Die fremden Brüder
In den 60er-Jahren gab es hoffnungsvolle Ansätze für eine konfessionelle Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten. Doch der interreligiöse Dialog zwischen den beiden Hauptströmungen im Islam ist mittlerweile nahezu abgebrochen. Die Beziehungen werden nicht nur durch jahrhundertealte Vorurteile, sondern auch durch Machtpolitik bestimmt.
Amira Abdallah ist seit 17 Jahren verheiratet. Sie ist Sunnitin, ihr Mann Schiit. Amira wirkt selbstbewusst. Sie ist dezent geschminkt. Ihr schulterlanges Haar trägt sie offen. Noch heute kann sich die Enddreißigerin gut an die Reaktion ihrer Familie erinnern, als sie erfuhr, dass ihr zukünftiger Ehemann einer anderen Konfession angehört:
"Meine Mutter war total dagegen. Sie hatte Vorurteile gegen ihn, weil seine Familie aus einem Dorf im Süden des Libanon kam. Aber sie wohnten seit 40 Jahren in Beirut und er hatte den gleichen Universitätsabschluss wie ich. Trotzdem. Sie meinte Schiiten aus dem Süden heiraten mehrere Frauen. Und sie hatte Sorgen wegen unserer Kinder später. Sie würden sich verloren fühlen zwischen unseren beiden religiösen Richtungen. Gerade weil es bei uns in der Politik immer wieder zwischen Sunniten und Schiiten zu Reibereien kommt."
Das Ehepaar lebt in Shiyyah, einem Vorort im Süden von Beirut mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung. Im Leben von Amiras Familie machen sich die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten in der alltäglichen religiösen Praxis nur wenig bemerkbar. Die rituellen Gebete weichen leicht voneinander ab. Im Ramadan wird das Fastenbrechen mit einigen Minuten zeitlicher Verschiebung begangen. Das Paar hat inzwischen vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Welcher Konfession die Kinder einmal folgen werden, ist noch nicht klar:
"Das ist letztendlich eine persönliche Entscheidung. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist etwas sehr Persönliches. Wenn mein Sohn eines Tages sich dafür entscheiden würde Schiit zu werden, dann habe ich nichts dagegen. Und wenn meine Tochter Sunnitin werden will, dann soll sie das tun."
Konfessionell verschiedene Ehen mit Toleranz und religiöser Offenheit wie in der Familie von Amira Abdallah sind ein Beispiel für die sunnitisch-schiitische Koexistenz. Aber das Verhältnis der beiden Hauptströmungen im Islam ist auch von Vorurteilen geprägt und, wie im Falle von Amiras Mutter, von Ängsten und Gewalt. Im Irak kommt es seit Jahren zu gegenseitigen Gewaltexzessen. Im Libanon haben viele nach den Zusammenstößen im letzten Mai die Befürchtung, dass sich die bürgerkriegsähnlichen Zustände zwischen mehrheitlich schiitischen und sunnitischen Milizen wiederholen könnten.
Ein Beispiel für das gespannte Verhältnis zwischen den beiden Konfessionen sind die jüngsten Äußerungen des sunnitischen Predigers Yussuf al-Qaradawi:
"Die Verfluchung der Prophetengefährten ist eine der gefährlichsten Angelegenheiten, die zwischen uns und den Schiiten steht. Die Vertrauten des Propheten Muhammed haben uns den Koran und die Aussprüche des Propheten übermittelt und bei den Eroberungszügen kämpften sie an vorderster Front."
In einem Fernsehinterview kritisiert der sunnitische Prediger Yussuf al-Qaradawi scharf einen volkstümlichen Brauch. Zu bestimmten Anlässen verfluchen Schiiten einige von Sunniten verehrte Gefährten des Propheten. Außerdem verurteilt er die angebliche schiitische Missionierung unter Sunniten, besonders in Ägypten. Der 82-jährige al-Qaradawi zählt zu den einflussreichsten sunnitischen Gelehrten in der arabischen Welt. Er ist Autor vieler Bücher, Vorsitzender einiger Gelehrtennetzwerke, und er tritt regelmäßig im Satellitensender al-Jazeera auf. Der ägyptischstämmige Gelehrte greift in seiner Polemik längst überwunden geglaubte Differenzen in der religiösen Praxis auf. Denn einige Jahrzehnte nach der berühmten Fatwa zur interkonfessionellen Verständigung sollte eigentlich eine stabile religiöse Grundlage für schiitisch-sunnitische Beziehungen gelegt worden sein. 1959 gab der damalige reformfreudige Azhar-Scheich Mahmud Shaltut ein Rechtsgutachten heraus. Dieses stellte die schiitische mit den vier sunnitischen Rechtsschulen gleich. Ein klares Votum gegen die Einstufung der schiitischen Konfession von sunnitischer Seite als Abweichung vom rechten Weg.
