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Im Aufstand gegen das Gewohnte
Es hat immer etwas Aufrührerisches, im besten Fall gar Revolutionäres, wenn sich ein Mensch, eine Gruppe, eine Partei mit einem Manifest gegen alles Bisherige stellt. Doch nicht immer wissen die Autoren, was an die Stelle des Alten treten könnte.
"Ein Gespenst geht um in Europa" - mit diesem Satz des berühmtesten aller Manifeste, des "Kommunistischen Manifestes" beginnt ein Reigen, bei dem sich bildende und performative Künstler, Architekten, Musiker, Literaten und Filmemacher ein Stelldichein geben. Es sind Texte, mitunter auch Inszenierungen, die den Mut haben, bei aller Unvernunft das ganz Andere zu denken.
"Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen" - so formulierte einmal ein beliebter Bundeskanzler sein Verständnis von der Kunst des politisch Machbaren.
Angesichts einer Welt, deren selbstzerstörerisches Potenzial beständig wächst, verdienen Manifeste als Aufstand gegen das Gewohnte ein besonderes Interesse. Unabhängig davon, ob sie für die Erhaltung der Natur oder die totale Mobilität, ob sie für den funktionalen Zweckbau oder die Herrschaft des Schimmels, ob sie für die totale wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen oder die Vergesellschaftung allen Besitzes eintreten. Oder gar für die Abschaffung des Manifests.
Was macht diese Texte so faszinierend? Diese "Lange Nacht über Manifeste" unternimmt einen Streifzug durch die Geschichte dieser ganz besonderen Gattung von Texten.
Das Kommunistische Manifest
"Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten. Es ist hohe Zeit, dass die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen, und den Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen. Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird."
Erst auf der letzten von 21 eng bedruckten Seiten bekommt der Text endgültig jenen revolutionären Schwung, den wir von einem Manifest, das die Bewegung des Kommunismus begründen soll, erwarten.
"Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer Kommunistischen Revolution zittern! Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!"
Das von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste "Kommunistische Manifest". Im Februar 1848 erscheint es, und auch wenn es Manifeste schon vorher gegeben hatte, so wird dieser politische Text doch der Prototyp einer neuen, einer literarisch-künstlerischen Gattung.
"Ein Manifest ist eine Erklärung, die besonders öffentlichkeitswirksam sein will und darum mehr oder weniger radikale Forderungen formuliert. Ein Manifest kann etwas sein, das politische Forderungen erhebt, es kann aber auch etwas sein, was Forderungen im Bereich Kunst und Literatur vertritt." (Wolfgang Asholt, Literaturwissenschaftler und Manifest-Forscher)
Die Reaktion auf das "Kommunistische Manifest" bleibt nicht aus, es befeuert revolutionäre Bestrebungen. In Europa gärt es immer mehr. Natürlich wird es verboten, Drucker und Verleger werden verfolgt. Die Verfolgung trifft auch Künstler, die mit solchen Ideen sympathisieren.
Manifeste des 19. Jahrhunderts
In der Folge erscheinen immer häufiger Texte, die einen Manifest-ähnlichen Charakter besitzen. Eine Auswahl:
In Dresden steht Richard Wagner, 35 Jahre alt und gerade die ersten Erfolge seiner Kompositionskunst genießend, im Dienste des sächsischen Staates. Er ist Kapellmeister an der Oper und man könnte das Leben, das er seit einigen Jahren in der sächsischen Hauptstadt führt, als geregelt bezeichnen.
Doch Wagner wird vom Geist der Rebellion angesteckt. Als im Frühjahr 1849 der Aufstand auch an der Elbe ausbricht, ist er dabei. Er entwickelt später eine Weltanschauung, die gesellschaftliche Veränderung an die Idee einer künstlerischen Avantgarde bindet. Der Künstler, in Wagners Verständnis vor allem er selbst, soll Prophet und Vorreiter dieser neuen Gesellschaft sein.
Musik als Weihedienst, der Künstler als Priester, als legitimer Vertreter einer Kunstreligion, der alle folgen sollen – das bedeutet de facto die Umkehr seiner ursprünglich sozialistischen revolutionären Ideale. Wagners Schriften, auch wenn sie nicht diesen Titel tragen, haben durchaus den Charakter von Manifesten. Sie nehmen Stellung gegen eine Wirklichkeit, die der Autor zutiefst ablehnt, sie entwickeln Konzepte des "ganz Anderen", der Utopie also, und sie sind öffentlich.
Wladimir Stassow ist Schriftsteller, Journalist, publizistisch wirkender Vertreter einer kleiner Musikergruppe, die sich parallel zu Wagners Schweizer essayistischen Versuchen in Russland, vor allem in Petersburg, zusammenfindet:
"Das russische Volk liebt seit je sein Lied, das so breit und so voll Weisheit ist wie die Natur unseres grenzenlosen Landes. Nicht ziemt es den Erben Glinkas und Dargomyshskis, an fremden Schwellen das Knie zu beugen."
Stassow, der sich in unzähligen Artikeln für die Ideen der "Fünf", zu denen auch Mussorgsky zählt, einsetzt, liefert damit eine Art Vorläufer eines Musik-Manifests.
