Wie DDR-Bürger den Systemwechsel erfahren haben
Der Westen galt vielen DDR-Bürgern als Reich der Freiheit. Doch schon kurz nach dem Mauerfall kam Skepsis auf, ob die neue Welt wirklich halten konnte, was sie versprach. Wie viel Freiheit tut dem Menschen gut? Ehemalige DDR-Bürger erzählen.
Merkel: "Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit! Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter."
Willy Brandt: "Freiheit einzuklagen für die Verfolgten und für die Ohnmächtigen, dies sei, wenn ihr es erlaubt, meine letzte Amtshandlung als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands."
Helmut Kohl: "Die Frage der Zukunft lautet nicht, wie viel mehr der Staat für seine Bürger tun kann, die Frage der Zukunft lautet, wie Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung sich neu entfalten können."
Plötzlich öffnen sich 1989 die Übergänge in die Freiheit.
Stefan Gosepath: "Natürlich gibt es die Freiheit. Wenn sie auch wie eine Illusion scheint, so ist sie doch keine."
Nachdenken über einen Begriff. Stefan Gosepath, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin, hat sich in zahlreichen Publikationen mit dem Thema Freiheit auseinandergesetzt.
"Vollkommene Freiheit kann es gar nicht geben, denn in der Tat, Sie stehen mir im Weg, so schränken Sie meine Freiheit ein, das kann keine sinnvolle Klage sein, dass ich unfrei bin, nur weil Sie mir im Weg stehen. So stehen mir auch tausend andere Sachen im Weg. Gemeint kann nur sein, dass wir eine Regelung zwischen uns Bürgerinnen und Bürgern finden, sodass sie ihre Freiheitssphäre haben und ich meine Freiheitssphäre habe und dass wir die miteinander gedeihlich koordinieren können."
Freiheit als ein Ausdruck dafür, unter welchen Bedingungen wir ein autonomes Leben führen können. Ein autonomes Leben – in einer Welt der sozialen Bindungen und Notwendigkeiten.
Gosepath: "Wie Kant sagt: Meine Freiheit endet da, wo die Freiheit eines anderen beginnt."
Kafka in der Kiste
Und Franz Kafka: "Mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung."
Von seinen Kritikern zum Affen degradiert und in eine Kiste gesperrt, beginnt Kafka die Menschen zu beobachten. Er versucht sie nachzuahmen. Nur wenn er so sein wird wie sie, bestehe die Chance, dass er frei sein kann. Das ist die Option seiner Kritiker. Doch noch sitzt er angeschossen in der Kiste fest.
"Ich war zum ersten Mal in meinem Leben ohne Ausweg; zumindest geradeaus ging es nicht; geradeaus vor mir war die Kiste, Brett fest an Brett gefügt.
Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer; ich stellte keine Forderungen; weiterkommen, weiterkommen!
Ich hatte keinen Ausweg, musste mir ihn aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. Immer an dieser Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt."
Ein Ausweg: Verzicht auf Eigensinn.
Ich freier Affe, fügte mich dem Joch.
Von der Stasi im Barkas abtransportiert
Wer in der DDR seinen kritischen Eigensinn behalten hat, weil er den Sozialismus ohne die Diktatur eines Parteiapparates leben wollte, landete entweder hinter Gittern oder bekam andere Schwierigkeiten. Das Schreib - und Auftrittsverbot von Dichtern und Künstlern ist bekannt, aber auch Menschen, die nicht gesungen und gedichtet haben, bekamen die Wände der Kiste zu spüren. So Jochen Scheidtler zur Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968:
Jochen Scheidtler: "Ich habe Freunde angerufen. Wir haben uns zu fünft getroffen. Und wir haben beschlossen, dass wir etwas gegen diesen Völkerrechtsbruch etwas unternehmen müssen. Wir haben beschlossen, Flugblätter zu machen. Also der Text unseres Flugblattes: 'Bürger – Genossen. Fremde Panzer in der CSSR dienen nur dem Klassenfeind. Denkt an das Ansehen des Sozialismus in der Welt. Fordert endlich wahrheitsgetreue Informationen. Niemand ist zu dumm, selbst zu denken.'
