Die Furcht vor den alten Kadern
Viele Tunesier sind wenige Monate nach der Revolution ernüchtert. Vor allem, weil die Wirtschaft des Landes am Boden liegt. Zudem kommt es weiterhin zu Plünderungen und auch wieder zu Übergriffen durch Sicherheitskräfte. Im Juli sollte ein Interims-Parlament gewählt werden.
Der Platz der Kasbah am Nordrand der Altstadt von Tunis. Viel Beton, leicht ansteigend, weit, am Rand Blumenkübel, in der Mitte ein Denkmal, oben am Hügel steht groß und mächtig das Parlamentsgebäude. Die Schülerinnen und Schüler, die in der warmen Frühlingssonne sitzen, hören nicht auf die Rufe der Muezzine. Die Dutzenden Polizisten in dunkelblauen Kampfuniformen auch nicht.
Am unteren Ende des Platzes führt eine enge Straße vorbei, an der der Sitz des Ministerpräsidenten liegt. Jetzt ist dazwischen Stacheldraht, flankiert von gepanzerten Polizeifahrzeugen. An einer Ecke, von der aus eine kleine Gasse in das Gewirr der Medina leicht bergab führt, stehen die Polizisten, rauchen und warten. Heute bleibt es ruhig. Auf diesem Platz hatte das tunesische Volk den Abgang des Diktators Ben Ali erkämpft und bald darauf den Rücktritt des ersten Übergangspräsidenten.
Vor vielen öffentlichen Gebäuden der Stadt, vor Banken und in der Prachtstraße Avenue Habib Bourguiba – überall stehen die gepanzerten dunkelblauen Fahrzeuge, manchmal auch Wasserwerfer, überall liegt Stacheldraht, stehen Uniformierte Wache.
Ghazi Gherari hat sein Büro fernab der Innenstadt von Tunis. Hier gibt es weder Polizisten noch Stacheldraht. Auf einem großen Konferenztisch liegt eine Karte der Wahlbezirke Tunesiens. Gherari erklärt Details des Wahlgesetzes, das die ersten fairen Wahlen Tunesiens garantieren soll.
Er ist Sprecher einer Kommission, die die Übergangsregierung beraten und die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung vorbereiten soll. Das Wahlgesetz hat es in sich: Die Kader der Ben Ali-Partei sollen ausgeschlossen werden. In den Wahllisten muss die Hälfte der Kandidaten Frauen sein. Und den schwach bevölkerten Provinzen im Landesinneren, wo die Revolution ihren Ursprung nahm, werden Extra-Plätze eingeräumt.
Ghazi Gherari: "Das ist ein politisches, moralisches und revolutionäres Korrektiv, damit sich die Versammlung auch daran erinnert, woher die Revolution kam."
Gherari ist stolz, seine Augen leuchten, er redet schnell und wirkt hyperaktiv. Unter Ben Ali hat er sich mit Consulting-Jobs und einem Mini-Lehrauftrag als Jurist an der Uni über Wasser gehalten. Jetzt hat er seinen Job auf Eis gelegt, nur die drei Stunden an der Uni absolviert er noch. Für die Kommission arbeitet er ohne Gehalt. Ein Dienst fürs Vaterland.
Ghazi Gherari: "Stellen Sie sich vor, Sie hätten in Deutschland zu Zeiten Bismarcks gelebt. Das kann man ungefähr vergleichen, nicht die Wiedervereinigung, wir waren ja nie getrennt, aber in einem entscheidenden Augenblick nicht nur der Gründung eines demokratischen Staates beizuwohnen, sondern der Neubearbeitung des Amalgams, dass diese Nation bildet."
Im Eingang des schmucklosen Flachdach-Bürohauses herrscht viel Betrieb, alles wirkt improvisiert. Die Kommission besteht zum Großteil aus Juristen und Staatsrechtlern, viele haben unter Ben Ali nur mühsam überlebt, weil sie nicht mit dem Regime kooperieren wollten. Die deutsche Hanns-Seidel-Stiftung hat sie unterstützt. Jürgen Theres ist deren Repräsentant in Tunis. Er ist schon seit Jahren hier und hat mitgelitten. Jetzt versucht er im Hintergrund zu helfen, die Stiftung investiert, die Bundesregierung auch. Gut angelegtes Geld, findet Theres.
Jürgen Theres: "Viele Revolutionen sind daran gescheitert, dass es nach der Revolution nicht möglich war, diese Ideen wirklich umzusetzen, aber ich bin eigentlich sehr optimistisch. Denn der Großteil der Bevölkerung möchte nicht noch mal eine Diktatur erleben und ist entschlossen, dass hier demokratische Verhältnisse herrschen sollen."
