Wesensverwandte
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1911 lernt der Maler Wassily Kandinsky die Musik von Arnold Schönberg kennen. Bald begegnen sie sich persönlich und sehen im jeweils anderen einen Wesensverwandten. Briefe bezeugen die langjährige Freundschaft. Doch im Sommer 1923 kommt es zum Bruch.
Schönberg und Kandinsky. Der eine löst sich vom Grundton, der andere vom Gegenstand. Der eine begründet die freie Tonalität und die Zwölftontechnik, der andere die abstrakte Malerei.
Ihre geistigen Um- und Durchbrüche verlaufen nahezu gleichzeitig, ihre Ideen vom Gesamtkunstwerk ergänzen sich. Beide provozieren und treten mit messianischem Anspruch für ihre Ästhetik ein. Kandinsky und Schönberg begegnen einander auf Augenhöhe – und sehen im jeweils anderen einen Wesensverwandten.
Auf dem Weg zur Abstraktion
2. Januar 1911. Wassily Kandinsky und weitere Mitglieder der "Neuen Künstlervereinigung München" besuchen ein Konzert im Münchner Jahreszeitensaal. Auf dem Programm steht Musik von Arnold Schönberg. Das Streichquartett Nr. 2 op. 10 und die Drei Klavierstücke op. 11. Kompositionen also, die sich vom traditionellen Verständnis der Tonalität ablösen und in freier Tonalität entfalten. Das Konzert wird zu einem Schlüsselerlebnis für den 44-jährigen Kandinsky.
Kandinsky verarbeitet das Konzerterlebnis auf seine Weise: Mit Ölfarben malt er die Umrisse eines schwarzen Flügels – umrahmt von einer gelben Fläche: Gelb auf Schwarz, das "wirkt so stark, dass es sich direkt vom Hintergrund befreit, in der Luft schwebt und ins Auge springt", schreibt Kandinsky später.
Das Publikum wird nur schemenhaft angedeutet, einzelne Farbflächen – weiß, rot, blau – bringen das sinnliche Klangerlebnis auf die Leinwand. "Impression III (Konzert)" ist nicht das erste abstrakte Bild von Kandinsky. Ebenso wie Schönberg sucht er bereits nach einer neuen Art der Konstruktion, nach einer neuen Definition von Konsonanz und Schönheit.
Hier beginnt die Zukunftsmusik
Kandinsky sieht in der Musik von Schönberg die Verwirklichung jener Prinzipien, die für ihn in der abstrakten Malerei grundlegend sind: die Emanzipation der Dissonanz, den Ausdruck des Seelischen. In seinem theoretischen Hauptwerk "Über das Geistige in der Kunst" schreibt Kandinsky: "Schönbergs Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die 'Zukunftsmusik'."
Nur wenige Tage nach dem eindrücklichen Konzert, am 18. Januar 1911, schreibt Kandinsky seinen ersten Brief an den "sehr geehrten Herrn Professor". In höflichen und überschwänglichen Worten zugleich beteuert er seine Sympathie mit dem Wiener Komponisten, mit dem er "so viel Gemeinsames" habe.
Seinen Gedanken über Konstruktion und Dissonanz legt Kandinsky auch eine Mappe mit Fotografien seiner Bilder bei. Schönbergs Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Sofort steigt er ein in die ästhetische Diskussion über die "Ausschaltung des bewussten Willens in der Kunst". Aus den Künstlern werden Brieffreunde: Im Spätsommer 1911 treffen sie sich zum ersten Mal persönlich am Starnberger See in der Nähe von Murnau, wo Kandinsky mit seiner Partnerin, der Malerin Gabriele Münter lebt.
In seinen theoretischen Werken verbindet Kandinsky Farben mit Musikinstrumenten. Als Synästhetiker hört er im Grellgelb hohe Trompetentöne, im dunklen Blau das Cello. Und auch die Bezeichnungen seiner Werke sind der Musik entlehnt.
Dabei unterscheidet er drei Gruppen: Seine "Improvisationen" reflektieren unbewusste Vorgänge der "inneren Natur", die "Impressionen" die Eindrücke aus der "äußeren Natur". Die "Kompositionen" sind wiederum geprägt von bewusster Prüfung und langsamer Ausarbeitung.
