Die ganze Bandbreite des osteuropäischen Films

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
Seit fünf Jahren spiegelt das "Festival des mittel- und osteuropäischen Films GoEast" in Wiesbaden die gesellschaftlichen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa wieder. Zum fünften Mal präsentierte das Festival die Bandbreite des aktuellen osteuropäischen Kinos in sieben Filmsektionen und untersuchte in einem wissenschaftlichen Symposium "Identitäten in Nachwendezeiten".
Ein Klavierstimmer findet im großbürgerlichen Haushalt zweier älterer Damen die Lösung für seine wirtschaftlichen Probleme und nicht nur dafür. Nastrojscik - Der Klavierstimmer, der ukrainischen Filmemacherin Kira Muratova wurde von der internationalen Jury mit der goldenen Lilie ausgezeichnet. In 154 Minuten konstruiert der Schwarz-Weiß-Film in detaillierter Ausführlichkeit einen skurrilen Mikrokosmos – eine stellenweise trotz aller aufgesetzten Aufregung langatmige Farce über die Einsamkeit, den Traum von Geld und aufwendigem Lebensstil und die Angst vor der Einsamkeit.

Die 1934 geborene Kira Muratova, fast eine Veteranin des sowjetischen und osteuropäischen Films, war die Ausnahme in einem Wettbewerb, bei dem überwiegend die jungen und ganz jungen Filmemacher vertreten waren.

Mutter und Tochter gratulieren dem demenzkranken Vater zum Geburtstag. Für ihren Film Ono – Stranger wurde die 32-jährige polnische Filmemacherin Malgorzata Szumowska mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde. Er erzählt von einer jungen Frau, ihrer ungewollten Schwangerschaft und ihrer neuen, ungebundeneren Sicht auf die Welt. Eine Hommage an das Leben und an die Menschen, ohne dass der Film dabei in die Rhetorik ranzigen Wertkonservatismus' verfallen würde – Ono ist trotz mancher dramaturgischen Schwächen ein subtil gestricktes Drama über die Identitätssuche junger Menschen im Zeichen gesellschaftlichen Wandels.

Mal sehr still und persönlich, mal schrill und mit bunter plakativer Symbolik erzählen junge osteuropäische Filmemacher ihre Geschichten. Immer wieder wird aber auch die Vergangenheit zum zentralen Thema.

Unsere Kindheit kehrt nie zurück, es gibt keine zweite Chance. So beginnt der poetische Film Kaladan Kelgen Kyz – Die Insel der Wiedergeburt des 35-jährigen Regisseurs Rustem Abdrasov aus Kasachistan. Er erzählt in einer beeindruckenden Landschaft am Aralsee und voller faszinierender Details von der verbotenen Liebe zweier Kinder, zwischen der Tochter eines Parteifunktionärs und einem Dorfjungen. Für seinen ersten Spielfilm erhielt Rustem Abdrasov den Preis der FIPRESCI, der Internationalen Filmkritik

Rustem Abdrasov: " Ich bin natürlich als Kind im Geist der 60er Jahre aufgewachsen, also stehe ich der damaligen Zeit kritisch gegenüber – ich glaube, auch ein Künstler muss auch kritisch gegenüber dem allgemeinen Strom stehen. Ich wollte für mich diese Zeit im Film rekonstruieren, um sie auch für mich selbst im Kopf klar zu bekommen."

Dass die Aufarbeitung der Realität auch im Dokumentarfilm durchaus visuell ansprechend, mit skurrilem Humor und in einem faszinierenden Rhythmus geschehen kann, zeigt der diesjährige Dokumentarfilmpreisträger Lijepa Diana – Schöne Diana des serbischen Regisseurs Boris Mitic. In 45 Minuten erzählt er von Roma, die in den Elendvierteln von Belgrad alte schrottreife Enten in Transportfahrzeuge verwandeln, die nur noch aus Rädern, Motor und Ladeflächen bestehen. Dabei ist der Film durchaus auch ein Symbol für den gesellschaftlichen Wandel in der serbischen Hauptstadt.