Die tunesische Revolution ist nicht nur Sache der Tunesier, findet er. Sie ist auch eine der Europäer.
Jürgen Theres: "Das große Problem wird sein, die ökonomischen Probleme in den Griff zu bekommen und vor allem die hohe Arbeitslosigkeit. Es ist kaum möglich, dass das Land seine großen ökonomischen Probleme alleine bewältigen kann. Europa muss helfen, dass das Staatsbudget nicht aus dem Ruder läuft, die Staatsgehälter müssen gezahlt werden.
Man muss weiterhin versuchen, den Jugendlichen, die doch zu großen Teilen diese Revolution getragen haben, eine Perspektive zu geben, auch eine Perspektive in Bildung und vielleicht auch eine Perspektive in Europa, das ist sehr, sehr wichtig. Vor allem aber muss Europa die Investitionsbedingungen erleichtern für uns und weiterhin alle Hemmnisse, vor allem im Agrarsektor, mit Tunesien abbauen."
Jendouba ist eine der Städte im armen Hinterland von Tunesien, in denen die Revolution ihren Ausgang nahm. Hier ist auch zu besichtigen, wie sie wieder kippen könnte. In der nordwestlichen Provinz wird 80 Prozent des Getreides geerntet, gleichzeitig ist jeder Dritte arbeitslos. Algerien ist 40 Kilometer entfernt, die wohlhabenden Städte an der Küste ein paar hundert.
Mitten in der staubigen Innenstadt von Jendouba hat die Ennahda ihr Parteilokal in einem unauffälligen weißgetünchten Geschäftshaus. Gegenüber eine Tankstelle, daneben brütet ein Storchenpaar auf einem Laternenmast. Die Ennahda ist die größte islamistische Partei Tunesiens. Unter Ben Ali war sie verboten, ihre Mitglieder verfolgt. Jetzt ist sie wieder da. Noch gibt es kein richtiges Türschild, nur ein Zettel mit roter Aufschrift an der Wand im offenen Treppenhaus verweist auf das Büro.
Im Zimmer des örtlichen Parteichefs Mahmoud Balty hängen Photos junger Männer – zwei Märtyrer seien es, die die Folter von Ben Alis Schergen nicht lange überlebt hätten.
Auch Balty saß lange Jahre im Gefängnis und wurde gefoltert. Erst seit ein paar Wochen wurde der Mathematiklehrer wieder in den Beamtendienst aufgenommen.
Über 60 Parteien wollen bei den Wahlen antreten, aber kaum eine hat Chancen: Kein Programm, keine Strukturen und keine Kandidaten. Die Ennahda dagegen hat alles und sie hat den Märtyrer-Bonus: Von Ben Ali und seiner RCD verfolgt, das bringt Sympathien. Balty rechnet damit, dass in Jenduba Ennahda die Hälfte der Sitze holt.
Mahmoud Balty: "Erstens kommen alle Aktivisten der Ennahda aus dem Volk, aus den ärmeren Schichten. Zweitens: Diese Leute sind ehrlich, aufrichtig, geradeaus und streng mit ihrer Familie. Dieses Modell wünschen sich die Tunesier."
Wer Balty reden hört, der mag kaum glauben, dass die Ennahda von vielen Tunesiern als Bedrohung gesehen wird. Die Türkei sei ihr Vorbild, sagt er, und dass seine Partei das moderate, moderne Tunesien, das zwischen arabischer und europäischer Welt oszilliert, nicht verändern will.
Mahmoud Balty: "Tunesien sollte ein demokratisches Land sein. Ein gutes Modell für die arabische und die europäische Welt. Das wollen alle Tunesier. Keine Partei soll dominieren – nicht einmal Ennahda."
Erst seit dem letzten Winter ist die Partei zugelassen und hat schon überall neue Mitglieder. Wie die junge Hani Ahmadjouni. Sie promoviert und arbeitet gleichzeitig und sie trägt Kopftuch, das jetzt wieder legal ist.
Hani Ahmadjouni: "Ich sehe in Ennahda eine Stimme der Freiheit, auch wenn die anderen das bezweifeln. Sie ist für die Frauen und sie ist nicht extrem, weder links noch auf der anderen Seite. Sie ist eine moderate Partei, das hat mich an ihr beeindruckt."
Genau das glauben ihr die anderen nicht. Misstrauisch stehen liberale Tunesier der Ennahda gegenüber – sie nehmen ihren Politikern die milden Worte nicht ab. Doch in der tunesischen Provinz ist die Ennahda oft die einzige Alternative zu Kommunisten und Liberalen, die zudem schlechter organisiert sind.
