Die ganze Welt als Wunderkammer

Von Jochen Stöckmann |
Der 1962 in Mexiko geborene Künstler Gabriel Orozco wird in diesem Jahr mit dem blueOrange Kunstpreis ausgezeichnet. Sein Schaffen umfasst skulpturale Arbeiten, Installationen und Fotografie, die er häufig aus gefundenen Alltagsgegenständen oder -situationen entwickelt. Integraler Teil des blueOrange ist eine Ausstellung des Preisträgers in einer renommierten deutschen Kulturinstitution, diesmal im Kölner Museum Ludwig.
Durch Modifizierung oder Veränderung des Kontextes schafft er aus diesen oft "armen" Materialien und Situationen neue, teils wundersame, teils verstörende Arbeiten. Die Kunst Gabriel Orozcos ist nicht nur von seinen vielfachen Reisen, sondern auch von seinem großen lyrischen, philosophischen und politischen Interesse geprägt. Seine Mittel sind leise, aber pointiert. Nach Francis Alÿs (2004) ist Gabriel Orozco der zweite Preisträger des mit 77.000 Euro dotierten und von den Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken ausgelobten blueOrange. Den mit 7.000 Euro dotierten Nachwuchspreis überreicht Gabriel Orozco anlässlich der Ausstellungseröffnung an den französischen Künstler Emmanuel Van der Meulen (*1972). Integraler Teil des blueOrange ist eine Ausstellung des Preisträgers in einer renommierten deutschen Kulturinstitution, diesmal im Kölner Museum Ludwig.


Wie Kacheln sind im Museum Ludwig jeweils 168 quadratische Kompositionen an den haushohen Wänden des DC-Saales angebracht. Die Muster scheinen ähnlich, fast identisch: Aus einem Nukleus kleiner Kreise, sauber durchschnitten von einem Fadenkreuz, wirbeln immer größere Kreissegmente heraus. Jedes dieser abstrakt geometrischen Einzelmotive scheint zu explodieren, bei längerem Hinsehen beginnen die weißen Museumswände förmlich zu vibrieren. Typisch Gabriel Orozco: Einfache Mittel, große Wirkung. Der Meinung ist auch die Kuratorin, Paola Malavassi:

"Es sind einfache Regeln, und doch entsteht ein Werk von höchster Komplexität. Von der Mitte aus ein Kreis, der wird von einer vertikalen und einer horizontalen Achse geteilt. Von dort aus wächst die gesamte Komposition, eben wie Äste eines Baumes. Wir haben vier Farben, rot, blau, gelb und weiß. Und die wandern von diesem Kreis in der Mitte wie der Springer im Schach."

Zum Schachspiel als heimlicher Leidenschaft des mexikanischen Künstlers später mehr. Erst einmal gilt es, den Titel dieser preisgekrönten, mit dem BlueOrange Award ausgezeichneten Arbeit zu erklären – "Samurai’s Tree Invariant". Der Baum darf fast schon als Orozcos Wappen gelten, so verästelt und vielerlei Stilrichtungen auseinanderstrebend stellt sich sein Werk mit Fotografie und Skulptur, Interventionen im städtischen Raum und Museumsinstallationen dar. Aber "Samurai", was hat dieser japanische Kriegerkaste und ihr meisterhaftes strategisches Denken mit der zeitgenössischen Kunst zu tun?

"Für den Samurai gilt die Regel, dass er vor jedem Krieg, vor jeder Aktion dreißig Tage darüber nachdenkt, was er tun wird."