Schließlich stand die Stasi vor der Tür und nahm uns fest. Dort hat uns dann das hübsche Transportfahrzeug der Stasi, der umgebaute Barkas, abgeholt und nach Hohenschönhausen gebracht. Die Fahrten immer – lange Fahrten. Stadtrundfahrten. Wovon man ja in der geschlossenen Zelle des Barkas nichts mitkriegte. Man saß im Stockfinstern in einer Zelle von 45 x 45 Zentimetern. Also ne Schachtel. Da stießen die Schultern schon an beiden Seiten und die Knie vorne und die Handschellen. Totale Finsternis, schlechte Belüftung.
Das, was man in der Stasi-Untersuchungshaft erlebt hat, war absolute Unfreiheit. Man war völlig aus der Welt. Kein Telefonat. Kein Brief. Nicht mal ein freier Blick irgendwohin. Es ging so weit, dass in den Zellen Glasziegelfenster waren, so dass man noch nicht mal rausschauen konnte. Und wenn man beim Vernehmer war, waren auch dort die Vorhänge zugezogen, damit man auch da keinen Blick, sei es nur in den Gefängnishof, haben konnte. Das ist das absolute Maß an Unfreiheit."
Die Gefängnisse der Staatssicherheit waren gut gefüllt. Viele Häftlinge wurden für Valuta an den Westen verkauft. Jochen Scheidtler hat man ebenfalls angeboten, in den Westen zu gehen.
"Während der Vernehmung, vor der Verurteilung. Ich habe verneint in dem Moment. Das hatte auch ein bisschen was mit Stolz zu tun. Ich hatte zwar einen schweren Rückschlag erlebt, aber ich wollte nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Wir wollten einen demokratischen Sozialismus. Genau das, was die Tschechen versucht haben zu etablieren. Was Dubcek vorangetrieben hat. Das wollten wir. Deswegen war Dubcek unser großer Hoffnungsträger, wie später Gorbatschow.
Das hat ja auch Biermann besungen: Ich ginge am liebsten weg und bliebe am liebsten hier. Ich habe auch mit Tränen in den Augen Freunde verabschiedet, die also weggegangen sind, weil sie es nicht mehr ertragen haben."
Kritischer Geist zwischen den Zeilen
9. November 1988. Ich gehe mit meinem Kind an der Hand in Richtung Tränenpalast in Berlin. Grenzübergang Friedrichstraße. Hinter mir meine Mutter, mein Bruder – schweigend. Dieser Abschied am 9. November 1988 war einer von den Abschieden, die bereits viele lange vor '89 hinter sich gebracht hatten.
Der Gang in den Westen. Eine Notwendigkeit – zu viel Eigensinn, zu viele gestellte Fragen, zu viel am Ende Gorbatschow zitiert. Immer an der Kistenwand – ich wäre unweigerlich verreckt.
Ganz im Sinne Rousseaus, dass in jedem Neuanfang die Freiheit liege, konnte es nur besser werden. Ich ging weiter. An der einen Hand die Tochter, in der anderen Hand eine Grafik, die mir noch zwei Kolleginnen zum Abschied überreicht hatten. Darauf eine Frau, die ihren Kopf auf den Knien mit den Armen abstützt. Nackt, in sich gekehrt, hockt sie da. Unter dem Bild steht "Die eigene Freiheit liegt tief im Innern". Eine kurze Irritation. Wir schauten uns schweigend an. Es gab kein Zurück mehr. Raus aus der Kiste.
Steffen Mensching: "Ich lehne den Kopf an die graue Mauer der Mahn- und Gedenkstätte
mehr als ich wünsche, weggehen zu können, möchte ich hier bleiben müssen."
Steffen Mensching, Autor, Regisseur, Clown, Schauspieler und Intendant am Rudolstädter Theater veröffentlichte diese Zeilen 1986 in seinem Lyrikband "Tuchfühlung". Zusammen mit Hans-Eckardt Wenzel trat er in der DDR in überfüllten Sälen auf. Zu ihnen ging man, um sich den Tropfen kritischen Geistes aus den Wörtern zwischen den Zeilen zu holen. Ihr Notenständer, in den sie sich regelmäßig auf der Bühne verhakelten, war ein legendäres Synonym für dieses Verknotetsein in die Verhältnisse, in die wir hinein geboren waren.
Steffen Mensching: "Wir haben ja auch ganz bewusst gesagt, wir bleiben hier. Wir wollen hier für unsere Leute arbeiten. Denn das ist unser Publikum. Haben andere gesagt, ja, lasst die mal arbeiten. Solange die Leute lachen, gehen sie nicht auf die Straße. Und das war, bei aller Misere und allem Ekel, auch eine gute Situation, weil man sich stritt. Man war in einer Auseinandersetzung. Nee man merkte, man ärgerte da Leute."
