Die Furcht vor dem Fremden

Von Reinhard Kreissl · 01.09.2010
Jede entwickelte Kultur kennt die Institution der Gastfreundschaft. Sie schützt den Fremden wie den Einheimischen. Biete dem Fremden Speis und Trank, ein Nachtlager und freundliche Worte. Mit dieser Maxime wurde lange Zeit Gewalt und Misstrauen an der Schnittstelle von Sesshaften und Umherziehenden vermieden. Heute erwartet Gastfreundschaft bestenfalls den zahlenden Touristen. Er genießt die Freundlichkeit jener, denen er vor der eigenen Haustüre abweisend begegnet.
Die Furcht vor dem Fremden, die durch Gastfreundschaft neutralisiert werden kann, ist ein psychologisches Motiv, das in der Politik strategisch genutzt wird. Der Fremde wird zum Sündenbock gemacht. Ein bekannter Befund der Sozialpsychologie besagt, dass der projizierbare Außenfeind die Binnensolidarität stärkt. Dieser Mechanismus funktioniert in der Spielgruppe im Kindergarten ebenso, wie auf der großen Bühne der Politik, und manchmal ist die Ähnlichkeit zwischen beiden erschreckend.

Der gewiefte Realpolitiker reagiert auf seine sinkenden Popularitätswerte durch die Erfindung eines "nützlichen Feindes". Diese Rolle kann der Raucher besetzen, der Sexualstraftäter oder der Fremde. Fremdheit kann bedrohlich wirken und auch hier zeigt die Sozialpsychologie, dass Vorurteile umso stärker sind, je weniger Kontakt mit dem Fremden besteht. Man schließe den Fremden aus, trenne ihn von der Mehrheit, sperre ihn ins Ghetto und schon entsteht das Bild einer Bedrohung, vor der uns zupackende Politiker beschützen wollen.

Was derzeit in Frankreich passiert, ist ein Lehrstück in dieser Art von politischer Psychologie. Mit den Roma wird eine Gruppe, die ohnehin am Rande der Gesellschaft lebt, zum Gegenstand brachialer staatlicher Maßnahmen. Der Staatspräsident hat es auf sie abgesehen und schürt nationalistische Ressentiments und Ängste. Dabei haben die randalierenden Roma im Grunde genommen nur auf eine ureigene französische Tradition des robusten Protests zurückgegriffen. Bauern und LKW-Fahrer, Schüler und Studenten gehen dort ähnlich vor, wenn sie ihr Unbehagen artikulieren. Auch hier gehen Scheiben zu Bruch, brennen Autos, werden Straßen blockiert und es kommt zu massiven Konfrontationen mit den Sicherheitskräften.

Erinnern wir uns an José Bové, der in den 90er-Jahren mit seinem Traktor in Frankreich eine McDonalds-Filiale verwüstete. Er wurde zum Volkshelden. Und diese Aktion war ein Protest gegen die Strafzölle, den die Vereinigten Staaten auf Roquefortkäse erhoben! Die Roma rebellierten, weil einer der Ihren unter offenbar ungeklärten Umständen von der Polizei erschossen wurde. Die Staatsanwaltschaft sah kein Verschulden des Polizeibeamten gegeben. Das Opfer, so die offizielle Lesart, war selbst schuld.

Dergleichen passiert immer wieder und zumeist trifft es Angehörige einer Randgruppe, Jugendliche aus der Banlieue, Sinti und Roma. Nicolas Sarkozy hatte, damals noch als Innenminister, angedroht, mit dem Dampfstrahler durch die Vororte von Paris zu ziehen, um sie von jenen zu säubern, die dort gewaltsam protestierten – übrigens auch ausgelöst durch einen tödlichen Schuss aus der Pistole eines Polizeibeamten. Dieser Auftritt brachte ihn seinem Ziel, dem Élysée-Palast, ein Stück weit näher.

Heute geht es für ihn darum, sich dort zu halten. Politik auf Kosten von Minderheiten zu machen, mag dabei mangels Alternativen als wohlfeile Strategie erscheinen, ein Beleg für staatsmännische Souveränität ist es nicht. Auch ein Staatsoberhaupt sollte nie vergessen, dass er im Präsidentenpalast einer Demokratie nur als Gast geduldet ist.


Dr. Reinhard Kreissl, geboren 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat unter anderem an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Zu seinen Buchpublikationen gehören unter anderem: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist" und "Feinde. Alle, die wir brauchen". Kreissl lebt in München und Wien.
Reinhard Kreissl
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