Die Fatwa Shaltuts fiel in eine Phase der gegenseitigen konfessionellen Annährung. Nach der Entkolonisierung in der Mitte des letzten Jahrhunderts glaubten breite Bevölkerungsschichten und die Eliten an eine bessere Zukunft. Damals entstand in Kairo das "Zentrum für konfessionelle Annäherung". Sunnitische und schiitische Gelehrte beschlossen, das Recht der jeweils anderen Konfession zu studieren und eine gemeinsame Zeitschrift herauszugeben. Ridwan as-Sayyid kann sich noch gut an die Ausläufer dieser Zeit erinnern. Der Professor für Islamwissenschaften an der Libanesischen Universität war Mitte der 60er Jahre Student an der theologischen Hochschule al-Azhar:
"Damals fanden wirklich entscheidende Schritte zur Annährung der beiden Konfessionen statt. Unsere Lehrer ermutigten uns, das schiitische Recht zu studieren und davon zu profitieren. Sie wiesen uns auch darauf hin, dass die Schiiten davon abgelassen hätten einige Gefährten des Propheten Muhammad zu verfluchen und dass sie viel mehr die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede betonen würden."
Die jüngsten Äußerungen des Predigers al-Qaradawi haben weniger mit religiösen Differenzen als mit den veränderten politischen Verhältnissen in der arabischen Welt zu tun. Der Sturz Saddam Hussains und der Einmarsch der Amerikaner in den Irak haben das schiitisch-sunnitische Verhältnis in den letzten Jahren stark geprägt. Das Zweistromland galt Jahrzehnte lang als Zentrum des arabischen Nationalismus, stets mit einer sunnitischen Elite an der Spitze. In den 80er Jahren führte es einen erbitterten Krieg gegen einen Nachbarn, der in der Propaganda die Etiketten "schiitisch" und "persisch" bekam. Nach langer Zeit politischer Marginalisierung und Bedeutungslosigkeit sind die Schiiten in der arabischen Welt einflussreicher denn je, auch mit dem starken Bruder Iran im Rücken. Die Äußerungen führender arabischer Politiker und Persönlichkeiten in den letzten Jahren, die vor der "schiitischen Gefahr" warnen, entspringen der Angst vor der Regionalmacht Iran. Radikale sunnitische und schiitische Milizen im Irak unterhalten enge Verbindungen zu den Nachbarländern, die ihre Machtkämpfe auch auf irakischem Boden austragen.
Nach der Meinung von Ridwan as-Sayyid ist der iranische Einfluss in der arabischen Welt deutlich zu spüren. Der klein gewachsene Mann mit den grauen Haaren und den hellblauen Augen kann sich schnell in Rage reden, wenn es um die Hintergründe der interkonfessionellen Spannungen und um den iranischen Einfluss dabei geht:
"Iran ist zu einer Macht innerhalb der arabischen Welt geworden, genau wie die USA. Die Iraner kommen nicht und sagen, es gibt historische Probleme zwischen Schiiten und Sunniten, lasst uns darüber reden, wir sind schließlich eine islamische Nation! Nein, sie haben handfeste Interessen in jedem Land. Sie unterstützen diese oder jene Gruppe finanziell und politisch, um Druck auf arabische Regime auszuüben. Ich sehe eine große Gefahr darin, wenn Iran im Namen des Kampfes gegen Israel und die USA revolutionäre Bewegungen unterstützen, wie die Hizbullah im Libanon, die sich dann in den jeweiligen Staaten zu Oppositionsgruppen wandeln."