Die Utopie von der lebendigen Gemeinschaft erhalten
Erika Pluhar: "Ich war ja oft in Ostdeutschland, immer konzertierend. "
Erika Pluhar. Wiener Schauspielerin, Sängerin und Autorin.
"Es war für mich eine Mischung aus unerhörtem Berührtsein, was die Menschen und die Reaktionen betraf. Das waren Konzerte mit so einer Hellhörigkeit und Aufmerksamkeit. Ich hab dort eine Solidarität erlebt bei den Menschen und ein Füreinandersein, auch eine Heiterkeit und einen Humor und eben nicht dieses konsumistische Überflutetsein."
Viele Abende hatten wir bis nachts diskutiert, wie man diese Gesellschaft, die demokratisch genannte deutsche Republik, verändern kann. Wie man den ganzen opportunistischen und diktatorischen Geistern Gegenwind verschaffen kann, damit das, was der Staat in seiner Theorie verkündete, auch Wirklichkeit werde.
Steffen Mensching: "Die Utopie ist relativ simpel und in ihrer Simplizität relativ fragwürdig. Die Gleichheit der Menschen ist die Kommune sozusagen. Und man kann es dann spezifizieren: Jeder nach seinen Fähigkeiten. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Oder nach seinen Bedürfnissen. Man bringt das ein, was man kann und partizipiert aber auf der gleichen Ebene. Das ist ein schöner Traum. Den darf man aber nicht verlieren. Weil er etwas zu tun hat mit einer Sehnsucht nach Gemeinschaft und Gemeinsinn, was Gesellschaften ausmachen sollte, glaube ich."
Die Sehnsucht ist was Wichtiges. Der Weg dahin, es anzustreben halte ich für was ganz Wichtiges. Das Ziel zu haben, den Anspruch zu haben, möglichst viele beteiligen zu können an dem, was man macht.
In Westberlin angekommen – zwei Minuten S-Bahnfahrt von Ost nach West. Von Friedrichstraße zum Lehrter Bahnhof. Bahnhofsvorplatz. Der erste Blick: Knapp berockte Damen in hohen Stiefeln. Auf dem Weg durch die Stadt. Viel Licht und belebte Cafés. Das neue Leben. Jetzt nur noch das studieren, was ich schon lange studieren wollte. Im Auffanglager für Ausgereiste aus dem Osten kniet der Bearbeiter meiner Akte förmlich vor mir – studieren Sie Zahnmedizin, nicht Geisteswissenschaften. Um Himmels Willen. Keine Geisteswissenschaften.
Ich, geschult auf geistige und ideelle Werte, konnte mich doch nicht dieser materiellen Sicht beugen. Ideelle Werte, mein Herr. Darauf kommt es an!
Entlassen in eine freie Welt. Konfrontiert mit dem real existierenden Materialismus – kein einfacher Spagat.
Steffen Mensching: "Wir haben einen Malerfreund gehabt. Ist sehr erfolgreich im Westen. Ist Mitte der 80er-Jahre in den Westen gegangen und dort mit der modernen Schule gut angekommen. Der Maler sagte, er hat früher Knoten gemalt. Abstrakt. Und wenn er Knoten malte, dann war auf seinen Bildern in diesen Knoten alles drin. Die Not, ne ordentliche Wohnung zu kriegen, nicht reisen zu können, der Frust mit seiner Freundin. Die schlechte Luft in Bitterfeld. Alles war in diesem Knoten – zu DDR Zeiten. Und jetzt, sagt er, male ich immer noch Knoten. Aber ich male nur noch Knoten. Das heißt, er ist unfrei. Er ist ein entfremdeter Mensch."
Der Mauerfall – auch für Westberliner befreiend
Dass mein 9. November genau ein Jahr später der 9. November für alle sein würde, war bei meiner Ankunft in Westberlin für mich undenkbar.
Nun also endlich: Freiheit für alle.
Der einzig dunkle Gedanke – jetzt kommen auch die, die dir vorher das Leben schwer gemacht haben. Freiheit für alle.
Stefan Gosepath: "Ich als Westdeutscher, damals in Westberlin lebend. Ich fand das auch einen Freiheitsmoment."
Also auch für die Westberliner, die doch schon in der freien Welt gelebt hatten.