Und so sitzt auch in diesem Café ein Mann von der Ennahda mit dabei. Das Café liegt etwas außerhalb der Stadt, eine Gruppe mittelalter Männer diskutiert unter Bäumen im Schatten den Stand der Dinge. Keiner hier am Tisch hat die letzten 23 Jahre an einer Wahl teilgenommen.
Doch der friedliche Eindruck an diesem Tisch unter grünen Bäumen täuscht: Ein paar Meter weiter sitzen betont unauffällig zwei Männer, sie drehen der Gruppe Diskutierender den Rücken zu.
In Jendouba kennt man sich. Und die da, sagt Sahbu Aloui, Lehrer und Gewerkschaftler, die da, sagt er und deutet auf die beiden Männer, das sind "indicateurs". So werden hier die Spitzel des Innenministeriums genannt. Sie schreiben immer noch ihre Berichte, auch nach der Revolution.
Sahbu Aloui: "Wir reden miteinander, aber wir kennen die Grenzen – und die überschreiten wir nicht. Das ist so eine Art Selbstzensur."
Sein Nachbar nickt. Abgelghani Drissi arbeitet mit beim Revolutionskomitee, das in Jendouba die Macht übernommen hat. Nach außen hin zumindest. Denn die Macht der Komitees ist begrenzt. Wie begrenzt, das zeigt sich seit ein paar Wochen. Tunesiens Bürger fühlen sich zunehmend verunsichert. Diktator Ben Ali herrschte nicht allein. Seine Macht ruhte auf dem Innenministerium und auf Geschäftsleuten, die durch ihn viel Geld verdienten. Im Innenministerium in Tunis, da ist jetzt wieder ein RCD-Mann der Chef, von der verbotenen Ex-Staatspartei. Sein Vorgänger hatte die RCD aufgelöst, RCD-Gouverneure ihres Amtes enthoben und wollte die Spitzel nach hause schicken. Dann wurde er vom Übergangspremier entlassen. Jetzt schreiben sie wieder ihre Berichte.
Abgelghani Drissi: "Es gibt auch die alten RCD-Kader, die noch genügend Geld haben, um vielleicht Strohmänner zur rekrutieren und aufzustellen. Also da müssen wir Aktivisten aufpassen."
In drei politischen Parteien haben sich RCD-Politiker neu organisiert. Doch die wirkliche Gefahr geht vom Innenministerium aus. Und das merken auch die Menschen hier in Jendouba, sagt Sahbi Aloui, der Lehrer.
Sahbi Aloui: "Zum Beispiel die Polizei. Die nimmt mittlerweile nichts mehr auf, bei Diebstählen zum Beispiel. Wenn man jetzt zur Polizei geht sagen die, 'nein, wir machen nichts, wir haben keine Anweisungen'. Das lässt die Bevölkerung in einem Gefühl der Unsicherheit, das ist vielleicht gewollt vom Staat. Er will zeigen, dass jetzt alles unsicher ist und die richtige Polizei zurück muss, die aggressiv ist und sich alles erlauben kann."
In der Innenstadt von Jendouba randalieren immer wieder Jugendliche. Sie schmeißen nachts Scheiben ein oder zünden Autos an. Niemand hier glaubt an Zufall. Die Unruhen werden organisiert. Ab 18 Uhr ist die Polizei nicht mehr zu sehen. Andernorts ist sie dagegen sehr aktiv: Journalisten werden verprügelt, Demonstranten misshandelt, tagelang festgehalten und vergewaltigt, ganz wie früher. Tunesiens Polizei verbreitet Angst statt Sicherheit. Die tunesische Revolution droht steckenzubleiben, die Übergangsregierung redet kaum zum Volk, dafür brodelt die Gerüchteküche.
Sahbi Aloui ist besorgt.
Sahbi Aloui: "Wir sind noch in einem Prozess und warten auf das Ergebnis. Vielleicht kommen sie zurück."
Das Café, auf dessen Terrasse Redhouan Limam vor seinem Minztee sitzt, ist vier Autostunden und eine halbe Welt von Jendouba entfernt. Von seinem Platz aus sieht er die Hotelzone von Sousse, der drittgrößten tunesischen Stadt. Der Strand ist ein paar hundert Meter entfernt.
Die tunesische Revolution scheint weit weg, jeder geht seinen Geschäften nach. Nur die Avenue des 7. Novembers, so benannt nach dem Tag der Machtergreifung Ben Alis, heißt jetzt Avenue des 14. Januars, Tag der Flucht des Diktators. Redhouan Limam arbeitet im Marketing der staatlichen Telefongesellschaft TunTel. Auch er glaubt: die Revolution ist noch nicht beendet. Die Spitzel und Spione sind noch da.