Schönberg schickt Kandinsky auch eigene Bilder zu und erntet viel Respekt und Zuspruch. Kandinsky schätzt Schönbergs Bilder so sehr, dass er sie auch im Rahmen der von ihm und Franz Marc konzipierten ersten Ausstellung des "Blauen Reiters" in München präsentieren will. Im Ausstellungskatalog finden sich drei Gemälde von Schönberg: das "Gehende Selbstportrait" und zwei "Visionen", darunter "Der rote Blick".
Schönberg als Maler
Schönberg ist es eher unangenehm, zwischen Berufskünstlern wie Kandinsky, Marc, Macke, Münter oder Rousseau ausgestellt zu werden, er fühlt sich als "Outsider" – und zieht seine Bilder aus der folgenden Wanderausstellung zurück.
Doch als im Mai 1912 der berühmte Almanach "Der Blaue Reiter" erscheint, darf Schönberg nicht fehlen. Kandinsky und Marc drucken zwei Bilder von ihm ab, außerdem einen theoretischen Aufsatz über "das Verhältnis zum Text" und die Partitur seines Liedes "Herzgewächse" op. 20.
Kriegsbedingte Funkstille
Während Schönberg mit seiner Familie den Sommer 1914 in Oberbayern bei Kandinsky verbringt, beginnt mit der Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien der Erste Weltkrieg. Kandinsky geht zurück nach Russland, Schönberg leistet Militärdienst. Acht Jahre lang herrscht Funkstille zwischen den beiden Freunden.
Neu geknüpfte Bande
Erst 1922 nehmen beide wieder Kontakt auf. Kandinsky ist mittlerweile einem Ruf von Walter Gropius ans Weimarer Bauhaus gefolgt. Schönberg unterrichtet in Mödling bei Wien. Auf den lang ersehnten Brief seines Freundes antwortet Schönberg erleichtert.
Schönberg und Kandinsky befinden sich erneut in einer künstlerischen Umbruchphase. Die Bildsprache von Kandinsky drückt sich nun durch geometrische Formen und die Reduktion auf die Primärfarben aus. Schönberg sucht ebenfalls nach einem neuen Ordnungsprinzip – und entwickelt die Kompositionsmethode "mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen".
Einladung ans Bauhaus
Am 15. April 1923 erreicht Schönberg ein Brief aus Weimar – Kandinsky drückt erneut seinen Wunsch aus, sich mit Schönberg auszutauschen – und macht ihm ein Angebot. "Im Vertrauen: Die hiesige Musikschule soll einen neuen Leiter bekommen. Und da dachten wir gleich an Sie. Schreiben Sie mir doch möglichst gleich, ob Sie nur im Prinzip einverstanden wären. Wenn ja, dann werden wir uns gleich ins Zeug legen."
Doch die Antwort von Schönberg fällt anders aus als erhofft. Normalerweise hätte er liebend gern in Weimar unterrichtet. Kandinsky habe sich aber antisemitisch geäußert – und das sei für den geborenen Juden Schönberg unverzeihlich! Unter diesen Umständen könne er nicht zusagen.
"Ich habe gehört, dass auch ein Kandinsky in den Handlungen der Juden nur Schlechtes und in ihren schlechten Handlungen nur das Jüdische sieht, und da gebe ich die Hoffnung auf Verständigung auf. Es war ein Traum. Wir sind zweierlei Menschen."
Gescheiterte Versöhnung
Vier Jahre später begegnen sich die beiden zufällig im Sommerurlaub am Wörthersee. Ein regelmäßiger Briefkontakt kommt jedoch nicht mehr zustande. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelten ihre Werke als "entartet".
Beide Künstler emigrieren ins Ausland. Schönberg in die USA, Kandinsky nach Frankreich. Zum geplanten Besuch von Kandinsky in Los Angeles kommt es nicht mehr. Kandinsky stirbt am 13. Dezember 1944 in Neuilly-sur-Seine – kurz nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten. Schönberg überlebt Kandinsky um sechseinhalb Jahre.