Stefan Gosepath: "Also Westberlin war auch umzingelt von der Mauer, in dem Moment war es auch eine Befreiung von der Mauer. Man konnte dann auch nach Brandenburg. Das war aber nicht der eigentliche Moment. Ich habe das wahrgenommen, im Grunde genommen lässt sich die geopolitische Situation nicht mehr Menschen gemacht ändern. Wir sind in Blöcke eingepfercht, und in diesem Zusammenhang gibt es minimalen Handlungsspielraum. Der Fall der Mauer symbolisierte auf einmal: Da ist noch einmal was ganz Neues, welthistorisch Neues zu machen."
Jochen Scheidtler: "Das Gefühl der Befreiung war natürlich ganz gewaltig. Aber das hatte schon wieder eine Ambivalenz. Das begann schon damit, schon vor der Maueröffnung, die Rufe sich wandelten von 'Wir sind das Volk' in 'Wir sind ein Volk'. Und da habe ich mich mit meiner Frau angeschaut und gedacht, wissen die eigentlich, was die erwartet."
Trügt die Euphorie?
Steffen Mensching: "Und ich muss ehrlich sagen, auch ich habe früh skeptisch reagiert. Früh heißt, November '89. Das kann ich an bestimmten Dingen festmachen, zum Beispiel an Texten, die ich in der Zeit geschrieben habe. Ich wurde von der NDL damals aufgefordert, über die Frage deutsch-deutsch etwas zu schreiben. Das war November-Dezember '89. Erschien dann im März. Und ich habe damals eine Zeile von Randy Newman, dem ich damals sehr verbunden war, heute noch, aber damals besonders stark, als Überschrift genutzt. It’s moneys that matters. Das war im März '90 und im November-Dezember geschrieben. Wir waren damals auf vielen Demonstrationen. Ich weiß noch, in Chemnitz trug ein Junge die Losung: Nie wieder Russischunterricht.
Diese Momente haben mich sehr skeptisch gemacht. Was da passiert. Was da für Werte gesetzt werden. Ob nicht diese Euphorie eher trügerisch ist. Dass sie nicht die Erfüllung bringen wird. Dass wir einen Preis zahlen werden dafür. Das war politisch gedacht. Heute sehen wir ja noch ganz andere Problematisierungen der Freiheit. Der Freiheitsbegriff war eigentlich immer politisch reduziert. Heute kriegen wir mit, dass er viele andere Bestimmungen hat: ökonomische, kulturelle, technologische, die unsere Freiheit beeinträchtigen, oder beeinflussen."
Freiheit gleich Wohlstand. Dass diese Gleichung nicht so einfach aufging, erfuhren all jene, die sich nach der Einführung der D-Mark in die Warteschlange vor dem Arbeitsamt einreihen mussten. Für andere bot die neue Freiheit die Chance, endlich das tun zu können, wozu sie die Energie hatten und wozu sie fähig waren. Und wie viele haben sich ihre Freiheit abkaufen lassen, um wieder in Sicherheit leben zu können. Nicht zuletzt diejenigen, die mit den Verhältnissen in der DDR ganz gut zurecht gekommen sind. Einige schafften es denn auch, wieder in gesicherte Positionen zu gelangen.
Steffen Mensching: "Die haben es wieder geschafft, aber natürlich muss man auch sagen, die bundesdeutsche Gesellschaft hat sich auch genau die rausgepickt. Weil die natürlich bequem waren. Die waren vorher einpassbar und die sind es jetzt auch. Die sind kompatibel. Diejenigen, die nicht einpassbar waren, die ne eigene Meinung haben, die gegen Hierarchien angehen, die wollte man nicht."
Jochen Scheidtler: "Das ist ja das Prinzip eines Staates. Man schätzt nicht den Aufmüpfigen, den Revoluzzer. Man schätzt den zuverlässigen Beamten, der unter jedem Vorzeichen seine Arbeit einfach tut. Seine Anweisungen befolgt und die buchstabengetreu ausführt. Und Leute, die eigenständig sich auflehnen, die Veränderungen anstreben, die sind doch unbequem, in jedem Staat. Heute gibt es andere Zwänge, überall für seine Meinung einzugestehen und so. Das sind rein wirtschaftliche Zwänge.