Redhouan Limam: "Wir hassen sie und gleichzeitig haben wir Angst vor ihnen. Jetzt trauen sie sich kaum aus dem Haus. Wir wissen, wer die waren, die für ihre eigenen Interessen Ben Ali applaudiert haben. Jetzt sind wir stolz und die laufen mit gesenktem Kopf rum - gleichzeitig warten sie darauf, wer der nächste Präsident wird, damit sie dann zu dem gehen können."
Der 30-Jährige hat die Revolution in Sousse mitgemacht und in der Hauptstadt Tunis auch. In Sousse war sie schnell zu Ende – und nicht wenige hier trauern insgeheim dem Diktator hinterher. Schließlich haben sie dank ihm viele gute Geschäfte gemacht. Ben Ali stammt aus der Nachbarstadt Hammam Sousse.
Ben Ali: "Deswegen siehst du hier überall Hotels: Die Jungen, zu denen ich gehöre, haben eine anständige Arbeit. Und wenn jemand keine findet, dann hat er entweder jemanden in der Familie oder kennt jemanden, der helfen kann, ihm Arbeit zu vermitteln. Also, wir haben hier keine großen ökonomischen Probleme."
Die Verlierer der Revolution, sie sind hier: die Hoteliers, die Souvenirhändler, die Restaurantbesitzer.
Normalerweise ist die Lobby des Hotels Marabout zu dieser Jahreszeit voll besetzt. Jetzt plaudern hier nur ein paar Stammgäste. Das Strandhotel ist weitgehend verlassen, die Gänge leer, am Pool planschen ein paar einheimische Kinder. Diese Saison haben viele Hoteliers bereits abgeschrieben: Die Revolution hat ihren Preis – Chauffeure, Animateure, Kellner bezahlen ihn mit Arbeitslosigkeit.
Es ist bitter: Tunesien macht sich auf den Weg in die Freiheit, dafür wird das Land bestraft. Obwohl seit Januar kein einziger Tourist zu Schaden kam oder angegriffen wurde meiden die Europäer Tunesien. 15 Prozent aller Arbeitsplätze hängen am Tourismus. Die großen Reisekonzerne haben ihre Kunden umgebucht, auf die Kanaren, Bulgarien oder die Türkei.
Todor Petrov: "Irgendwann sind die anderen Destinationen auch voll. Tunesien ist mit der Türkei vergleichbar und auch mit Bulgarien teilweise, irgendwann werden die voll sein, da hoffe ich, dass es schon einige, die sich spät entscheiden, die noch nicht gebucht haben, dass sie doch nach Tunesien. Klein optimistisch bin ich schon."
Todor Petrov ist Manager des Reisekonzerns TUI in Südtunesien. Er sagt, er habe noch nie einen so drastischen Rückgang der Touristen erlebt, nicht nach dem 11. September, nicht nach dem Anschlag auf Djerba. Dabei ist er von Grund auf optimistisch – als Bulgare kennt er sich schließlich mit Umbrüchen aus.
Todor Petrov: "Die Leute hier sind eindeutig im Vorteil. Weil hier die Wirtschaft, das ist alles kapitalistisch. Die müssen eigentlich nur die Strukturen demokratisieren und ein bisschen soziale Strukturen schaffen. In Bulgarien hat man alles umbauen müssen, das war alles staatlich. Insofern sind die Leute hier im Vorteil, die werden nicht so lange brauchen, wie in Bulgarien und dem Ostblock damals."
Die Hoteliers, das sind nicht unbedingt die besten Freunde Redhouans. Die und die jungen Geschäftsleute, bei deren Geschäfte der Clan des Diktators immer mitmischte, sie fürchten um ihre Privilegien – und das könnte das neue Tunesien gefährden.
Redhouan Limam: "Für die war alles erlaubt. Auch bei den Behörden hatten sie immer Vorteile: Sie konnten Sachen zollfrei einschmuggeln, sie mussten nur mit jemandem reden. Die haben sich immer frei gefühlt, sie konnten alles machen!
Alles ist gut für mich, solange die Tunesier verstehen, dass man Opfer bringen muss, um Erfolg zu haben. Die Leute sind zu ungeduldig. Die Revolution ging vom Volk aus. Es gab keinen Che Guevara und keinen politischen Führer. Jetzt suchen viele den. Aber es gibt ihn nicht, das ist das Problem.
Viele Junge und die Leute aus dem Süden sind verunsichert und brauchen jetzt jemanden, der sie führt. Am Anfang war das einfach spontan und ungeplant. Jetzt sind wir ein bisschen verloren. Die Extremisten, die sind jetzt da, die Islamisten und die Kommunisten, das ist das Beunruhigende."