Die Identität des osteuropäischen Films entwickelt sich auch aus dem Umgang mit den Brüchen und den Tabus der Vergangenheit, erklärt der polnische Dokumentarfilmer Andrzej Klamt, der in seinem Dokumentarfilm Wer bin ich – Schlesische Lebensläufe auch nach seiner eigenen deutsch-polnischen Identität im globalisierten Europa sucht:

Andrzej Klamt: "Ich denke, dass das sehr wichtig ist, dass die Europäer, dass wir alle uns mit den Identitäten auseinandersetzten und ich denke, das waren so teilweise unsere Leichen in Keller, die man eben nicht so anfassen wollte und sich mit beschäftigen wollte, eben diese doppelte, diese unsichere Identitäten, die wir alle haben und gerade durch die Verschiebungen des Zweiten Weltkrieges war das durchaus gerade in Mittel und Osteuropa. "

Andrzej Klamt nahm mit seinem Film an dem dreitägigen Symposium des Festivals teil: "Identitäten in Nachwendezeiten – neue Tendenzen im aktuellen Film Polens und der baltischen Staaten." Neben dem polnischen, dem lettischen, litauischen und estnischem Film ging es auch um den Identitätswandel und die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in den neuen Bundesländern. Für den Filmhistoriker Ralf Schenk liegt ein großer Unterschied darin, dass die Geschichte der DDR niemals von den erfahrenen Filmemachern aus der ehemaligen DDR erzählt wurde, die nie den Weg in das westdeutsche Filmförderungssystem fanden:

Ralf Schenk: "Es gibt dagegen eine ganze Reihe von westdeutschen Regisseuren, auch bekannten, wie Margarete von Trotta, Schlöndorff, Helma Sandes Brahms, die über die DDR, die Wendezeit, Spielfilme gedreht haben, an diesen Filmen halte ich sehr, sehr vieles für falsch, sowohl was das große Ganze, als was auch einzelne Details betrifft und ich denke, das diese oftmals sehr kritischen Filme, dass diese Filme vielleicht vor allem deswegen entstanden sind, weil sich diese "Linken" oder ehemals linken westdeutschen Regisseure doch von ihrer eigenen Vergangenheit mit diesen Filmen lossagen wollten, also, dass sie eigentlich mit sich selbst mehr abrechnen als mit der DDR."

Einer der prominentesten Gäste des Festivals war die deutsche Schauspielerin Hanna Schygulla. 1943 im oberschlesischen Katowice geborene, wurde sie besonders durch die Filme Rainer Werner Fassbinders das Gesicht des deutschen Films im Ausland. Dabei arbeitete sie auch für bedeutende Regisseure des osteuropäischen Films wie den polnischen Regisseur Andrej Wajda und den ungarischen Regisseur Bela Tarr:

Hanna Schygulla: "Also im Wajda-Film habe ich eine Deutsche gespielt, in dem Bela Tarr-Film war ich eine Ungarin. Ich hab ja sowieso so eine Anziehung in alle Himmelsrichtungen, für alles Fremde, in alle Himmelrichtungen, aber speziell nach Süden und Osten würde ich sagen. "

Hanna Schygulla sieht heute nicht nur im deutschen Film eine neue Generation, die die Traumata der Vergangenheit nicht vergessen, und über die Faszination des reinen Unterhaltungsfilm zu einer ganz neuen Qualität gefunden hat.

Hanna Schygulla: " Ich finde, dass die junge Schauspielergeneration auch so... Die spielen sehr gut alle. Die spielen so, dass sie sich als Schauspieler überhaupt nicht aufdrängen, das finde ich eigentlich sehr angenehm. Manche Filme sind auch vom Filmischen her angenehm unambitioniert, das finde ich auch was schönes neues, dass die sich nicht mehr so unbedingt als Künstler zeigen wollen, sondern dass es ihnen darum geht, auf der Suche zu sein, wo könnte man da denn anknüpfen an dem, was war, und was könnten denn auch die neuen Werte werden, was wollen wir, sollen wir alles auch so weiter laufen lassen?

Also das mit der Spaßgesellschaft hat sich also ein bisschen ausgetobt und es ist doch wieder so, weil eben auch die Jungen in der dringlichen Lage sind, sich Gedanken drüber zu machen, wo denn ihr Platz überhaupt ist, ist ja alles nicht mehr so einfach... "
Filmszene aus "Schöne Diana" von Boris Mitic
Filmszene aus "Schöne Diana" von Boris Mitic© GoEast Filmfestival