Die Fronten des Kalten Krieges aufweichen

Von Wolfgang Stenke |
Am 17. Mai 1972 stand im Bonner Bundestag die Ratifizierung der Abkommen mit Polen und der Sowjetunion auf der Tagesordnung. Vorangegangen war im Februar eine leidenschaftliche Debatte. 22 Stunden stritt seinerzeit die CDU/CSU-Opposition mit der Regierung über diese Gewaltverzichtsverträge.
"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an. Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen."

Willy Brandt, Kanzler der Koalition von SPD und FDP, bei seiner ersten Regierungserklärung im Oktober 1969 im Bonner Bundestag. "Wandel durch Annäherung" plus "Gewaltverzicht" hieß das Rezept der Entspannungspolitik, mit dem die Sozialliberalen unter Brandt und dem freidemokratischen Außenminister Walter Scheel die Fronten des Kalten Krieges aufweichen wollten. Ein Ausgleich mit der Sowjetunion und Polen war nur möglich, wenn die Bundesrepublik die Grenzen respektierte, die die alliierten Siegermächte am Ende des Zweiten Weltkriegs gezogen hatten. Gegen diese Anerkennung der politischen Realitäten richtete sich der hartnäckige Widerstand konservativer Kreise, insbesondere der Interessenverbände der Heimatvertriebenen. – Willy Brandt am 20. November 1970 nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages:

"Wir anderen müssen Verständnis und Achtung aufbringen für eine Last, die für uns alle mitgetragen wird. Trotzdem muss ich gerade in dieser Stunde die heimatvertriebenen Landsleute bitten, nicht in Bitterkeit zu verharren, sondern den Blick in die Zukunft zu richten."

Am 17. Mai 1972 stand im Bonner Bundestag die Ratifizierung der Abkommen mit Polen und der Sowjetunion auf der Tagesordnung. Vorangegangen war im Februar eine leidenschaftliche Debatte - 22 Stunden stritt seinerzeit die CDU/CSU-Opposition mit der Regierung über diese Gewaltverzichtsverträge, die Egon Bahr, Staatsminister im Kanzleramt, und Außenminister Walter Scheel in Moskau und Warschau ausgehandelt hatten. Oppositionsführer Rainer Barzel schleuderte der Regierung ein entschiedenes "So nicht!" entgegen. Mit einem konstruktiven Misstrauensvotum wollte Barzel am 27. April 1972 die Regierung stürzen und Kanzler werden. Er scheiterte. Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel:

"Ich stelle fest, dass der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Dr. Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat. Der Antrag der Fraktion der CDU/CSU ..."

Barzel verlor diese dramatische Abstimmung auch, weil zumindest ein Abgeordneter aus dem Lager von CDU/CSU sich hatte bestechen lassen. Nach dem Scheitern des Misstrauensvotums verhandelte die Opposition mit der sozialliberalen Regierung über Nachbesserungen der Vertragswerke. Aus Barzels "So nicht!" wurde ein moderates "So doch!" Das Risiko, durch obstinate Verweigerung ins außenpolitische Abseits zu geraten, erschien vielen CDU-Politikern zu groß. Als Kompromiss wurde ein gemeinsamer Entschließungsantrag aller Fraktionen zu den Verträgen erarbeitet. Er war mit der sowjetischen Seite abgestimmt und hielt fest, dass die Abkommen mit Moskau und Warschau einem späteren Friedensvertrag nicht vorgriffen und das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung gewahrt blieb. Doch die CSU zwang den Oppositionsführer dazu, die Fraktion auf Stimmenthaltung festzulegen. Barzel, der eigentlich in die Verträge einwilligen wollte, gab nach. Am 17. Mai 1972 stimmte das Bonner Parlament ab. – Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik, in seinen Memoiren:

"Im Frühjahr 1972 waren wir so durchdrungen von der Überzeugung, das Richtige für unseren Staat und unser Volk, das ja auch in einem anderen Staat lebte, zu tun, so erfüllt von einem missionarischen Eifer, dass es beinahe Pflicht schien, dafür die eigene Mehrheit zu riskieren."

Die namentliche Abstimmung ging für die Regierung gut aus. Mit den 248 Jastimmen ihrer Fraktionen bei 238 Enthaltungen aus dem Lager der Opposition passierten die Ratifizierungsgesetze den Bundestag. Zehn Abgeordnete von CDU/CSU votierten gegen den Moskauer Vertrag, 17 gegen das Abkommen mit Warschau. Diese Ostverträge blieben auch nach dem Ende der sozialliberalen Ära im Jahre 1982 die Grundlage für einen wenn nicht konfliktfreien, so doch friedfertigen Umgang mit den Staaten des Warschauer Paktes.