Die gemalte Katastrophe
Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki habe sich eine Strömung zeitgenössischer japanischer Kunst entwickelt, die sich thematisch auf subtile Art und Weise mit Bedrohungsszenarien beschäftigt, sagt Andreas Platthaus.
Ulrike Timm: Es mag zynisch klingen, aber gerade in der japanischen Kunst gibt es Zeichnungen, Filme, Comics, ja Comics, japanische Mangas zur Apokalypse. Wenn man heute sagt, wir reden über die Katastrophe in der Kunst, dann kann man schwer danebenliegen, schwierig auch, in dieser Lage Feuilleton zu machen. Die Geschichten des Infernos in der Kunst oder das Atomkraftwerk in der Malerei bloß nicht, das wäre mächtig zynisch, völlig daneben, aber eben in Japan gibt es künstlerischen Ausdruck von Katastrophen, der vorausnimmt, was wir heute erleben oder auch was wir nicht mehr zu erleben hoffen. Wir hoffen ja alle noch, dass es halbwegs glimpflich ausgeht in Fukushima. Andreas Platthaus ist jetzt mein Gesprächspartner. Er ist stellvertretender Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Schönen guten Tag, Herr Platthaus!
Andreas Platthaus: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Auch bei Ihnen steht wahrscheinlich jeder, der jetzt über japanische Mangas, über japanische Comic spricht, erst mal unter Zynismusverdacht, oder?
Platthaus: Nicht unbedingt. Erfreulicherweise hat sich ja doch am allgemeinen Bild, das man über Comics hat, ein bisschen insofern gewandelt, dass man mittlerweile verstanden hat - das ist natürlich ein Verdienst des Begriffs Graphic Novel -, dass man durchaus ernsthaft mit Comics agieren kann, dass man sehr ernste Geschichten erzählen kann, dass man auch dokumentarisch erzählen kann. Und Manga sind in den letzten Jahren in Deutschland sehr populär geworden, haben dementsprechend viele Leser, und mittlerweile sind eben auch die sehr anspruchsvollen Manga aus Japan in Deutschland angekommen. Und dementsprechend weiß man, dass darin Themen auf eine Art und Weise verhandelt werden können, wie es genauso auch von großer Literatur zu leisten ist. Darum hab ich zumindest in der Redaktion keine allzu großen Probleme gehabt, als ich jetzt beispielsweise einen Artikel darüber geschrieben habe.
Timm: Gibt es denn tatsächlich Kunst aus Japan, die zeigt, was man sich noch nicht vorstellen kann?
Platthaus: Das ist schwierig zu sagen. Natürlich zeigt Kunst eigentlich auch nur das, was sich Menschen vorstellen können, und dass es letztlich natürlich in Japan vor einem anderen Hintergrund erfolgt als bei uns, denn Japan hat tatsächlich die trotz Tschernobyl größte atomare Katastrophe bislang in der Menschheitsgeschichte erlebt, die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki waren nun doch noch schlimmer und vor allem noch viel gravierender in den Auswirkungen, als es das von der Strahlung her viel schlimmere Unglück in Tschernobyl gewesen ist. Und auf diesen Erfahrungen des Jahres 1945 beruht eine ganze Strömung zeitgenössischer japanischer Kultur und Kunst, die sich jetzt weniger daran abmüht, Bilder dafür zu finden, die das thematisch sehr stark aufnimmt. In Filmen, in Bildern, also Malerei, in Comics, in der Literatur, und die auf eine sehr subtile Art und Weise dieses Bedrohungsszenario, was das Land seitdem empfunden hat, immer wieder aufnimmt. Da können wir von Haruki Murakami in der Literatur bis eben in die Comics beispielsweise bei Keiji Nakazawa gehen, das ist ein durchgehender Zug in der japanischen Kunst.
Timm: Lassen Sie uns beim zeichnerischen Ausdruck mal bleiben, Herr Platthaus. Der Manga ist ja der japanische Comic, die spezielle japanische Form des Comics, und der Manga muss überhaupt nicht lustig sein. Welche Bilder findet man denn im Manga für den Ausdruck von Apokalypse, zum Beispiel für das Geschehen in Hiroshima, wenn es das gibt?
Platthaus: Das gibt es in der Tat, und das ist auch eines der bemerkenswertesten Comicwerke, was es überhaupt gibt. Das ist in den 70er Jahren entstanden und stammt von einem Zeichner namens Keiji Nakazawa, der in Hiroshima geboren ist und als die Bombe fiel, sechs Jahre alt war. Der hat den größten Teil seiner Familie bei den Bombenangriff verloren, hat dann als Sechsjähriger dafür gesorgt, dass seine Mutter, die gerade ein kleines Mädchen geboren hatte, überlebt hat, indem er sie mit Essen versorgt hat, ihr Unterkunft besorgt hat, also sehr früh, in sehr jungem Alter in die Rolle eines Erwachsenen hineingewachsen ist.
Der ist dann später Mangazeichner geworden und hat irgendwann, als es ein Angebot gab, einen autobiografischen Comic zu zeichnen, seine eigene Geschichte in Bilder gesetzt. Und dieser Comic heißt auf Deutsch "Barfuß durch Hiroshima", 1000 Seiten Umfang, und der erzählt über die zwei Jahre, die auf den Abwurf der Bombe gefolgt sind. Und darin finden sich Bilder, die wesentlich schlimmer, aber auch – leider Gottes muss man sagen – wesentlich eindrucksvoller sind als das, was man an Fotografien beispielsweise aus dem zerstörten Hiroshima kennt, weil Nakazawa sich an das erinnert, wie er als Kind diesen Angriff wahrgenommen hat, was für ein Horror das gewesen ist, etwas, was er nicht verstand, zu sehen: Menschen, die Verletzungen hatten, die vollkommen unbegreiflich waren, für ein Kind sowieso, aber auch für damalige Erwachsene. Und das alles steckt in diesem Comic drin, und darum ist das eines der eindrucksvollsten Dokumente dessen, was Atomkraft anrichten kann, gerade im Zusammenhang mit Krieg, was es überhaupt gibt.
Timm: Beschreiben Sie uns doch mal, wie das aussieht. Wie fängt er das im Bild ein, und dann noch im Comicbild, ohne dass es peinlich wird oder zynisch?
Platthaus: Das liegt natürlich auch daran, dass Japan einen anderen Umgang mit Comics hat als wir. Japan ist eine Comicnation, Manga werden da in einem Maße gelesen, wie man es sich in westlichen Kulturen, nicht einmal in Frankreich überhaupt nur vorstellen kann. Dort lesen wirklich alle Menschen Comics und betrachten es als ernsthafte Form der Auseinandersetzung, und dementsprechend gehen eben auch diese ernsthaften Stoffe schon in den 70er Jahren ohne jedes Problem.
Und Nakazawa hat einen sehr, sehr schlichten Stil, schon sehr typisch mangaartig, also sehr einfach gezeichnete Figuren, fast ein bisschen abstrahiert, aber gerade dadurch auch immens ausdrucksstark – mit großen Mündern, großen Augen, die natürlich Expressivität ganz besonders deutlich machen können. Und es gibt die allerbedrückendste Szene, das ist der erste Moment, nachdem die Bombe gefallen ist: Der kleine Keiji Nakazawa, der im Comic Gen heißt, der ist auf dem Weg zur Schule, die Bombe ist halb neun ungefähr morgens gefallen, und er wird verschüttet unter einer Wand, die zusammenbricht – wobei man sagen muss, dass es in Japan ja Holzwände sind, das heißt, ihm ist da dankenswerterweise nichts passiert –, und dadurch wird er bewahrt vor der Hitzewelle.
Aber all die anderen Menschen, die nicht dieses Glück hatten, in diesem Moment Schutz zu bekommen, die sind von einer unfassbar heißen Hitzewelle der Explosion erreicht worden. Diese Hitzewelle war so heiß – und es sträubt sich eigentlich die Zunge dabei, es zu erzählen –, dass die Haut abgeplatzt ist vom Körper und angefangen hat sich aufzurollen in der Hitze. Sie konnte aber nicht ganz vom Körper abfallen, weil sie unter den Fingernägeln und den Fußnägeln eben noch Halt hatte. Die Kleidung ist völlig verbrannt. Das heißt, was der kleine Nakazawa gesehen hat, das waren Leute, die wie eine riesige offene Wunde durch die Gegend liefen, mit der Haut, die an ihnen herunterhing. Und das zeigt er.
Und das kann er in diesem Fall machen, weil die Zeichnung natürlich immer noch eine Art von subjektivem Eindruck hat, der nicht so authentisch ist, dass man darunter überhaupt nichts mehr ertragen könnte. Es sind keine Fotografien, die hätten wirklich etwas Obszönes, sondern es ist eben doch ein künstlerischer Ausdruck dessen, was er gesehen hat, gleichzeitig absolut authentisch dadurch, dass er es selbst erlebt hat. Und das sind Bilder, die wird man, auch wenn sie gezeichnet sind, nie wieder los, wenn man diesen Comic gesehen hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton – wie die japanische Kunst die Apokalypse zeichnet, malt und filmt. Wir sprechen mit Andreas Platthaus, dem stellvertretenden Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Herr Platthaus, Sie haben gerade mit dem Regisseur Keiichi Hara gesprochen, der in Frankfurt seinen neuen Film vorstellt, also auch Bilder, und der garantiert auch ständig vorm Fernseher sitzt und wieder Bilder sieht. Was war das für eine Begegnung?
Platthaus: Eine sehr seltsame, denn Keiichi Hara, ein sehr bedeutender Anime-, also Trickfilmregisseur aus Japan, ist einen Tag nach dem Erdbeben aus Tokio weggeflogen, auf eine lang geplante Reise nach Deutschland, um seinen neuen Film vorzustellen. Und in dem Moment, als er abflog, wusste er zwar, das ist ganz übel, was da passiert ist, aber man wusste noch nichts von den Auswirkungen in Fukushima.
Das heißt, als er hier ankam, bekam er plötzlich mit, dass in Japan im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los ist. Und seitdem beobachtet er das, sagt auch, es hat eigentlich keinen Sinn für ihn zurückzufahren, denn er kann ja eh nichts machen, andererseits hat er ein ganz komisches Gefühl dabei, hier zu sein – seinen Angehörigen geht es gut. Und er ist eigentlich auch ganz umsonst hier, denn das japanische Außenministerium hat sämtliche Veranstaltungen, an denen es beteiligt ist, kultureller Art, bis Ende des Monats ausgesetzt. Das heißt, die Filmpremieren, für die Keiichi Hara hierhergekommen ist, finden alle nicht statt. Er sitzt jetzt hier in Deutschland, schaut und spricht mit Menschen, um etwas über sein Land verständlich zu machen, und so haben wir uns auch miteinander unterhalten. Und das ist natürlich eine gespenstische Situation, in der dieser arme Mann steckt, der, glaube ich, jetzt wirklich nur darauf wartet, dass seine Zeit hier vorbeigeht, damit er wieder zurück kann.
Timm: Japan hat als Land des Atombombenabwurfs von Hiroshima und Nagasaki brutalste Erfahrungen mit Radioaktivität, zugleich auf die friedliche Nutzung der Kernenergie gesetzt wie kaum ein anderes Land und immer beides säuberlich getrennt, merkt jetzt, diese beiden Aspekte sind nicht klar voneinander zu trennen, wenn es um Atomenergie geht. Wenn die Kunst das in der Vergangenheit schon so klar gespiegelt hat, wie wird denn das sich jetzt noch mal grundlegend wandeln? Kann man das sehen?
Platthaus: Das ist eine sehr spannende Frage, wobei ich auch sagen würde, die Kunst hat es nicht so deutlich wiedergegeben, zwischen diesen beiden Dingen keinen Unterschied zu machen. Es gibt schon in der japanischen Kultur ein Bedrohungsszenario, was unausgesprochen die atomare Erfahrung thematisiert, das kann man gerade in der Literatur sehr stark feststellen. Da gibt es abgelegene Dörfer, in denen irgendetwas ganz Seltsames passiert, etwas Ansteckendes, etwas Vergiftendes, von dem man aber nicht ganz genau weiß, wo es überhaupt herkommt, das wird häufig von der Regierung gedeckt. Das hat so etwas Schauerromantisches vom Sujet her, wo man klar die atomare Erfahrung merkt, wo aber nicht explizit gesagt wird, das ist die Atomstrahlung.
Es gab die berühmten Fischvergiftungen in den 70er Jahren, die einen ganz ähnlichen Effekt in der japanischen Literatur hinterlassen haben, aber sehr konkret ist die Kunst diesbezüglich nicht geworden. Und dementsprechend war es, glaube ich, halbwegs einfach, die friedliche Nutzung der Kernenergie von der kriegerischen zu trennen, gerade weil Japan ja auch explizit auf die Nutzung von Kernwaffen verzichtet hat und sagte, wir wollen nur die vernünftige Seite der Atomenergie nutzen.
Und das Schreckliche für dieses Land ist, dass sie jetzt noch mal sozusagen von demselben Phänomen eingeholt werden wie 1945, und wir können nur hoffen, dass es nicht ähnliche Folgen zeitigt, dass aber im Endeffekt die allerbesten Absichten dahintergestanden haben. Und das ist etwas, mit dem diese Nation, diese Kultur auch erst mal zurechtkommen muss, denn darauf hat sich letztlich auch die Kunst nicht vorbereitet, da ist immer eher der Krieg das Problem gewesen.
Timm: Andreas Platthaus, stellvertretender Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Comicexperte. Wir sprachen über die Apokalypse in der japanischen Kultur und Kunst.
Andreas Platthaus: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Auch bei Ihnen steht wahrscheinlich jeder, der jetzt über japanische Mangas, über japanische Comic spricht, erst mal unter Zynismusverdacht, oder?
Platthaus: Nicht unbedingt. Erfreulicherweise hat sich ja doch am allgemeinen Bild, das man über Comics hat, ein bisschen insofern gewandelt, dass man mittlerweile verstanden hat - das ist natürlich ein Verdienst des Begriffs Graphic Novel -, dass man durchaus ernsthaft mit Comics agieren kann, dass man sehr ernste Geschichten erzählen kann, dass man auch dokumentarisch erzählen kann. Und Manga sind in den letzten Jahren in Deutschland sehr populär geworden, haben dementsprechend viele Leser, und mittlerweile sind eben auch die sehr anspruchsvollen Manga aus Japan in Deutschland angekommen. Und dementsprechend weiß man, dass darin Themen auf eine Art und Weise verhandelt werden können, wie es genauso auch von großer Literatur zu leisten ist. Darum hab ich zumindest in der Redaktion keine allzu großen Probleme gehabt, als ich jetzt beispielsweise einen Artikel darüber geschrieben habe.
Timm: Gibt es denn tatsächlich Kunst aus Japan, die zeigt, was man sich noch nicht vorstellen kann?
Platthaus: Das ist schwierig zu sagen. Natürlich zeigt Kunst eigentlich auch nur das, was sich Menschen vorstellen können, und dass es letztlich natürlich in Japan vor einem anderen Hintergrund erfolgt als bei uns, denn Japan hat tatsächlich die trotz Tschernobyl größte atomare Katastrophe bislang in der Menschheitsgeschichte erlebt, die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki waren nun doch noch schlimmer und vor allem noch viel gravierender in den Auswirkungen, als es das von der Strahlung her viel schlimmere Unglück in Tschernobyl gewesen ist. Und auf diesen Erfahrungen des Jahres 1945 beruht eine ganze Strömung zeitgenössischer japanischer Kultur und Kunst, die sich jetzt weniger daran abmüht, Bilder dafür zu finden, die das thematisch sehr stark aufnimmt. In Filmen, in Bildern, also Malerei, in Comics, in der Literatur, und die auf eine sehr subtile Art und Weise dieses Bedrohungsszenario, was das Land seitdem empfunden hat, immer wieder aufnimmt. Da können wir von Haruki Murakami in der Literatur bis eben in die Comics beispielsweise bei Keiji Nakazawa gehen, das ist ein durchgehender Zug in der japanischen Kunst.
Timm: Lassen Sie uns beim zeichnerischen Ausdruck mal bleiben, Herr Platthaus. Der Manga ist ja der japanische Comic, die spezielle japanische Form des Comics, und der Manga muss überhaupt nicht lustig sein. Welche Bilder findet man denn im Manga für den Ausdruck von Apokalypse, zum Beispiel für das Geschehen in Hiroshima, wenn es das gibt?
Platthaus: Das gibt es in der Tat, und das ist auch eines der bemerkenswertesten Comicwerke, was es überhaupt gibt. Das ist in den 70er Jahren entstanden und stammt von einem Zeichner namens Keiji Nakazawa, der in Hiroshima geboren ist und als die Bombe fiel, sechs Jahre alt war. Der hat den größten Teil seiner Familie bei den Bombenangriff verloren, hat dann als Sechsjähriger dafür gesorgt, dass seine Mutter, die gerade ein kleines Mädchen geboren hatte, überlebt hat, indem er sie mit Essen versorgt hat, ihr Unterkunft besorgt hat, also sehr früh, in sehr jungem Alter in die Rolle eines Erwachsenen hineingewachsen ist.
Der ist dann später Mangazeichner geworden und hat irgendwann, als es ein Angebot gab, einen autobiografischen Comic zu zeichnen, seine eigene Geschichte in Bilder gesetzt. Und dieser Comic heißt auf Deutsch "Barfuß durch Hiroshima", 1000 Seiten Umfang, und der erzählt über die zwei Jahre, die auf den Abwurf der Bombe gefolgt sind. Und darin finden sich Bilder, die wesentlich schlimmer, aber auch – leider Gottes muss man sagen – wesentlich eindrucksvoller sind als das, was man an Fotografien beispielsweise aus dem zerstörten Hiroshima kennt, weil Nakazawa sich an das erinnert, wie er als Kind diesen Angriff wahrgenommen hat, was für ein Horror das gewesen ist, etwas, was er nicht verstand, zu sehen: Menschen, die Verletzungen hatten, die vollkommen unbegreiflich waren, für ein Kind sowieso, aber auch für damalige Erwachsene. Und das alles steckt in diesem Comic drin, und darum ist das eines der eindrucksvollsten Dokumente dessen, was Atomkraft anrichten kann, gerade im Zusammenhang mit Krieg, was es überhaupt gibt.
Timm: Beschreiben Sie uns doch mal, wie das aussieht. Wie fängt er das im Bild ein, und dann noch im Comicbild, ohne dass es peinlich wird oder zynisch?
Platthaus: Das liegt natürlich auch daran, dass Japan einen anderen Umgang mit Comics hat als wir. Japan ist eine Comicnation, Manga werden da in einem Maße gelesen, wie man es sich in westlichen Kulturen, nicht einmal in Frankreich überhaupt nur vorstellen kann. Dort lesen wirklich alle Menschen Comics und betrachten es als ernsthafte Form der Auseinandersetzung, und dementsprechend gehen eben auch diese ernsthaften Stoffe schon in den 70er Jahren ohne jedes Problem.
Und Nakazawa hat einen sehr, sehr schlichten Stil, schon sehr typisch mangaartig, also sehr einfach gezeichnete Figuren, fast ein bisschen abstrahiert, aber gerade dadurch auch immens ausdrucksstark – mit großen Mündern, großen Augen, die natürlich Expressivität ganz besonders deutlich machen können. Und es gibt die allerbedrückendste Szene, das ist der erste Moment, nachdem die Bombe gefallen ist: Der kleine Keiji Nakazawa, der im Comic Gen heißt, der ist auf dem Weg zur Schule, die Bombe ist halb neun ungefähr morgens gefallen, und er wird verschüttet unter einer Wand, die zusammenbricht – wobei man sagen muss, dass es in Japan ja Holzwände sind, das heißt, ihm ist da dankenswerterweise nichts passiert –, und dadurch wird er bewahrt vor der Hitzewelle.
Aber all die anderen Menschen, die nicht dieses Glück hatten, in diesem Moment Schutz zu bekommen, die sind von einer unfassbar heißen Hitzewelle der Explosion erreicht worden. Diese Hitzewelle war so heiß – und es sträubt sich eigentlich die Zunge dabei, es zu erzählen –, dass die Haut abgeplatzt ist vom Körper und angefangen hat sich aufzurollen in der Hitze. Sie konnte aber nicht ganz vom Körper abfallen, weil sie unter den Fingernägeln und den Fußnägeln eben noch Halt hatte. Die Kleidung ist völlig verbrannt. Das heißt, was der kleine Nakazawa gesehen hat, das waren Leute, die wie eine riesige offene Wunde durch die Gegend liefen, mit der Haut, die an ihnen herunterhing. Und das zeigt er.
Und das kann er in diesem Fall machen, weil die Zeichnung natürlich immer noch eine Art von subjektivem Eindruck hat, der nicht so authentisch ist, dass man darunter überhaupt nichts mehr ertragen könnte. Es sind keine Fotografien, die hätten wirklich etwas Obszönes, sondern es ist eben doch ein künstlerischer Ausdruck dessen, was er gesehen hat, gleichzeitig absolut authentisch dadurch, dass er es selbst erlebt hat. Und das sind Bilder, die wird man, auch wenn sie gezeichnet sind, nie wieder los, wenn man diesen Comic gesehen hat.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton – wie die japanische Kunst die Apokalypse zeichnet, malt und filmt. Wir sprechen mit Andreas Platthaus, dem stellvertretenden Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Herr Platthaus, Sie haben gerade mit dem Regisseur Keiichi Hara gesprochen, der in Frankfurt seinen neuen Film vorstellt, also auch Bilder, und der garantiert auch ständig vorm Fernseher sitzt und wieder Bilder sieht. Was war das für eine Begegnung?
Platthaus: Eine sehr seltsame, denn Keiichi Hara, ein sehr bedeutender Anime-, also Trickfilmregisseur aus Japan, ist einen Tag nach dem Erdbeben aus Tokio weggeflogen, auf eine lang geplante Reise nach Deutschland, um seinen neuen Film vorzustellen. Und in dem Moment, als er abflog, wusste er zwar, das ist ganz übel, was da passiert ist, aber man wusste noch nichts von den Auswirkungen in Fukushima.
Das heißt, als er hier ankam, bekam er plötzlich mit, dass in Japan im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los ist. Und seitdem beobachtet er das, sagt auch, es hat eigentlich keinen Sinn für ihn zurückzufahren, denn er kann ja eh nichts machen, andererseits hat er ein ganz komisches Gefühl dabei, hier zu sein – seinen Angehörigen geht es gut. Und er ist eigentlich auch ganz umsonst hier, denn das japanische Außenministerium hat sämtliche Veranstaltungen, an denen es beteiligt ist, kultureller Art, bis Ende des Monats ausgesetzt. Das heißt, die Filmpremieren, für die Keiichi Hara hierhergekommen ist, finden alle nicht statt. Er sitzt jetzt hier in Deutschland, schaut und spricht mit Menschen, um etwas über sein Land verständlich zu machen, und so haben wir uns auch miteinander unterhalten. Und das ist natürlich eine gespenstische Situation, in der dieser arme Mann steckt, der, glaube ich, jetzt wirklich nur darauf wartet, dass seine Zeit hier vorbeigeht, damit er wieder zurück kann.
Timm: Japan hat als Land des Atombombenabwurfs von Hiroshima und Nagasaki brutalste Erfahrungen mit Radioaktivität, zugleich auf die friedliche Nutzung der Kernenergie gesetzt wie kaum ein anderes Land und immer beides säuberlich getrennt, merkt jetzt, diese beiden Aspekte sind nicht klar voneinander zu trennen, wenn es um Atomenergie geht. Wenn die Kunst das in der Vergangenheit schon so klar gespiegelt hat, wie wird denn das sich jetzt noch mal grundlegend wandeln? Kann man das sehen?
Platthaus: Das ist eine sehr spannende Frage, wobei ich auch sagen würde, die Kunst hat es nicht so deutlich wiedergegeben, zwischen diesen beiden Dingen keinen Unterschied zu machen. Es gibt schon in der japanischen Kultur ein Bedrohungsszenario, was unausgesprochen die atomare Erfahrung thematisiert, das kann man gerade in der Literatur sehr stark feststellen. Da gibt es abgelegene Dörfer, in denen irgendetwas ganz Seltsames passiert, etwas Ansteckendes, etwas Vergiftendes, von dem man aber nicht ganz genau weiß, wo es überhaupt herkommt, das wird häufig von der Regierung gedeckt. Das hat so etwas Schauerromantisches vom Sujet her, wo man klar die atomare Erfahrung merkt, wo aber nicht explizit gesagt wird, das ist die Atomstrahlung.
Es gab die berühmten Fischvergiftungen in den 70er Jahren, die einen ganz ähnlichen Effekt in der japanischen Literatur hinterlassen haben, aber sehr konkret ist die Kunst diesbezüglich nicht geworden. Und dementsprechend war es, glaube ich, halbwegs einfach, die friedliche Nutzung der Kernenergie von der kriegerischen zu trennen, gerade weil Japan ja auch explizit auf die Nutzung von Kernwaffen verzichtet hat und sagte, wir wollen nur die vernünftige Seite der Atomenergie nutzen.
Und das Schreckliche für dieses Land ist, dass sie jetzt noch mal sozusagen von demselben Phänomen eingeholt werden wie 1945, und wir können nur hoffen, dass es nicht ähnliche Folgen zeitigt, dass aber im Endeffekt die allerbesten Absichten dahintergestanden haben. Und das ist etwas, mit dem diese Nation, diese Kultur auch erst mal zurechtkommen muss, denn darauf hat sich letztlich auch die Kunst nicht vorbereitet, da ist immer eher der Krieg das Problem gewesen.
Timm: Andreas Platthaus, stellvertretender Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Comicexperte. Wir sprachen über die Apokalypse in der japanischen Kultur und Kunst.