Eine andere Lesart liefert Muhammad Hussain Fadlallah. Fadlallah gehört zu den prominentesten schiitischen Gelehrten in der arabischen Welt und hat eine hohe Position im schiitischen Klerus. Lange galt er als spiritueller Mentor der libanesischen Hizbullah. Nun wahrt er mehr Distanz zu der "Partei Gottes". Seine schwer bewachte Residenz liegt neben der Stadtverwaltung von Harat Hraik, einem Stadtteil im Süden von Beirut. Hinter den hohen Mauern sind Blumenbeete angelegt. Fadlallah empfängt die Besucher in einem hellen langen Gewand und einem schwarzen Umhang. Auf dem Kopf trägt er einen schwarzen Turban, der auf seine Abstammung vom Propheten Muhammad deutet. Der 80-jährige Gelehrte mit dem weißen Bart spricht ruhig und gibt sich diplomatisch zurückhaltend. Die beiden großen Widersacher in der Region Saudi-Arabien und Iran erwähnt er mit keinem Wort:
"Ich glaube, dass die Angelegenheit in erster Linie eine internationale politische Dimension hat. Konfessionelle Unterschiede, die auf historische Ereignisse zurückgehen, werden dazu genutzt politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen."
Fadlallah weist auch auf die Rolle der Extremisten unter den Sunniten hin, jene Gruppen, die versuchen, mit Waffengewalt eine nach ihrem Verständnis ideale islamische Gesellschaft wieder herzustellen:
"Die radikalen Salafiten haben die Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten verkompliziert. Diese Gruppierungen erklären die Schiiten und übrigens andere Muslime auch für ungläubig. Für sie bewegen sich all diejenigen, die Heiligengräber besuchen oder an die Fürbitte von Heiligen glauben außerhalb des Islam. Diese Gedanken haben viel Einfluss. Besonders da sie von Ländern unterstützt werden, die politisches Kapital daraus schlagen. Sie säen Uneinigkeit unter den Muslimen und folgen somit einem amerikanischen Plan."
Wie ein roter Faden zieht sich die enge Verflechtung von Politik und Religion im innerislamischen Zwist durch die Jahrhunderte. Am Anfang in der noch jungen islamischen Gemeinde auf der arabischen Halbinsel stand der Streit um die Nachfolge des Propheten Muhammad. Muhammad Nureddin vom Zentrum für strategische Studien in Beirut:
"Es begann mit dem Tod des Propheten Muhammad. Er hatte seinen Nachfolger nicht festgelegt. Daran entzündete sich der Streit und er war in diesem Moment ein politischer Streit. Die eine Seite meinte, den Nachfolger unter den Gefährten wählen zu müssen, die andere Seite meinte, die Nachfolge müsse auf den Imam übergehen, auf den Schwiegersohn und Cousin des Propheten Ali und später auf seine Nachkommen. Was politisch begann, hat sich im Laufe der Jahrhunderte in der Theologie und im Recht verfestigt."
Eine Ashura-Prozession im irakischen Kerbala. Männer schlagen mit Metallketten auf ihre nackten Oberkörper ein. Dabei rufen sie rhythmisch die Namen Hussain und Ali; die sind nach schiitischer Auffassung die rechtmäßigen Nachfolger Muhammads. Diese Passionsfeiern haben sich im Laufe von mehreren Jahrhunderten herausgebildet und sollen alljährlich an den Märtyrertod Hussains erinnern. Sie markieren ein zentrales Ereignis im schiitischen Geschichtsverständnis. Auf viele Sunniten dagegen wirken die Selbstgeißelungen und Trauerfeiern befremdlich. Mit ihrem Verständnis vom Islam können sie das nur schwer vereinbaren. Die Verfluchungen der Prophetengefährten empfinden sie als Affront.