"Wir sind die Augen der Revolution", sagt Redhouan, "läuft das hier schief, gehen wir wieder auf die Straße." "Wir brauchen eine zweite Revolution". Das sagen jetzt viele – noch hinter vorgehaltener Hand. In der ersten ging es darum, Diktator Ben Ali und seinen Clan zu vertreiben. Jetzt geht es darum, die allmächtige RCD, die Spitzel und die Profiteure des Systems loszuwerden. Es wird ohne Zweifel die schwierigere Revolution für Tunesien.
Am unteren Ende des Platzes führt eine enge Straße vorbei, an der der Sitz des Ministerpräsidenten liegt. Jetzt ist dazwischen Stacheldraht, flankiert von gepanzerten Polizeifahrzeugen. An einer Ecke, von der aus eine kleine Gasse in das Gewirr der Medina leicht bergab führt, stehen die Polizisten, rauchen und warten. Heute bleibt es ruhig. Auf diesem Platz hatte das tunesische Volk den Abgang des Diktators Ben Ali erkämpft und bald darauf den Rücktritt des ersten Übergangspräsidenten.
Vor vielen öffentlichen Gebäuden der Stadt, vor Banken und in der Prachtstraße Avenue Habib Bourguiba – überall stehen die gepanzerten dunkelblauen Fahrzeuge, manchmal auch Wasserwerfer, überall liegt Stacheldraht, stehen Uniformierte Wache.
Ghazi Gherari hat sein Büro fernab der Innenstadt von Tunis. Hier gibt es weder Polizisten noch Stacheldraht. Auf einem großen Konferenztisch liegt eine Karte der Wahlbezirke Tunesiens. Gherari erklärt Details des Wahlgesetzes, das die ersten fairen Wahlen Tunesiens garantieren soll.
Er ist Sprecher einer Kommission, die die Übergangsregierung beraten und die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung vorbereiten soll. Das Wahlgesetz hat es in sich: Die Kader der Ben Ali-Partei sollen ausgeschlossen werden. In den Wahllisten muss die Hälfte der Kandidaten Frauen sein. Und den schwach bevölkerten Provinzen im Landesinneren, wo die Revolution ihren Ursprung nahm, werden Extra-Plätze eingeräumt.
Ghazi Gherari: "Das ist ein politisches, moralisches und revolutionäres Korrektiv, damit sich die Versammlung auch daran erinnert, woher die Revolution kam."
Gherari ist stolz, seine Augen leuchten, er redet schnell und wirkt hyperaktiv. Unter Ben Ali hat er sich mit Consulting-Jobs und einem Mini-Lehrauftrag als Jurist an der Uni über Wasser gehalten. Jetzt hat er seinen Job auf Eis gelegt, nur die drei Stunden an der Uni absolviert er noch. Für die Kommission arbeitet er ohne Gehalt. Ein Dienst fürs Vaterland.
Ghazi Gherari: "Stellen Sie sich vor, Sie hätten in Deutschland zu Zeiten Bismarcks gelebt. Das kann man ungefähr vergleichen, nicht die Wiedervereinigung, wir waren ja nie getrennt, aber in einem entscheidenden Augenblick nicht nur der Gründung eines demokratischen Staates beizuwohnen, sondern der Neubearbeitung des Amalgams, dass diese Nation bildet."
Im Eingang des schmucklosen Flachdach-Bürohauses herrscht viel Betrieb, alles wirkt improvisiert. Die Kommission besteht zum Großteil aus Juristen und Staatsrechtlern, viele haben unter Ben Ali nur mühsam überlebt, weil sie nicht mit dem Regime kooperieren wollten. Die deutsche Hanns-Seidel-Stiftung hat sie unterstützt. Jürgen Theres ist deren Repräsentant in Tunis. Er ist schon seit Jahren hier und hat mitgelitten. Jetzt versucht er im Hintergrund zu helfen, die Stiftung investiert, die Bundesregierung auch. Gut angelegtes Geld, findet Theres.
Jürgen Theres: "Viele Revolutionen sind daran gescheitert, dass es nach der Revolution nicht möglich war, diese Ideen wirklich umzusetzen, aber ich bin eigentlich sehr optimistisch. Denn der Großteil der Bevölkerung möchte nicht noch mal eine Diktatur erleben und ist entschlossen, dass hier demokratische Verhältnisse herrschen sollen."
Die tunesische Revolution ist nicht nur Sache der Tunesier, findet er. Sie ist auch eine der Europäer.
Jürgen Theres: "Das große Problem wird sein, die ökonomischen Probleme in den Griff zu bekommen und vor allem die hohe Arbeitslosigkeit. Es ist kaum möglich, dass das Land seine großen ökonomischen Probleme alleine bewältigen kann. Europa muss helfen, dass das Staatsbudget nicht aus dem Ruder läuft, die Staatsgehälter müssen gezahlt werden.
