, die noch mit Ludwig alleine schwimmen gehen konnte, werden sich in Zukunft ganz unherrschaftlich unters Volk mischen müssen."
Doch noch immer sind die bayerischen Seen an vielen Stellen nur schwer zugänglich. Wer baden will, muss oft weit gehen. Der Freistaat hat zwar ein Vorkaufsrecht, wenn ein privates Seegrundstück veräußert wird - das er wegen hoher Grundstückspreise jedoch nicht immer nutzt. Den Naturschützern ist das inzwischen ganz recht, denn, so das Argument: Uferwege laden Spaziergänger dazu ein, in die Schilfflächen zu gehen, Pflanzen zu zertreten und brütende Vögel aufzuscheuchen. Schon Anfang der 1970er-Jahre warnten Umweltschützer wie Hubert Weinzierl vom Bund Naturschutz in Bayern davor, zu viele Uferflächen für Erholungssuchende zu öffnen.
Hubert Weinzierl: "Parkplätze, Wanderwege und Badegelegenheiten an der falschen Stelle zerstören unsere Umwelt! Freizeiteinrichtungen sind für den Menschen wichtig, aber sie dürfen nicht auf Kosten der freien Natur gehen."
Viele Ufer- und Schilfgebiete stehen inzwischen unter Naturschutz und dürfen deshalb nicht oder nur zu bestimmten Zeiten betreten werden. Der Jurist Martin Burgi:
"Der Erholungsdruck ist durch verschiedene gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen massiv angestiegen. Das heißt, das Bedürfnis, sich motorisiert oder mit Fahrrädern oder wie auch immer kletternderweise sich zu erholen, ist zahlenmäßig gewaltig angestiegen. Viel mehr Menschen wollen sich in der Natur erholen. Und das zweite: Das Bewusstsein für Naturschutz ist parallel gewachsen, wodurch einfach ein Konflikt entstanden ist, den die Väter und Mütter dieser Betretungsrechtregelung so überhaupt nicht vor Augen hatten, die hatten nur die Frontstellung im Auge: Erholungssuchender – Grundstückseigentümer. Diese zweite Frontstellung Erholungssuchender - Umweltschützer, die ist eine vergleichsweise neue Erscheinung."
Wer heute im Wald spazieren geht, nimmt ein Recht wahr
Wer heute frei im Wald spazieren geht, nimmt ein Recht wahr, das in Landesforstgesetzen geregelt wurde - und im Bundeswaldgesetz von 1975. Vorreiter war Nordrhein-Westfalen. Die Umwelthistorikerin Ute Hasenöhrl:
"Die Zugänglichkeit des Waldes war bereits in den 50er-Jahren heftig umstritten, Privatwaldbesitzer haben immer wieder versucht, Erholungssuchende aus ihren Besitzen fernzuhalten, indem die Grundstücke eingezäunt wurden und das Wandern im Wald damit erschwert wurde. Was auch damit zusammenhing, dass gerade in den 50er-Jahren in dem Umkreis der Großstädte sehr viel wildes Zelten vorkam. Dieser schwelende Konflikt wurde letztlich erst 1970 mit den Landesforstgesetz dann zugunsten der Erholungsbedürfnisse der Bevölkerung entschieden, damit wurde auch zum ersten Mal ein Waldbetretungsrecht zu Erholungszwecken im Forstrecht verankert. Das hat dann in Folge Schule gemacht und wurde 1975 auch ins Bundeswaldgesetz übernommen."
Politiker aller Parteien feierten das Gesetz als soziale Errungenschaft. Endlich gehe eine Ära feudaler Vorrechte zu Ende, erklärte damals der Präsident des Bayerischen Landtags, Rudolf Hanauer, CSU:
"Vom Wald des Königs über den Wald des Staates zum Wald des Volkes."
Während das Zutrittsrecht zu den Wäldern geregelt ist, wird über den Zugang zum Meer, zu den Stränden gestritten, besonders in Niedersachsen, wo viele Abschnitte eingezäunt sind und nur gegen Eintritt betreten werden dürfen. Im September 2014 scheiterte die Bürgerinitiative "Freie Bürger für freie Strände" mit einer Klage gegen den Strandeintritt vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg. Doch die Initiative will nicht aufgeben - und hat breite Unterstützung: Rund 50.000 Menschen unterzeichneten ihre Online-Petition.
"Freie Strände für freie Bürger! 40 Jahre Zäune und Strandgebühr sind genug".
Zurück zum Griebnitzsee am Rande Berlins. Falls die Villenbesitzer mit der Wegsperrung erfolgreich bleiben sollten, könnte man dort nach einem bayerischen Vorbild verfahren: Die Stadt Tegernsee ließ an ihrem Seeufer einen Steg bauen, vorbei an zahlreichen Privatgrundstücken. Der Streit um das Projekt dauerte gut 40 Jahre, die Gegner zogen bis vor den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Umsonst.
Nach einem Bürgerentscheid wurde im Oktober 2013 das letzte Teilstück des hölzernen Spazierstegs eröffnet. Die Stadt Potsdam müsste dafür aber noch eine Genehmigungshürde nehmen, die es am Tegernsee nicht gab: Denn der Griebnitzsee ist heute eine Bundeswasserstraße.