Die al-Azhar hat unlängst auf die anhaltenden sunnitisch-schiitischen Spannungen reagiert. Sie beschloss das "Zentrum für konfessionelle Annäherung" zu reaktivieren, um die Annäherung, die so hoffnungsvoll begonnen hat, weiterzuführen. Amira Abdallah dagegen hat wenig Hoffnung, dass Religionsgelehrte etwas ausrichten können:
"Ich finde, dass die religiösen Führer und Muftis die konfessionellen Unterschiede nicht aufbauschen sollten. Sie sollten viel mehr die Einheit der Muslime herausstreichen. Die Verantwortung für die meisten Probleme zwischen Sunniten und Schiiten tragen die Religionsgelehrten. Sobald sich Religion und Politik vermischen, dann gibt es nur Ärger!"
"Meine Mutter war total dagegen. Sie hatte Vorurteile gegen ihn, weil seine Familie aus einem Dorf im Süden des Libanon kam. Aber sie wohnten seit 40 Jahren in Beirut und er hatte den gleichen Universitätsabschluss wie ich. Trotzdem. Sie meinte Schiiten aus dem Süden heiraten mehrere Frauen. Und sie hatte Sorgen wegen unserer Kinder später. Sie würden sich verloren fühlen zwischen unseren beiden religiösen Richtungen. Gerade weil es bei uns in der Politik immer wieder zwischen Sunniten und Schiiten zu Reibereien kommt."
Das Ehepaar lebt in Shiyyah, einem Vorort im Süden von Beirut mit mehrheitlich schiitischer Bevölkerung. Im Leben von Amiras Familie machen sich die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten in der alltäglichen religiösen Praxis nur wenig bemerkbar. Die rituellen Gebete weichen leicht voneinander ab. Im Ramadan wird das Fastenbrechen mit einigen Minuten zeitlicher Verschiebung begangen. Das Paar hat inzwischen vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Welcher Konfession die Kinder einmal folgen werden, ist noch nicht klar:
"Das ist letztendlich eine persönliche Entscheidung. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist etwas sehr Persönliches. Wenn mein Sohn eines Tages sich dafür entscheiden würde Schiit zu werden, dann habe ich nichts dagegen. Und wenn meine Tochter Sunnitin werden will, dann soll sie das tun."
Konfessionell verschiedene Ehen mit Toleranz und religiöser Offenheit wie in der Familie von Amira Abdallah sind ein Beispiel für die sunnitisch-schiitische Koexistenz. Aber das Verhältnis der beiden Hauptströmungen im Islam ist auch von Vorurteilen geprägt und, wie im Falle von Amiras Mutter, von Ängsten und Gewalt. Im Irak kommt es seit Jahren zu gegenseitigen Gewaltexzessen. Im Libanon haben viele nach den Zusammenstößen im letzten Mai die Befürchtung, dass sich die bürgerkriegsähnlichen Zustände zwischen mehrheitlich schiitischen und sunnitischen Milizen wiederholen könnten.
Ein Beispiel für das gespannte Verhältnis zwischen den beiden Konfessionen sind die jüngsten Äußerungen des sunnitischen Predigers Yussuf al-Qaradawi:
"Die Verfluchung der Prophetengefährten ist eine der gefährlichsten Angelegenheiten, die zwischen uns und den Schiiten steht. Die Vertrauten des Propheten Muhammed haben uns den Koran und die Aussprüche des Propheten übermittelt und bei den Eroberungszügen kämpften sie an vorderster Front."
In einem Fernsehinterview kritisiert der sunnitische Prediger Yussuf al-Qaradawi scharf einen volkstümlichen Brauch. Zu bestimmten Anlässen verfluchen Schiiten einige von Sunniten verehrte Gefährten des Propheten. Außerdem verurteilt er die angebliche schiitische Missionierung unter Sunniten, besonders in Ägypten. Der 82-jährige al-Qaradawi zählt zu den einflussreichsten sunnitischen Gelehrten in der arabischen Welt. Er ist Autor vieler Bücher, Vorsitzender einiger Gelehrtennetzwerke, und er tritt regelmäßig im Satellitensender al-Jazeera auf. Der ägyptischstämmige Gelehrte greift in seiner Polemik längst überwunden geglaubte Differenzen in der religiösen Praxis auf. Denn einige Jahrzehnte nach der berühmten Fatwa zur interkonfessionellen Verständigung sollte eigentlich eine stabile religiöse Grundlage für schiitisch-sunnitische Beziehungen gelegt worden sein. 1959 gab der damalige reformfreudige Azhar-Scheich Mahmud Shaltut ein Rechtsgutachten heraus. Dieses stellte die schiitische mit den vier sunnitischen Rechtsschulen gleich. Ein klares Votum gegen die Einstufung der schiitischen Konfession von sunnitischer Seite als Abweichung vom rechten Weg.
Die Fatwa Shaltuts fiel in eine Phase der gegenseitigen konfessionellen Annährung. Nach der Entkolonisierung in der Mitte des letzten Jahrhunderts glaubten breite Bevölkerungsschichten und die Eliten an eine bessere Zukunft. Damals entstand in Kairo das "Zentrum für konfessionelle Annäherung". Sunnitische und schiitische Gelehrte beschlossen, das Recht der jeweils anderen Konfession zu studieren und eine gemeinsame Zeitschrift herauszugeben. Ridwan as-Sayyid kann sich noch gut an die Ausläufer dieser Zeit erinnern. Der Professor für Islamwissenschaften an der Libanesischen Universität war Mitte der 60er Jahre Student an der theologischen Hochschule al-Azhar:
"Damals fanden wirklich entscheidende Schritte zur Annährung der beiden Konfessionen statt. Unsere Lehrer ermutigten uns, das schiitische Recht zu studieren und davon zu profitieren. Sie wiesen uns auch darauf hin, dass die Schiiten davon abgelassen hätten einige Gefährten des Propheten Muhammad zu verfluchen und dass sie viel mehr die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede betonen würden."
Die jüngsten Äußerungen des Predigers al-Qaradawi haben weniger mit religiösen Differenzen als mit den veränderten politischen Verhältnissen in der arabischen Welt zu tun. Der Sturz Saddam Hussains und der Einmarsch der Amerikaner in den Irak haben das schiitisch-sunnitische Verhältnis in den letzten Jahren stark geprägt. Das Zweistromland galt Jahrzehnte lang als Zentrum des arabischen Nationalismus, stets mit einer sunnitischen Elite an der Spitze. In den 80er Jahren führte es einen erbitterten Krieg gegen einen Nachbarn, der in der Propaganda die Etiketten "schiitisch" und "persisch" bekam. Nach langer Zeit politischer Marginalisierung und Bedeutungslosigkeit sind die Schiiten in der arabischen Welt einflussreicher denn je, auch mit dem starken Bruder Iran im Rücken. Die Äußerungen führender arabischer Politiker und Persönlichkeiten in den letzten Jahren, die vor der "schiitischen Gefahr" warnen, entspringen der Angst vor der Regionalmacht Iran. Radikale sunnitische und schiitische Milizen im Irak unterhalten enge Verbindungen zu den Nachbarländern, die ihre Machtkämpfe auch auf irakischem Boden austragen.
Nach der Meinung von Ridwan as-Sayyid ist der iranische Einfluss in der arabischen Welt deutlich zu spüren. Der klein gewachsene Mann mit den grauen Haaren und den hellblauen Augen kann sich schnell in Rage reden, wenn es um die Hintergründe der interkonfessionellen Spannungen und um den iranischen Einfluss dabei geht:
"Iran ist zu einer Macht innerhalb der arabischen Welt geworden, genau wie die USA. Die Iraner kommen nicht und sagen, es gibt historische Probleme zwischen Schiiten und Sunniten, lasst uns darüber reden, wir sind schließlich eine islamische Nation! Nein, sie haben handfeste Interessen in jedem Land. Sie unterstützen diese oder jene Gruppe finanziell und politisch, um Druck auf arabische Regime auszuüben. Ich sehe eine große Gefahr darin, wenn Iran im Namen des Kampfes gegen Israel und die USA revolutionäre Bewegungen unterstützen, wie die Hizbullah im Libanon, die sich dann in den jeweiligen Staaten zu Oppositionsgruppen wandeln."
Eine andere Lesart liefert Muhammad Hussain Fadlallah. Fadlallah gehört zu den prominentesten schiitischen Gelehrten in der arabischen Welt und hat eine hohe Position im schiitischen Klerus. Lange galt er als spiritueller Mentor der libanesischen Hizbullah. Nun wahrt er mehr Distanz zu der "Partei Gottes". Seine schwer bewachte Residenz liegt neben der Stadtverwaltung von Harat Hraik, einem Stadtteil im Süden von Beirut. Hinter den hohen Mauern sind Blumenbeete angelegt. Fadlallah empfängt die Besucher in einem hellen langen Gewand und einem schwarzen Umhang. Auf dem Kopf trägt er einen schwarzen Turban, der auf seine Abstammung vom Propheten Muhammad deutet. Der 80-jährige Gelehrte mit dem weißen Bart spricht ruhig und gibt sich diplomatisch zurückhaltend. Die beiden großen Widersacher in der Region Saudi-Arabien und Iran erwähnt er mit keinem Wort:
"Ich glaube, dass die Angelegenheit in erster Linie eine internationale politische Dimension hat. Konfessionelle Unterschiede, die auf historische Ereignisse zurückgehen, werden dazu genutzt politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen."
Fadlallah weist auch auf die Rolle der Extremisten unter den Sunniten hin, jene Gruppen, die versuchen, mit Waffengewalt eine nach ihrem Verständnis ideale islamische Gesellschaft wieder herzustellen:
"Die radikalen Salafiten haben die Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten verkompliziert. Diese Gruppierungen erklären die Schiiten und übrigens andere Muslime auch für ungläubig. Für sie bewegen sich all diejenigen, die Heiligengräber besuchen oder an die Fürbitte von Heiligen glauben außerhalb des Islam. Diese Gedanken haben viel Einfluss. Besonders da sie von Ländern unterstützt werden, die politisches Kapital daraus schlagen. Sie säen Uneinigkeit unter den Muslimen und folgen somit einem amerikanischen Plan."
Wie ein roter Faden zieht sich die enge Verflechtung von Politik und Religion im innerislamischen Zwist durch die Jahrhunderte. Am Anfang in der noch jungen islamischen Gemeinde auf der arabischen Halbinsel stand der Streit um die Nachfolge des Propheten Muhammad. Muhammad Nureddin vom Zentrum für strategische Studien in Beirut:
"Es begann mit dem Tod des Propheten Muhammad. Er hatte seinen Nachfolger nicht festgelegt. Daran entzündete sich der Streit und er war in diesem Moment ein politischer Streit. Die eine Seite meinte, den Nachfolger unter den Gefährten wählen zu müssen, die andere Seite meinte, die Nachfolge müsse auf den Imam übergehen, auf den Schwiegersohn und Cousin des Propheten Ali und später auf seine Nachkommen. Was politisch begann, hat sich im Laufe der Jahrhunderte in der Theologie und im Recht verfestigt."
Eine Ashura-Prozession im irakischen Kerbala. Männer schlagen mit Metallketten auf ihre nackten Oberkörper ein. Dabei rufen sie rhythmisch die Namen Hussain und Ali; die sind nach schiitischer Auffassung die rechtmäßigen Nachfolger Muhammads. Diese Passionsfeiern haben sich im Laufe von mehreren Jahrhunderten herausgebildet und sollen alljährlich an den Märtyrertod Hussains erinnern. Sie markieren ein zentrales Ereignis im schiitischen Geschichtsverständnis. Auf viele Sunniten dagegen wirken die Selbstgeißelungen und Trauerfeiern befremdlich. Mit ihrem Verständnis vom Islam können sie das nur schwer vereinbaren. Die Verfluchungen der Prophetengefährten empfinden sie als Affront.
Die al-Azhar hat unlängst auf die anhaltenden sunnitisch-schiitischen Spannungen reagiert. Sie beschloss das "Zentrum für konfessionelle Annäherung" zu reaktivieren, um die Annäherung, die so hoffnungsvoll begonnen hat, weiterzuführen. Amira Abdallah dagegen hat wenig Hoffnung, dass Religionsgelehrte etwas ausrichten können:
"Ich finde, dass die religiösen Führer und Muftis die konfessionellen Unterschiede nicht aufbauschen sollten. Sie sollten viel mehr die Einheit der Muslime herausstreichen. Die Verantwortung für die meisten Probleme zwischen Sunniten und Schiiten tragen die Religionsgelehrten. Sobald sich Religion und Politik vermischen, dann gibt es nur Ärger!"