Die Geduld der Menschen ist zu Ende
Menschen aus allen Schichten, Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder gehen in Syrien friedlich auf die Straße. Sie demonstrieren gegen ihr Regime, das Milliarden aus dem Land geschmuggelt hat, für ihre Armut verantwortlich ist und sie gängelt. Etliche wurden brutal erschossen.
Susanne Führer: Viele halten es ja nahezu für ein Wunder, dass die Protestwelle in der arabischen Welt sogar auf Syrien übergreift, denn Syrien gilt seit Jahrzehnten als ein wirklich unbarmherziger Polizeistaat. Aber in der Stadt Daraa, im Süden Syriens, soll es auch heute wieder zu Demonstrationen gegen das Regime von Präsident Assad gekommen sein – bis zu 20.000 Teilnehmer werden berichtet. Gestern wurden in Daraa nämlich Demonstranten erschossen, die Angaben über die Zahl der Opfer gehen auseinander, einige Quellen sprechen sogar von 100 Toten, und dagegen soll es heute eben Demonstrationen geben.
Der Schriftsteller Rafik Schami ist vor über 40 Jahren aus Syrien geflohen. Er lebt seitdem in Deutschland, aber er verfolgt die Ereignisse in seiner Heimat ganz genau. Schönen guten Tag, Herr Schami!
Rafik Schami: Guten Tag!
Führer: Was sind Ihre Informationen? Haben Sie Informationen über die Ereignisse heute und gestern in Syrien?
Schami: Ja. Die Informationen sind sehr traurig, dass Leute, die in der Moschee sind, überfallen wurden. Die sind unbewaffnet, mit leeren Händen, da stand ein Menschenring um die Moschee, um das zu verhindern, dass es zu Zusammenstößen kommt. Der Strom wurde abgeschaltet und die Soldaten stürmten. Und die töteten Menschen mit Direktschüssen und an erster Stelle einen Arzt, das ist unglaublich, also einen Arzt sowie ein Kind sowie einen Soldaten, der sich geweigert hat zu schießen, haben sie ihn erschossen.
Die Zahlen, wie Sie sagten vorhin, schwanken zwischen offiziell 25 und inoffiziell 100, aber jeder Einzelne ist ein brutaler Akt gegen die Menschlichkeit. Es ist ein Wortbruch, dass man protestieren darf. Das hat ihnen der Geheimdienstchef, der Gesandte von Assad, zugesichert. Solange sie nicht zum Sturz des Regimes rufen, dürfen sie. Und die haben kein Wort über das Stürzen oder über den Präsidenten fällt kein Wort des Rassismus oder gegen die Aleviten oder irgendwas, sondern wirklich gegen die Korruption und gegen die Demütigung haben sie protestiert.
Führer: Welche Menschen protestieren da?
Schami: Erstaunlicherweise Menschen, die mich wirklich überrascht haben, angenehm überrascht haben, sehr überrascht haben, mich und alle Parteien und alle Intellektuellen: Es sind Menschen aus allen Schichten, zum großen Teil Jugendliche, aber auch alte Menschen und Kinder. Alle kommen ohne jetzt intellektuelle Führung oder Parteiführung. Die haben die Parteien hinter sich gelassen, weil der Schmerz so groß geworden ist, die Demütigung so groß geworden ist, dass sie auf die Straße gingen.
Das heißt, hier entsteht etwas, was wir immer gelesen haben und davon geträumt haben, diese spontane Erhebung eines Volkes, ohne Führer, ohne Parteien im Untergrund, ohne bewaffnet zu sein, mit bloßen Händen, und Rufe, die wirklich Achtung verdienen: "Friedlich, friedlich!", also "Selmey, selmey!", haben sie gerufen. "Heute gibt's gar keine Angst mehr, heute haben wir keine Angst mehr, und nieder mit den Korrupten." Und ich hab immer wieder in Interviews darauf hingewiesen, dass in Daraa drei Gebäude in Brand gesteckt wurden. Und das sind Symbole, wissen Sie? Das Justizhaus …
Führer: Also Symbole des Regimes.
Schami: Symbole des Regimes, ohne einen einzigen Fehler dabei zu begehen oder in die Falle von Konfessionalismus oder von Rassismus oder von Antisemitismus… - überhaupt nicht. Dann die Zentrale der Baath-Partei und die Firma des Cousins des Präsidenten, des korruptesten Mann im Land.
Können Sie sich vorstellen als Deutscher, dass die ganze Telekommunikation einem Mann geschenkt wurde, dem Cousin des Präsidenten? Statt hier die Kassen der T-Online bei uns zu füllen, alle Handys gehören einem Mann in diesem Land. Und diese drei Gebäude wurde in Brand gesteckt.
Führer: Herr Schami, Sie haben jetzt mehrfach von Demütigungen gesprochen. Welche Demütigungen meinen Sie, gegen die die Menschen jetzt rebellieren?
Schami: Ja, diese Menschen wissen alle, alle, dass es 15 Geheimdienste im Land sind, die nicht etwa, um das Land militärisch zu schützen gegen einen Angriff von außen, sondern 15 sehr, sehr brutale Geheimdienste gegen das Volk gerichtet sind. Diese Menschen wissen, dass sie in getarntem Wohlstand leben. Nämlich jeder Syrer schickt Geld, ich an erster Stelle auch, an seine Familie – das sind Nettogelder, die da reinkommen – und die Misere von 20 Prozent Arbeitslosigkeit zudecken, zukleistern.
Syrien sieht nach außen so fast ja im Wohlstand, das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr. Und irgendwann mal bekommt diese Decke Risse, wissen Sie? Irgendwann mal ist die Geduld zu Ende und das Schweigen erreicht eine Mauer, da geht es nicht mehr mit dem Schweigen. Gelder zu bekommen aus Kanada, Amerika, Saudi-Arabien oder Deutschland von Migrantensöhnen, bedeutet nicht, dass man seine Armut vergessen hat, nicht wahr?
Führer: Und bedeutet aber auch wieder eine Demütigung.
Schami: Natürlich. Man weiß selber, als Vater zum Beispiel, wie ein Onkel von mir, der lebt von zwei Kindern, die in Saudi-Arabien arbeiten, zwei Söhne. Das heißt, er weiß genau, er hat es nicht geschafft in seinem Leben, anständig zu leben. Er arbeitete alle seine Jahre für die Katz, weil irgendjemand Milliarden aus dem Land schmuggelt.
Das kann nicht gut gehen, wenn in Ägypten oder in Libyen oder in Syrien hundert Milliarden – hören Sie die Zahl? - also ich kann mir diese Zahl kaum noch vorstellen – aus dem Land, aus einem Dritte-Welt-Land ins Ausland geschmuggelt werden. Und dann bittet man heuchlerisch um eine Entwicklungshilfe von zehn Millionen für ein Frauenprojekt oder für eine Kinderschule. Das ist nicht normal, und das ist demütigend.
Führer: Das sagt der deutsch-syrische Schriftsteller Rafik Schami über die Situation in seinem Heimatland. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Schami!
Schami: Ich danke Ihnen auch!
Führer: In Syrien gehen also trotz starker Polizei-, Militärmaßnahmen die Demonstrationen gegen das Regime weiter.
Der Schriftsteller Rafik Schami ist vor über 40 Jahren aus Syrien geflohen. Er lebt seitdem in Deutschland, aber er verfolgt die Ereignisse in seiner Heimat ganz genau. Schönen guten Tag, Herr Schami!
Rafik Schami: Guten Tag!
Führer: Was sind Ihre Informationen? Haben Sie Informationen über die Ereignisse heute und gestern in Syrien?
Schami: Ja. Die Informationen sind sehr traurig, dass Leute, die in der Moschee sind, überfallen wurden. Die sind unbewaffnet, mit leeren Händen, da stand ein Menschenring um die Moschee, um das zu verhindern, dass es zu Zusammenstößen kommt. Der Strom wurde abgeschaltet und die Soldaten stürmten. Und die töteten Menschen mit Direktschüssen und an erster Stelle einen Arzt, das ist unglaublich, also einen Arzt sowie ein Kind sowie einen Soldaten, der sich geweigert hat zu schießen, haben sie ihn erschossen.
Die Zahlen, wie Sie sagten vorhin, schwanken zwischen offiziell 25 und inoffiziell 100, aber jeder Einzelne ist ein brutaler Akt gegen die Menschlichkeit. Es ist ein Wortbruch, dass man protestieren darf. Das hat ihnen der Geheimdienstchef, der Gesandte von Assad, zugesichert. Solange sie nicht zum Sturz des Regimes rufen, dürfen sie. Und die haben kein Wort über das Stürzen oder über den Präsidenten fällt kein Wort des Rassismus oder gegen die Aleviten oder irgendwas, sondern wirklich gegen die Korruption und gegen die Demütigung haben sie protestiert.
Führer: Welche Menschen protestieren da?