In Frankreich formt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als Pendant zu Wagners Musik, zeitgleich der Symbolismus:
"Eine neue Offenbarung der Kunst, seit langem sich entwickelnd, ist dabei sich zu entfalten. Und all die unbedeutenden Scherze der fidelen Presseleute, all die Besorgnisse gewichtiger Kritiker, die ganze schlechte Stimmung des in seinem unbekümmerten Trott überraschten Publikums bestärken nur jeden Tag mehr die Vitalität der gegenwärtigen Entwicklung in der französischen Literatur – diese Entwicklung, die voreilige Richter in einem unerklärlichen Widerspruch als Dekadenz qualifizieren. (Jean Moréas, "Le Figaro", Supplément littéraire, 18.9. 1886)
Moréas’ Manifest zeigt Wirkung. Der Symbolismus in der Bildenden Kunst, etwa bei Gustav Moreau oder dem Österreicher Gustav Klimt, aber auch bei Musikern wie Claude Debussy oder dem frühen Arnold Schönberg, bekommt hier ein theoretisches Fundament.
Manifeste des beginnenden 20. Jahrhunderts
"Der Mensch unserer Zeit, der aus innerem Drange die Wände mit erotischen Symbolen beschmiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Wir haben das Ornament überwunden, wir haben uns zur Ornamentlosigkeit durchgerungen. Seht, die Zeit ist nahe, die Erfüllung wartet unser. Bald werden die Straßen der Städte wie weiße Mauern glänzen!" (Adolf Loos, Ornament und Verbrechen)
"Ornament und Verbrechen", nicht "Ornament ist Verbrechen" sondern "Ornament und Verbrechen", das wird oftmals falsch zitiert weil es so besser ins Klischee passt. Ist so der Urtyp des Manifests könnte man sagen, er ist polemisch, es ist Nietzscheanisch in einem Sinne, es ist mit spitzer Feder geschrieben" (Jörg Gleiter, Architekturtheoretiker). Die Idee einer ornamentlosen, einer versachlichten Welt von schmucklosen Mauern wird im 20. Jahrhundert noch häufiger auftauchen.
"Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine Freunde und ich, unter den Lampen der Moscheen, deren Kupferkuppeln, die ebenso durchbrochen waren wie unsere Seele, doch elektrische Herzen hatten. Ein unendlicher Stolz dehnte unsere Brust, uns allein stehen zu sehen, wie Leuchttürme oder wie weiter vorgeschobene Vorposten, gegenüber dem Heer feindlicher Sterne, die in ihrem heimatlichen Biwak kampieren." (Filippo Tommaso Marinetti, Gründung und Manifest des Futurismus)
Das Motiv von Filippo Tommaso Marinetti ist das einer rohen, zerstörerischen Kraft. Marinetti wird diese Kraft vor allem bewundern, wenn sie von den Maschinen der Moderne ausgeht. Es ist die Zeit wöchentlich neuer Erfindungen, die Titanic ist in der Planung, Automobile knattern bedrohlich durch die Städte, Elektrizität macht die Nacht zum Tage, Luftschiffe erobern den Himmel.
Bereits zwei Monate nach dem zuerst in Frankreich erschienenen Manifest publiziert Marinetti – diesmal tatsächlich in Italien – ein Pamphlet mit dem Titel "Tod dem Mondschein". Der Bann jeglicher Moral scheint nun gebrochen und Europas abendländischer Geist entsorgt zu werden. Es ist das Ideengebäude des Faschismus, das hier noch nicht die Rasse, wohl aber männliche Kraft und Überlegenheit ins Zentrum setzt.
Luigi Russolo, Maler, Komponist, bekennender Futurist: "Jede Äußerung unseres Lebens ist von Geräuschen begleitet. Das Geräusch ist folglich unserem Ohr vertraut und vermag uns unmittelbar in das Leben zu versetzen." (Luigi Russolo, Manifest "Die Geräuschkunst")
Stefan Drees, Musikhistoriker, sagt dazu: "Luigi Russolos Manifest "Die Kunst der Geräusche" ist ein Manifest, das sich eigentlich direkt auf die Thesen von Marinetti stützt, es geht darum, wir leben in der modernen Welt, wir leben in der Großstadt also müssen wir auch Kunst schaffen die zu dieser Großstadt passt und Luigi Russolo überträgt das sozusagen auf die Musik."
"Das Lied eines Dadaisten, der weder froh noch traurig war, und eine Radfahrerin liebte, die weder froh noch traurig war, aber der Ehemann wusste, am Neujahrstag alles, und in einem Anfall, schickte er ihre zwei Körper, in drei Koffern in den Vatikan." In den Jahren des Ersten Weltkrieges findet sich in Zürich eine kleine Gruppe von experimentierfreudigen Spaßvögeln, die, oberflächlich gesehen, vor allem eines im Sinn hat: Blödsinn. Einer ihrer Protagonisten: der frankophile Rumäne Tristan Tzara.
