"Die ganze Wüste ist wie ein riesiges Lager des Vergangenen"

Patricio Guzman im Gespräch mit Britta Bürger |
"Wenn man nicht mit der Vergangenheit arbeitet, gibt es auch keine Chance für die Zukunft", sagt der chilenische Dokumentarfilmer Patricio Guzman. Mit seinem Film "Nostalgia de la Luz" will der 69-Jährige erneut Licht in das Dunkel der Vergangenheit Chiles bringen.
Britta Bürger: Wolfgang Martin Hamdorf über den essayistischen Dokumentarfilm "Nostalgia de la Luz" des Chilenen Patricio Guzman. Gerade hat er dafür in Tallinn den europäischen Filmpreis bekommen als bester Dokumentarfilm.
Während also weltweit führende Astronomen in der chilenischen Attacama-Wüste das Weltall erforschen, graben nicht weit davon entfernt Frauen mit bloßen Händen nach den Knochen ihrer ermordeten Angehörigen.
Ich habe Patricio Guzman gefragt, wie er auf diese irritierende Parallele gekommen ist.

Patricio Guzman: Die Atacama-Wüste fasziniert mich schon seit meiner Jugendzeit. Ich kannte auch die Geschichte von den Frauen, die in der Wüste nach ihren Angehörigen suchen. Das Besondere ist, dass es da gleichzeitig diese großen Observatorien gibt – und diese beiden Sachen zusammenzubringen, das hielt ich für ein hervorragendes Thema für einen Dokumentarfilm. Die Atacama-Wüste ist ja ein ganz trockenes Gebiet, es gibt überhaupt keine Feuchtigkeit. Das heißt, das alles, was dort ist, erhalten bleibt, konserviert bleibt. Dort liegen Bergarbeiter aus dem 19. Jahrhundert, es gibt 1000 Jahre alte Mumien, es gibt Skelette von Dinosauriern, archäologische Funde, und es gibt die Frauen, die dort nach ihren Angehörigen suchen. Die ganze Wüste ist wie ein riesiges Lager des Vergangenen. Und mit diesen Elementen war es nicht so schwierig, die Metaphern für diesen Film zu finden.

Bürger: Eine der Frauen, die in der Wüste nach den Überresten ihrer Angehörigen sucht, die sagte in dem Film, sie wünschte, die Teleskope könnten nicht nur den Himmel betrachten, sondern auch die Erde durchdringen. Werden diese Frauen von der chilenischen Gesellschaft verstanden?

Guzman: Leider fühlen sich diese Frauen sehr isoliert. Sie werden von keinem unterstützt. Es gibt keinen Richter, der mit ihnen zusammenarbeitet. Sie werden von niemandem verstanden. Es gibt eigentlich niemand, der sich um sie kümmert. Heute sind in Chile etwa 40 Prozent der Verbrechen, der Verletzungen der Menschenrechte abgeurteilt von chilenischen Gerichten, doch das geschah nur durch die ehrliche Arbeit von Frauen, Bürgern, Anwälten und freiwilligen Organisationen, aber überhaupt nicht durch die Arbeit von chilenischen Politikern – und es fehlen immer noch 60 Prozent.

Bürger: "Ein Land ohne dokumentierte Geschichte ist wie eine Familie ohne Familienfoto." Dieser Satz steht auf der Startseite Ihrer Homepage – inwieweit steht dieser Satz auch für diesen Film?

Guzman: Das ist völlig richtig, auch für diesen Film. Wenn man nicht mit der Vergangenheit arbeitet, gibt es auch keine Chance für die Zukunft. Die beständige Auseinandersetzung damit ist genau die Hoffnung für eine bessere Zukunft.

Bürger: Sie verbinden in diesem Film die Interviews mit Astronomen, Archäologen und den Frauen, die nach ihren Angehörigen suchen, mit einer sehr ruhigen Betrachtung der Observatorien, dieser hoch modernen Technik, und daneben zeigen Sie in beinahe in meditativen Bildern die Wüste und den Sternenhimmel. Wie haben Sie diese unglaublichen Himmelsbilder eingefangen? Standen Sie da wirklich mit Ihrer Kamera in der Wüste oder sind das am Computer entwickelte Bilder?