Schami: Erstaunlicherweise Menschen, die mich wirklich überrascht haben, angenehm überrascht haben, sehr überrascht haben, mich und alle Parteien und alle Intellektuellen: Es sind Menschen aus allen Schichten, zum großen Teil Jugendliche, aber auch alte Menschen und Kinder. Alle kommen ohne jetzt intellektuelle Führung oder Parteiführung. Die haben die Parteien hinter sich gelassen, weil der Schmerz so groß geworden ist, die Demütigung so groß geworden ist, dass sie auf die Straße gingen.
Das heißt, hier entsteht etwas, was wir immer gelesen haben und davon geträumt haben, diese spontane Erhebung eines Volkes, ohne Führer, ohne Parteien im Untergrund, ohne bewaffnet zu sein, mit bloßen Händen, und Rufe, die wirklich Achtung verdienen: "Friedlich, friedlich!", also "Selmey, selmey!", haben sie gerufen. "Heute gibt's gar keine Angst mehr, heute haben wir keine Angst mehr, und nieder mit den Korrupten." Und ich hab immer wieder in Interviews darauf hingewiesen, dass in Daraa drei Gebäude in Brand gesteckt wurden. Und das sind Symbole, wissen Sie? Das Justizhaus …
Führer: Also Symbole des Regimes.
Schami: Symbole des Regimes, ohne einen einzigen Fehler dabei zu begehen oder in die Falle von Konfessionalismus oder von Rassismus oder von Antisemitismus… - überhaupt nicht. Dann die Zentrale der Baath-Partei und die Firma des Cousins des Präsidenten, des korruptesten Mann im Land.
Können Sie sich vorstellen als Deutscher, dass die ganze Telekommunikation einem Mann geschenkt wurde, dem Cousin des Präsidenten? Statt hier die Kassen der T-Online bei uns zu füllen, alle Handys gehören einem Mann in diesem Land. Und diese drei Gebäude wurde in Brand gesteckt.
Führer: Herr Schami, Sie haben jetzt mehrfach von Demütigungen gesprochen. Welche Demütigungen meinen Sie, gegen die die Menschen jetzt rebellieren?
Schami: Ja, diese Menschen wissen alle, alle, dass es 15 Geheimdienste im Land sind, die nicht etwa, um das Land militärisch zu schützen gegen einen Angriff von außen, sondern 15 sehr, sehr brutale Geheimdienste gegen das Volk gerichtet sind. Diese Menschen wissen, dass sie in getarntem Wohlstand leben. Nämlich jeder Syrer schickt Geld, ich an erster Stelle auch, an seine Familie – das sind Nettogelder, die da reinkommen – und die Misere von 20 Prozent Arbeitslosigkeit zudecken, zukleistern.
Syrien sieht nach außen so fast ja im Wohlstand, das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr. Und irgendwann mal bekommt diese Decke Risse, wissen Sie? Irgendwann mal ist die Geduld zu Ende und das Schweigen erreicht eine Mauer, da geht es nicht mehr mit dem Schweigen. Gelder zu bekommen aus Kanada, Amerika, Saudi-Arabien oder Deutschland von Migrantensöhnen, bedeutet nicht, dass man seine Armut vergessen hat, nicht wahr?
Führer: Und bedeutet aber auch wieder eine Demütigung.
Schami: Natürlich. Man weiß selber, als Vater zum Beispiel, wie ein Onkel von mir, der lebt von zwei Kindern, die in Saudi-Arabien arbeiten, zwei Söhne. Das heißt, er weiß genau, er hat es nicht geschafft in seinem Leben, anständig zu leben. Er arbeitete alle seine Jahre für die Katz, weil irgendjemand Milliarden aus dem Land schmuggelt.
Das kann nicht gut gehen, wenn in Ägypten oder in Libyen oder in Syrien hundert Milliarden – hören Sie die Zahl? - also ich kann mir diese Zahl kaum noch vorstellen – aus dem Land, aus einem Dritte-Welt-Land ins Ausland geschmuggelt werden. Und dann bittet man heuchlerisch um eine Entwicklungshilfe von zehn Millionen für ein Frauenprojekt oder für eine Kinderschule. Das ist nicht normal, und das ist demütigend.
Führer: Das sagt der deutsch-syrische Schriftsteller Rafik Schami über die Situation in seinem Heimatland. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Schami!
Schami: Ich danke Ihnen auch!
Führer: In Syrien gehen also trotz starker Polizei-, Militärmaßnahmen die Demonstrationen gegen das Regime weiter.