Um bestimmte Karrieren verfolgen zu können, müssen Sie in der richtigen Partei sein oder die richtigen Anschauungen nach außen tragen, ob Sie daran glauben, spielt keine Rolle. Hauptsache Sie funktionieren so, wie man es von Ihnen erwartet. Dazu gehören eben bestimmte Ansichten und ein Wertekanon, den man dann übernehmen muss. Das ist auch nicht die absolute Freiheit."
Stefan Gosepath: "Absolute Freiheit kann es nicht geben. Ich verstehe das, dass sich Leute danach sehnen, aber in gewisser Weise ist das ein Unding."
Armut macht unfrei
Die Sehnsucht nach der großen Freiheit – in der eingemauerten Welt war sie grenzenlos, ohne Bezug zur Realität. Die Bilder von den taumelnden Massen beim Mauerfall – sie offenbarten diese sehnsuchtsvolle Vorstellung vom freien Westen.
Gosepath: "Die sozialen Bedingungen gehören zu unserem Leben dazu. Ohne die sozialen Bedingungen hätten wir kein Leben. Der springende Punkt ist, dass diese sozialen Bedingungen nicht massiv ungleich sein dürfen, weil das jetzt Chancengleichheit massiv verletzt."
Steffen Mensching: "Armut ist Unfreiheit. Da müssen wir uns nichts vormachen. Armut ist Begrenzung von Möglichkeiten. Und ich bin natürlich nicht in der Situation eines Hartz IV-Empfängers oder einer alleinerziehenden Mutter, die nicht vorne und hinten weiß, wie sie zurande kommt. Das darf man nicht vergessen. Ganz klar. Ich meine, die haben ja nicht die Alternative, ob sie im Spiel mitspielen oder nicht. Die sind von vornherein aussortiert. Das ist ja nicht Freiheit. Das ist Schicksal."
Rousseau formulierte es einmal so: Zwischen den Reichen und den Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt und das Gesetz, was beschützt.
Stefan Gosepath: "Rousseau macht eben ganz deutlich, dass einfach Freiheit nicht reicht. Dass, wenn man die Freiheit auch fordert, die Freiheit ihrer selbst Willen nicht reicht, da es ein freies Spiel der Kräfte gibt und dann setzt sich der Stärkere durch. Das ist genau das, was er hier deutlich macht. Das ist am Markt am deutlichsten zu sehen, in der Marktwirtschaft. Das ist natürlich auch in anderen Sphären, die nicht reguliert sind, das war am Anfang im Internet und bei anderen Sachen so, dass man sieht, natürlich nach ner Weile, dass es Kräfteungleichgewichte oder Machtungleichgewichte gibt. Und dann setzt sich der Mächtige, oder die Mächtige durch."
Erika Pluhar: "Ich habe so gehofft, nachdem die Mauer gefallen ist, dass da vielleicht eine Symbiose entstehen könnte. Aber wir Menschen scheinen sehr unfähig zu sein, Symbiosen zu finden. Uns irgendwie zu einigen, mit zwei guten Elementen."
Steffen Mensching: "Wir haben es ja mit zwei Sachen eigentlich zu tun – das eine ist die Illusion dabei über den Westen. Aber der Westen jetzt ist natürlich nicht der Westen, der '89 existiert hat. Da hat sich natürlich etwas verändert – politisch, ökonomisch, weil der noch so beschädigte und begrenzte Sozialismus nicht mehr da ist. Die konnten jetzt wieder munter drauf los machen. Sie mussten nicht mehr auf soziale Aspekte setzen. Das Vorzeigeschild des Ostens war nicht mehr da. Jetzt konnte man munter auf Liberalismus machen. Und dazu mit der neoliberalen Konzeption, die genau zu dem Zeitpunkt einsetzte – Abbau des Sozialstaates und nur noch die technologische Dimension, die eigentlich noch einmal das System der bürgerlichen Demokratie unterhöhlt."
Sieg des liberalen Freiheitsmodells
Stefan Gosepath: "Politisch-philosophisch besteht der Konflikt darin, ob man eine Gesellschaft im Wesentlichen über Freiheit aufschließt und sagt, alle Bürgerinnen und Bürger sollen frei sein und alles was sie dann ausmachen, ist das freie Spiel der Kräfte. Das kann dann zu ziemlich großer Ungleichheit führen. Überspitzt gesagt, ist das das neoliberale Modell. Oder indem man eben anfängt und sagt, man muss eine Gesellschaft über Gerechtigkeit verstehen. Das heißt, gerechte Befriedigung der Grundbedürfnisse. Gerechte Sicherungsmaßnahmen, gerechte Verteilung von Freiheitsspielräumen. Dann ist die Freiheit einem gerechten System untergeordnet. Dann ist nicht alles freies Spiel der Kräfte im Markt, sondern ein Staat, der Freiheitssphären und andere Sphären gerecht regelt.