Insbesondere in der Malerei, so betont Orozco, kann eine falsche Entscheidung, ein schlecht gesetzter Pinselstrich das ganze Bild verderben. Er favorisiert deshalb das Samurai-Prinzip: Lange nachdenken, eine Entscheidung fällen – und dann konsequent diesem Weg folgen. So entstand für die Kölner Arbeit ein einziger grundlegender Entwurf von Hand, alle weiteren Permutationen wurden im Rechner entworfen und dann auch per Computer ausgedruckt. Das hört sich nach Konzeptkunst an, soll aber – wie stets bei Orozco – vielschichtiger wirken, soll womöglich die Leere vor der Entscheidung ins Bild setzen:

"”Diese Art im Malen zu denken beeinflusst meine ganze Kunst. Schön, dass es ich es hier zeigen kann: als reines Denken, aber leicht verrückt. Wie digital erfahrenes Denken – schwer zu beschreiben.""

Dass es nicht darum geht, Ideen oder gar das Denken an sich anschaulich zu illustrieren, beweist Orozco mit seiner Vergabe des Förderpreises an Emmanuel Van der Meulen, geboren 1972 in Paris:

"Ein intelligenter Kopf, er malt. Viele waren überrascht, dass ich einen abstrakten Maler fördere – denn oberflächlich betrachtet ähneln seine Bilder vielen anderen. Aber ich kenne seine Art zu denken."

Orozco selbst könnte man dagegen als Multitalent bezeichnen, ja, als Hansdampf. Nichts, was er nicht schon gestemmt hätte: Ein funktionierendes Riesenrad zur Hälfte in der Erde versenkt, eine Plastillinkugel von 70 Kilo als "Yielding Stone", als biegsamen Stein durch New York gerollt – nicht zu reden von Foto-Serien und Installationen mit banalen Fundstücken wie Joghurtbechern. Fast überall ist der Mexikaner dabei – aber kaum jemand erkennt seine Arbeiten auf Anhieb als typischen Orozco:

"”Mit jeder Arbeit ändere ich die Technik, nur so kann ich jedes Thema auch adäquat ausdrücken. Hätte ich ein Markenzeichen, einen eindeutigen Stil, wäre der Weg festgelegt. Davon kann man sich am Ende nicht mehr lösen – und es langweilt die Leute.""

Orozco dagegen setzt auf Unterhaltung, etwa mit einem ovalen Billardtisch. Oder mit seinem Theatercoup von 1993, als er – damals ganz Bildhauer – einen Citroen DS entlang der Stromlinie im Längsschnitt durchtrennte, in der Mitte ein Drittel entnahm und die Design-Ikone dann wieder nahtlos zusammenfügte. Noch schnittiger, noch dynamischer, zwar nicht mehr funktionstüchtig, aber ästhetisch perfekt. Das musste sein, denn:

"Jedes Material ist bereits symbolisch, sogar eine weiße Leinwand oder ein Marmorblock. Ich muss die Objekte also reinigen, entleeren – das können Autos sein wie der Citroen DS oder ein Riesenrad. Diesen Dingen gebe ich eine neue Bedeutung, eine universelle Bedeutung. Das dränge ich aber niemandem auf, ebensowenig wie mein Mexikanischsein, meine Männlichkeit oder was immer meine Identität ist. Daran bin ich nicht interessiert."

Stattdessen versteht sich Orozco darauf, die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit für seine allen zugängliche Wunderkammer zu nutzen. Seine jüngsten Computerdrucke haben unübersehbar – und paradoxerweise – eine barocke Note. Und einen Totenkopf legte er 1997 auf der documenta X in die Ausstellungsvitrine. Überzogen war der nackte Schädel mit einem verzerrten Schachbrettmuster, als leicht kalauernde Antwort auf das ewige Thema Leben und Tod, life and death:

"Leben und Schach! … Ich mag das nicht erzählerisch, literarisch darstellen, wenn es um Leben und Tod geht. Auch sonst konfrontiere ich lieber Widersprüche: leer und voll, außen und innen, privat und öffentlich, Leben und Tod."

Service: Die Arbeiten von Gabriel Orozco sind vom 3. November 2006 bis zum 28. Januar 2007 im Museum Ludwig in Köln zu sehen.