Guzman: Nein, das sind fast alles wirkliche Bilder. Am Beginn des Films gibt es zum Beispiel diesen Staub, der Sternenstaub sein kann. Den haben wir so gemacht, dass wir Staub in einem alten verlassenen Observatorium mit den Händen aufgehoben haben, und es gab dann einen Sonnenstrahl wie in einer Kathedrale. Das haben wir gefilmt – wie wir den Staub gegen diesen Lichtstrahl geworfen haben. Das wurde dann der Anfang des Films. Die Bilder, die man von der Milchstraße sieht, die so beeindruckend sind, die hat ein Astrofotograf gemacht. Der geht nachts raus und macht lange Belichtungen, die ganze Nacht lang. Am Ende montiert er seine Aufnahmen zusammen, sodass der Eindruck der Bewegung entsteht. Es sind also reale Bilder – die Milchstraße ist genau so, wie sie im Film zu sehen ist.

Bürger: Besonders beeindruckend sind es eben die Nachtaufnahmen. Anscheinend ist es überhaupt nicht dunkel in der Wüste, so sehr leuchtet die Milchstraße. Wie haben Sie selbst diese Nächte erlebt?

Guzman: Die Milchstraße in der Atacama-Wüste zu beobachten, ist ein Ereignis, das man mit nichts vergleichen kann. Wenn man ausgestreckt auf dem Boden liegt und zum Himmel blickt, bekommt man fast Angst, so stark ist dieses Erlebnis. Wenn man da liegt und das beobachtet und sich alles langsam bewegt, hat man den Eindruck, dass das ein großer zusammenhängender Körper ist. Man sieht die Satelliten, man sieht die Sternschnuppen, das ist unvergesslich – und man hat den Eindruck von etwas ganz Außergewöhnlichem.

Bürger: Man könnte sagen, Sie versuchen seit Jahren, mit Ihren Filmen Licht in das Dunkel der Vergangenheit Chiles zu bringen, dabei hat man Sie bislang vor allem als politischen Dokumentaristen wahrgenommen, der Filme über Allende, Pinochet und die Unidad Popular gedreht hat. Warum war es für Sie notwendig, Herr Guzman, Ihr politisches Lebensthema mal in einer ganz anderen Form zu behandeln, mit einer sehr poetischen, philosophischen Erzählweise?

Guzman: Ich weiß es nicht. Als Künstler verändert man sich im Laufe seines Filmwerks. Warum ich auf diese Ausdrucksform gekommen bin, kann ich gar nicht so genau sagen. Aber diese Veränderung ist mir wohl bewusst. Ich denke, da habe ich eine Tür aufgemacht, die ich auch im nächsten Film nicht wieder zumachen werde. Es interessiert mich sehr, in diese Richtung weiterzugehen.

Bürger: Sie haben in Chile vor 15 Jahren das Dokumentarfilm-Festival in Santiago gegründet und viel dafür getan, dass das Genre wieder auflebt, nachdem – Sie haben es schon angedeutet – unter Pinochet fast 20 Jahre lang gar keine Dokumentarfilme zu sehen waren. Aber wie ist das heute? Braucht der Dokumentarfilm generell neue ästhetische Impulse, neue Sichtweisen auf die Vergangenheit?

Guzman: Meiner Meinung nach muss man neue filmische Methoden suchen. Es geht darum, das Pädagogische aufzugeben. Da, wo es möglich ist, sollte man immer versuchen, das journalistische Interview in eine filmische Sequenz zu verwandeln. Das sind genau die Probleme, die wir in Chile hatten. Das war ein Grund, warum wir dieses Festival gegründet haben, weil uns das automatisch in Kontakt mit vielen europäischen Filmemachern und Filmen gebracht hat, die die filmische Sprache schon sehr viel weiterentwickelt hatten. Das hat in der Folge dazu geführt, dass wir heute sagen können, es gibt in Chile ungefähr 30 Dokumentarfilmer, von denen sechs bis acht das gleiche Thema bearbeiten wie ich – nämlich die Vergangenheit und die Erinnerungsarbeit.
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