Man muss weiterhin versuchen, den Jugendlichen, die doch zu großen Teilen diese Revolution getragen haben, eine Perspektive zu geben, auch eine Perspektive in Bildung und vielleicht auch eine Perspektive in Europa, das ist sehr, sehr wichtig. Vor allem aber muss Europa die Investitionsbedingungen erleichtern für uns und weiterhin alle Hemmnisse, vor allem im Agrarsektor, mit Tunesien abbauen."
Jendouba ist eine der Städte im armen Hinterland von Tunesien, in denen die Revolution ihren Ausgang nahm. Hier ist auch zu besichtigen, wie sie wieder kippen könnte. In der nordwestlichen Provinz wird 80 Prozent des Getreides geerntet, gleichzeitig ist jeder Dritte arbeitslos. Algerien ist 40 Kilometer entfernt, die wohlhabenden Städte an der Küste ein paar hundert.
Mitten in der staubigen Innenstadt von Jendouba hat die Ennahda ihr Parteilokal in einem unauffälligen weißgetünchten Geschäftshaus. Gegenüber eine Tankstelle, daneben brütet ein Storchenpaar auf einem Laternenmast. Die Ennahda ist die größte islamistische Partei Tunesiens. Unter Ben Ali war sie verboten, ihre Mitglieder verfolgt. Jetzt ist sie wieder da. Noch gibt es kein richtiges Türschild, nur ein Zettel mit roter Aufschrift an der Wand im offenen Treppenhaus verweist auf das Büro.
Im Zimmer des örtlichen Parteichefs Mahmoud Balty hängen Photos junger Männer – zwei Märtyrer seien es, die die Folter von Ben Alis Schergen nicht lange überlebt hätten.
Auch Balty saß lange Jahre im Gefängnis und wurde gefoltert. Erst seit ein paar Wochen wurde der Mathematiklehrer wieder in den Beamtendienst aufgenommen.
Über 60 Parteien wollen bei den Wahlen antreten, aber kaum eine hat Chancen: Kein Programm, keine Strukturen und keine Kandidaten. Die Ennahda dagegen hat alles und sie hat den Märtyrer-Bonus: Von Ben Ali und seiner RCD verfolgt, das bringt Sympathien. Balty rechnet damit, dass in Jenduba Ennahda die Hälfte der Sitze holt.
Mahmoud Balty: "Erstens kommen alle Aktivisten der Ennahda aus dem Volk, aus den ärmeren Schichten. Zweitens: Diese Leute sind ehrlich, aufrichtig, geradeaus und streng mit ihrer Familie. Dieses Modell wünschen sich die Tunesier."
Wer Balty reden hört, der mag kaum glauben, dass die Ennahda von vielen Tunesiern als Bedrohung gesehen wird. Die Türkei sei ihr Vorbild, sagt er, und dass seine Partei das moderate, moderne Tunesien, das zwischen arabischer und europäischer Welt oszilliert, nicht verändern will.
Mahmoud Balty: "Tunesien sollte ein demokratisches Land sein. Ein gutes Modell für die arabische und die europäische Welt. Das wollen alle Tunesier. Keine Partei soll dominieren – nicht einmal Ennahda."
Erst seit dem letzten Winter ist die Partei zugelassen und hat schon überall neue Mitglieder. Wie die junge Hani Ahmadjouni. Sie promoviert und arbeitet gleichzeitig und sie trägt Kopftuch, das jetzt wieder legal ist.
Hani Ahmadjouni: "Ich sehe in Ennahda eine Stimme der Freiheit, auch wenn die anderen das bezweifeln. Sie ist für die Frauen und sie ist nicht extrem, weder links noch auf der anderen Seite. Sie ist eine moderate Partei, das hat mich an ihr beeindruckt."
Genau das glauben ihr die anderen nicht. Misstrauisch stehen liberale Tunesier der Ennahda gegenüber – sie nehmen ihren Politikern die milden Worte nicht ab. Doch in der tunesischen Provinz ist die Ennahda oft die einzige Alternative zu Kommunisten und Liberalen, die zudem schlechter organisiert sind.
Und so sitzt auch in diesem Café ein Mann von der Ennahda mit dabei. Das Café liegt etwas außerhalb der Stadt, eine Gruppe mittelalter Männer diskutiert unter Bäumen im Schatten den Stand der Dinge. Keiner hier am Tisch hat die letzten 23 Jahre an einer Wahl teilgenommen.
Doch der friedliche Eindruck an diesem Tisch unter grünen Bäumen täuscht: Ein paar Meter weiter sitzen betont unauffällig zwei Männer, sie drehen der Gruppe Diskutierender den Rücken zu.