Und gegen dieses Modell, was in den sechziger und siebziger Jahren noch sehr stark war, das ist irgendwie ins Rutschen gekommen und dann hat sich das neoliberale Modell im Westen durchgesetzt. Dann haben wir den Kampf zwischen dem alten Freiheitsverständnis und dem neuen erlebt. Und dann sah es ja ganz lange so aus, Anfang der 90er-Jahre und über die Jahrtausendwende, dass sich das neoliberale Modell durchsetzt. Seit der Finanzkrise bin ich mir nicht so sicher, ob das noch genauso funktioniert oder ob es da wieder einen starken Staat geben müsste, der nicht nur die Wirtschaft, aber eben auch die reguliert. Aber so gehen die Freiheitsverständnisse, vielleicht aus westlicher Perspektive, in Wellen über uns hinweg."
Ich schau auf das Bild. Auf das Bild, das mir meine Kolleginnen an jenem 9. November 1988 mit auf den Weg gegeben hatten, auf den Weg in den Westen. Das Bild mit der in sich gekehrten Frau. Die eigene Freiheit liegt tief im Innern.
Erika Pluhar: "Ja, sie liegt tief im Innern und wir wissen ja alle, wie schwer es ist, diese Freiheit zu erwerben."
Meint Erika Pluhar.
"Also, ein Menschenleben so zu führen, dass es einem Begriff wie dem der Freiheit ein wenig genügt, ist sehr, sehr schwer. Deswegen möchte ich einmal im Jahr über den Atlantik schauen. Da ist wirklich nur Natur. Da geht der Strand in beide Richtungen ins Endlose und dahinter sind Dünen und vor mir ist der Atlantik. Da kann ich so einen Atem aufnehmen. Da kann ich sagen - ja."
Freiheit in der Stille der Einsamkeit.
Und die Freiheit in der Gesellschaft. In einer Gesellschaft, die Freiheiten gibt und nimmt.
Theaterintendant Mensching sorgt in Rudolstadt für Erhalt des Orchesters
Rudolstadt: das Theater Rudolstadt. Die Spielpläne standen einst unter der Aufsicht der staatlichen Zensur, heute nicht mehr. Aber das Orchester sollte aufgelöst werden. Sparzwänge. Für die Musiker eine existenzielle Bedrohung. Intendant Steffen Mensching weigerte sich, das hinzunehmen und schrieb kurzerhand ein Theaterstück für und mit dem Orchester: Die Schicksalssinfonie.
Eine Inszenierung, die vor allem ein Ziel hatte und – erreichte: dass die Entscheidung zurückgenommen wurde. Der Intendant Steffen Mensching hat seine Möglichkeiten der Freiheit genutzt. Das Orchester bleibt dem Theater Rudolstadt erhalten. Eine spezielle Erfahrung von Freiheit.
Steffen Mensching: "Ja, und den Mut zu haben, das auch durchzustehen und auch zu lachen. Daran Lust zu empfinden. Da sind wir wieder beim Lachen. Lachen ist ja was ganz Tolles. Zu sagen: Leckt mich am Arsch. Ich lache euch aus. Das interessiert mich nicht. Ich gehe lachend durch mein Leben. Das interessiert mich nicht. Ich lache über den ganzen Wahnsinn, den ihr mit mir vorhabt. Ob ihr mir Dinge verkaufen wollt. Ob ihr mich knechten wollt. Ich lache. Lachen ist Freiheit. Weil, jemand vom Lachen abhalten, kann man nicht und jemanden zum Lachen zwingen, kann man auch nicht. Lachen ist ein ganz subjektiver Ausdruck. Der kommt ganz von innen und der ist nicht zu regulieren."
Ein hohes Ziel dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, dass, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben.
Franz Kafka. Sein Ziel: Endlich frei sein unter Menschen.
"War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger; wohler und eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt; der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er kommt und durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, dass ich, wenn überhaupt, die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden müsste, um durchzukommen.
Offen gesprochen, so gerne ich auch Bilder wähle für diese Dinge, offen gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles."