Die Gemeinde wartet auf niemanden

Von Martin Sander |
Der Aufbau jüdischen Lebens ist eine ganz besondere Herausforderung in unserem östlichen Nachbarland Polen. Viele Rabbiner sind jung und kommen von weit her. "Die finsteren Zeiten liegen hinter uns", sagt einer von ihnen.
In der vierten Etage eines eleganten alten Bürohauses, schräg gegenüber vom Warschauer Zentralbahnhof, residiert Stas Wojciechowicz. Arbeitszimmer, Gemeinschaftsräume - dazu ein schlichter Saal mit Stuhlreihen und einem Thoraschrank. Das ist die Synagoge der jüdischen Reformgemeinde, die Rabbiner Stas Wojciechowicz leitet:

"Wir bekennen uns in dieser Synagoge zu einem fortschrittlichen, reformierten Judentum, das heißt, wir glauben an die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Bei uns können auch Frauen das Rabbineramt ausüben, wenn sie es wollen und ein entsprechendes Studium absolvieren."

Stas Wojciechowicz, ein Mann Mitte 30, lächelt gern etwas verschmitzt. Wegen der aufreibenden Gemeindearbeit sei er noch nicht verheiratet – leider. Nach Warschau gelangte Wojciechowicz auf Umwegen. Geboren wurde er im damals sowjetischen Usbekistan. Die Vorfahren seines Vaters waren katholische Polen, von Stalin während des Zweiten Weltkriegs zwangsumgesiedelt. Seine jüdischen Großeltern mütterlicherseits stammten aus Kiew und Odessa, waren vor den Deutschen nach Zentralasien geflohen. Mit 17 reiste Wojciechowicz nach Israel aus, studierte Politik in Haifa, leistete Wehrdienst. Eine Arbeit als Rabbiner kam ihm damals nicht in den Sinn:

"Hätte mir vor zehn Jahren jemand prophezeit, dass es so kommen würde, hätte ich ihm entgegnet: Du bist wohl verrückt geworden. Doch dann kam es genau so."

Nach Abschluss seines Rabbinerstudiums in Jerusalem leitete Wojciechowicz eine Gemeinde in Petersburg. Von dort kam er 2010 nach Warschau. Heute ist er einer von nicht einmal 20 Rabbinern in ganz Polen und der einzige Reformrabbiner in Warschau. Viele polnische Rabbiner sind jung und kommen von weit her.

So auch Szalom Ber Stambler, der in Warschau seit 2005 die orthodoxe chassidische Gemeinde Chabad Lubavitch führt. Stambler kam 1982 in Israel zur Welt; er studierte in Montreal und lehrte in London. In Polen sehnt er sich nach den alten jüdischen Traditionen zurück, die über viele Jahrhunderte lebendig waren, in jenen Zeiten vor dem Holocaust, als es im ganzen Land über drei Millionen Juden gab, allein in Warschau 300.000 – und als die Menschen mehr oder weniger im Einklang mit den Gesetzen ihres Glaubens lebten.

Szalom Ber Stambler: "Viele von ihnen waren selbst sehr gebildet, sehr gelehrt, kannten den Talmud, die Kabbala, die Halacha. Aber sie hatten ihren Beruf, ihre Beschäftigung. Der Rabbiner kam zu ihnen aus einer anderen Stadt. Die Gemeindmitglieder testeten ihn, ob er schön sprach. Sie wollten wissen, ob er in der Lage war, ein Problem zu lösen. Wenn ihnen seine Antworten gefielen, bekam er eine Kanzlei. Dort konsultierten sie ihn in religiösen Fragen. So wie man heute einen Anwalt aufsucht oder einen Arzt, so gingen sie zum Rabbiner. Heute aber wartet die Gemeinde auf niemanden. Ein aktives religiöses Leben muss man erst aufbauen. Ich muss bei Null anfangen und von dem Tag träumen, an dem ich in meinem Büro sitze ‒ und die Menschen nach und nach zu mir kommen."

Einstweilen muss Szalom Ber Stambler sich auf die Suche nach ihnen machen. Stambler, verheiratet und Vater von vier Kindern, ist traditionsorientiert. Er will Menschen für seine mystische Frömmigkeitsbewegung der Chassidim gewinnen, die im Polen der vergangenen Jahrhunderte großen Einfluss besaß.

Szalom Ber Stambler: "Hier muss man mit dem Judaismus hinausgehen und den Juden sagen: Hört, die finsteren Zeiten in Polen und in diesem Teil Europas liegen hinter uns. Aber man muss viel Geduld aufbringen."

Ein besonders einflussreicher polnischer Rabbiner ist Michael Schudrich. 1955 in New York geboren, kam er bereits kurz nach der Wende nach Warschau. Damals war das religiöse Leben der wenigen Juden, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten und in Polen geblieben waren, völlig erloschen. Schudrich, in Scheidung lebend, seit 2004 Oberrabiner von mehreren Gemeinden, hat sehr viel für die Wiederbelebung jüdischer Tradition getan. Dabei suchte er oft den Dialog mit der katholischen Kirche und musste sich dafür von seinen Glaubensbrüdern rügen lassen. Da viele der rund viertausend Menschen, die sich heute in Warschau als Juden bekennen, nicht religiös, jedenfalls nicht im traditionellen jüdischen Verständnis seien, müsse man sie mit guten Argumenten überzeugen, sagt Schudrich:

"In unserer Zeit kann der Mensch Atheist oder Agnostiker sein, ohne Religion oder gläubig. Und das ist für mich phantastisch, denn der Mensch hat wirklich die Wahl. Es ist natürlich auch komplizierter als früher, denn ein Jude ist nicht mehr automatisch ein Jude. Natürlich haben die Leute auch vor 500, 1000 oder 2000 Jahren das Bekenntnis gewechselt. Aber das war ein Akt! Heute ist so etwas zwar nicht völlig normal, aber auch nicht unnormal. Und deshalb muss der Rabbiner ein wirklich guter Lehrer sein, er muss unsere Tradition einfach besser erklären können."

Stas Wojciechowicz, dessen Reformgemeinde zum von Schudrich geleiteten Verband gehört, pflichtet dem Oberrabiner in dieser Frage bei. Oft, erzählt Wojciechowicz, habe er es mit jungen Menschen zu tun, die das Judentum ihrer Vorfahren entdeckten und sich ihm zuwendeten, deren Elternhaus aber atheistisch oder – häufiger noch – katholisch geprägt sei. Wojciechowicz rät solchen Mitgliedern seiner Gemeinde, die Gebräuche ihrer Eltern zu respektieren und sie auch weiterhin an christlichen Feiertagen zu besuchen:

"Heute muss die Religion sich den Bedingungen anpassen, in denen wir leben, ansonsten geht sie zugrunde. Die Methode heißt: Religion mit menschlichem Antlitz."