In Jendouba kennt man sich. Und die da, sagt Sahbu Aloui, Lehrer und Gewerkschaftler, die da, sagt er und deutet auf die beiden Männer, das sind "indicateurs". So werden hier die Spitzel des Innenministeriums genannt. Sie schreiben immer noch ihre Berichte, auch nach der Revolution.
Sahbu Aloui: "Wir reden miteinander, aber wir kennen die Grenzen – und die überschreiten wir nicht. Das ist so eine Art Selbstzensur."
Sein Nachbar nickt. Abgelghani Drissi arbeitet mit beim Revolutionskomitee, das in Jendouba die Macht übernommen hat. Nach außen hin zumindest. Denn die Macht der Komitees ist begrenzt. Wie begrenzt, das zeigt sich seit ein paar Wochen. Tunesiens Bürger fühlen sich zunehmend verunsichert. Diktator Ben Ali herrschte nicht allein. Seine Macht ruhte auf dem Innenministerium und auf Geschäftsleuten, die durch ihn viel Geld verdienten. Im Innenministerium in Tunis, da ist jetzt wieder ein RCD-Mann der Chef, von der verbotenen Ex-Staatspartei. Sein Vorgänger hatte die RCD aufgelöst, RCD-Gouverneure ihres Amtes enthoben und wollte die Spitzel nach hause schicken. Dann wurde er vom Übergangspremier entlassen. Jetzt schreiben sie wieder ihre Berichte.
Abgelghani Drissi: "Es gibt auch die alten RCD-Kader, die noch genügend Geld haben, um vielleicht Strohmänner zur rekrutieren und aufzustellen. Also da müssen wir Aktivisten aufpassen."
In drei politischen Parteien haben sich RCD-Politiker neu organisiert. Doch die wirkliche Gefahr geht vom Innenministerium aus. Und das merken auch die Menschen hier in Jendouba, sagt Sahbi Aloui, der Lehrer.
Sahbi Aloui: "Zum Beispiel die Polizei. Die nimmt mittlerweile nichts mehr auf, bei Diebstählen zum Beispiel. Wenn man jetzt zur Polizei geht sagen die, 'nein, wir machen nichts, wir haben keine Anweisungen'. Das lässt die Bevölkerung in einem Gefühl der Unsicherheit, das ist vielleicht gewollt vom Staat. Er will zeigen, dass jetzt alles unsicher ist und die richtige Polizei zurück muss, die aggressiv ist und sich alles erlauben kann."
In der Innenstadt von Jendouba randalieren immer wieder Jugendliche. Sie schmeißen nachts Scheiben ein oder zünden Autos an. Niemand hier glaubt an Zufall. Die Unruhen werden organisiert. Ab 18 Uhr ist die Polizei nicht mehr zu sehen. Andernorts ist sie dagegen sehr aktiv: Journalisten werden verprügelt, Demonstranten misshandelt, tagelang festgehalten und vergewaltigt, ganz wie früher. Tunesiens Polizei verbreitet Angst statt Sicherheit. Die tunesische Revolution droht steckenzubleiben, die Übergangsregierung redet kaum zum Volk, dafür brodelt die Gerüchteküche.
Sahbi Aloui ist besorgt.
Sahbi Aloui: "Wir sind noch in einem Prozess und warten auf das Ergebnis. Vielleicht kommen sie zurück."
Das Café, auf dessen Terrasse Redhouan Limam vor seinem Minztee sitzt, ist vier Autostunden und eine halbe Welt von Jendouba entfernt. Von seinem Platz aus sieht er die Hotelzone von Sousse, der drittgrößten tunesischen Stadt. Der Strand ist ein paar hundert Meter entfernt.
Die tunesische Revolution scheint weit weg, jeder geht seinen Geschäften nach. Nur die Avenue des 7. Novembers, so benannt nach dem Tag der Machtergreifung Ben Alis, heißt jetzt Avenue des 14. Januars, Tag der Flucht des Diktators. Redhouan Limam arbeitet im Marketing der staatlichen Telefongesellschaft TunTel. Auch er glaubt: die Revolution ist noch nicht beendet. Die Spitzel und Spione sind noch da.
Redhouan Limam: "Wir hassen sie und gleichzeitig haben wir Angst vor ihnen. Jetzt trauen sie sich kaum aus dem Haus. Wir wissen, wer die waren, die für ihre eigenen Interessen Ben Ali applaudiert haben. Jetzt sind wir stolz und die laufen mit gesenktem Kopf rum - gleichzeitig warten sie darauf, wer der nächste Präsident wird, damit sie dann zu dem gehen können."
Der 30-Jährige hat die Revolution in Sousse mitgemacht und in der Hauptstadt Tunis auch. In Sousse war sie schnell zu Ende – und nicht wenige hier trauern insgeheim dem Diktator hinterher. Schließlich haben sie dank ihm viele gute Geschäfte gemacht. Ben Ali stammt aus der Nachbarstadt Hammam Sousse.
Ben Ali: "Deswegen siehst du hier überall Hotels: Die Jungen, zu denen ich gehöre, haben eine anständige Arbeit. Und wenn jemand keine findet, dann hat er entweder jemanden in der Familie oder kennt jemanden, der helfen kann, ihm Arbeit zu vermitteln. Also, wir haben hier keine großen ökonomischen Probleme."
Die Verlierer der Revolution, sie sind hier: die Hoteliers, die Souvenirhändler, die Restaurantbesitzer.
Normalerweise ist die Lobby des Hotels Marabout zu dieser Jahreszeit voll besetzt. Jetzt plaudern hier nur ein paar Stammgäste. Das Strandhotel ist weitgehend verlassen, die Gänge leer, am Pool planschen ein paar einheimische Kinder. Diese Saison haben viele Hoteliers bereits abgeschrieben: Die Revolution hat ihren Preis – Chauffeure, Animateure, Kellner bezahlen ihn mit Arbeitslosigkeit.
Es ist bitter: Tunesien macht sich auf den Weg in die Freiheit, dafür wird das Land bestraft. Obwohl seit Januar kein einziger Tourist zu Schaden kam oder angegriffen wurde meiden die Europäer Tunesien. 15 Prozent aller Arbeitsplätze hängen am Tourismus. Die großen Reisekonzerne haben ihre Kunden umgebucht, auf die Kanaren, Bulgarien oder die Türkei.
Todor Petrov: "Irgendwann sind die anderen Destinationen auch voll. Tunesien ist mit der Türkei vergleichbar und auch mit Bulgarien teilweise, irgendwann werden die voll sein, da hoffe ich, dass es schon einige, die sich spät entscheiden, die noch nicht gebucht haben, dass sie doch nach Tunesien. Klein optimistisch bin ich schon."
Todor Petrov ist Manager des Reisekonzerns TUI in Südtunesien. Er sagt, er habe noch nie einen so drastischen Rückgang der Touristen erlebt, nicht nach dem 11. September, nicht nach dem Anschlag auf Djerba. Dabei ist er von Grund auf optimistisch – als Bulgare kennt er sich schließlich mit Umbrüchen aus.
Todor Petrov: "Die Leute hier sind eindeutig im Vorteil. Weil hier die Wirtschaft, das ist alles kapitalistisch. Die müssen eigentlich nur die Strukturen demokratisieren und ein bisschen soziale Strukturen schaffen. In Bulgarien hat man alles umbauen müssen, das war alles staatlich. Insofern sind die Leute hier im Vorteil, die werden nicht so lange brauchen, wie in Bulgarien und dem Ostblock damals."
Die Hoteliers, das sind nicht unbedingt die besten Freunde Redhouans. Die und die jungen Geschäftsleute, bei deren Geschäfte der Clan des Diktators immer mitmischte, sie fürchten um ihre Privilegien – und das könnte das neue Tunesien gefährden.
Redhouan Limam: "Für die war alles erlaubt. Auch bei den Behörden hatten sie immer Vorteile: Sie konnten Sachen zollfrei einschmuggeln, sie mussten nur mit jemandem reden. Die haben sich immer frei gefühlt, sie konnten alles machen!
Alles ist gut für mich, solange die Tunesier verstehen, dass man Opfer bringen muss, um Erfolg zu haben. Die Leute sind zu ungeduldig. Die Revolution ging vom Volk aus. Es gab keinen Che Guevara und keinen politischen Führer. Jetzt suchen viele den. Aber es gibt ihn nicht, das ist das Problem.
Viele Junge und die Leute aus dem Süden sind verunsichert und brauchen jetzt jemanden, der sie führt. Am Anfang war das einfach spontan und ungeplant. Jetzt sind wir ein bisschen verloren. Die Extremisten, die sind jetzt da, die Islamisten und die Kommunisten, das ist das Beunruhigende."
"Wir sind die Augen der Revolution", sagt Redhouan, "läuft das hier schief, gehen wir wieder auf die Straße." "Wir brauchen eine zweite Revolution". Das sagen jetzt viele – noch hinter vorgehaltener Hand. In der ersten ging es darum, Diktator Ben Ali und seinen Clan zu vertreiben. Jetzt geht es darum, die allmächtige RCD, die Spitzel und die Profiteure des Systems loszuwerden. Es wird ohne Zweifel die schwierigere Revolution für Tunesien.