"Manifeste der Avantgarde-Bewegung funktionieren auch nach dem Prinzip: Die jeweils neue Bewegung möchte mit ihrem Manifest die vorhergehende Bewegung übertrumpfen. Die Dadaisten, die in dem beschaulichen Schweizer Zürich aufgetreten sind, wussten genau, was die italienischen Futuristen gemacht haben, haben daraus ihre Lektionen gelernt und haben versucht, das zu überbieten. Der Futurismus und seine Kriegsbegeisterung waren einer der Gegner, die man bekämpfen wollte." (Wolfgang Asholt)
Während Schwitters mit der "Merzbewegung" eine erste Aufspaltung des Dadaismus im deutschen Sprachraum initiiert, tut sich in Paris ähnliches. Hier entsteht 1924 eine Richtung, die vor allem in der Bildenden Kunst von Bedeutung sein wird: der Surrealismus. Ihr wichtigster Wortführer und Verfasser des ersten surrealistischen Manifests ist André Breton:
"Ich definiere es also ein für allemal: SURREALISMUS, Substantiv, männlich – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung." (André Breton, Manifest des Surrealismus)
"Die russische Musik ist bewundernswert, eben weil sie russische Musik ist. Die franko-russische oder franko-deutsche Musik ist recht mittelmäßig, auch wenn sie sich an Mussorgski oder Strawinsky, an Wagner oder Schönberg inspiriert. Ich verlange eine französische Musik Frankreichs." (Jean Cocteau, Hahn und Harlekin)
Das schriftstellerische Multitalent Jean Cocteau ist ein idealer Verkäufer solcher Botschaften. Cocteau bewegt sich zwischen allen Künsten, er hat Kontakt zu Theatern, Musikern. Um ihn herum bildet sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Kreis, im Namen Bezug nehmend auf das russische "mächtige Häuflein", die "Gruppe der Fünf". Es sind sechs Musiker, darunter eine Frau, und sie werden bekannt als "Groupe des six".
Das Jahr 1918 markiert nicht nur gewaltige politische Umbrüche in ganz Europa, auch ästhetisch wird überall versucht, neue Wege zu gehen. In Holland ist es die Gruppe "De Stijl", die unter Führung des Malers und Architekten Theo van Doesburg eine organische Verbindung von Architektur, Plastik und Malerei anstrebt. "Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewusstsein. Das alte richtet sich auf das Individuelle. Das neue richtet sich auf das Universelle. Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl im Weltkriege wie in der heutigen Kunst. Der Krieg zerstört die alte Welt mit ihrem Inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet." ("De Stijl" Manifest 1)
Es verwundert nicht, dass sich van Doesburg 1920 und 21 in Weimar aufhält und, obwohl nicht offiziell dort als Lehrer angestellt, erheblichen Einfluss ausüben kann. Unter der Leitung des Architekten Walter Gropius war dort eine komplett neue Kunstschule gegründet worden, das Weimarer Bauhaus. Von Gropius stammt das erste Bauhaus-Manifest:
"Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken, war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. Heute stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewusstes Mit- und Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander." (Bauhaus Manifest von Walter Gropius)
In der Bewegung des russischen Futurismus ist er der Wortführer: Welimir Chlebnikow. Er schrieb schon 1912 das erste russische futuristische Manifest:
"Wir sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit dröhnt durch uns in der Wortkunst. Das Vergangene ist eng. Die Akademie und Puskin sind unverständlicher als Hieroglyphen. Puschkin, Dostojewski, Tolstoi usw. usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu werfen." (russisches futuristisches Manifest von 1912)
Manifeste zwischen den beiden Weltkriegen
Den gewaltigsten Aufschwung erlebt das Manifest als literarische und publizistische Form nach den revolutionären Ereignissen des Jahres 1917. Es entsteht eine Unzahl von Manifesten.
Das flammende Bekenntnis zur Schönheit des Krieges, veröffentlicht aus Anlass des italienischen Eroberungskrieges in Äthiopien 1935, ist eines der letzten Manifeste aus der Feder Filippo Tommaso Marinettis. Mehr als 25 Jahre ist er als Produzent unzähliger Manifeste aktiv.
Walter Benjamin, als Jude aus Deutschland geflohen, lebt derweil in Paris und arbeitet an einem Aufsatz, der zur Grundlage für die moderne Medien- und Kommunikationstheorie werden wird:
"Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit": "Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen und die zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten eines und desselben Geschehens. Der Faschismus sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt die Gesellschaft den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin." (Walter Benjamin, "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit")
Wie Benjamin kann auch der österreichische Komponist Hanns Eisler nach 1933 nicht mehr nach Deutschland zurück. Aus Moskau schreibt er an den befreundeten Autor Bertolt Brecht:
"Ich habe einen sehr interessanten Kompositionsplan und zwar will ich eine große Symphonie schreiben, die den Untertitel "Konzentrationslagersymphonie" haben wird."
Über zehn Jahre wird Eisler an dem Werk arbeiten, sein endgültiger Titel wird "Deutsche Symphonie" lauten. Sie wird zu einer Art musikalischem Manifest für ein kulturelles Deutschland, das untergegangen zu sein scheint.
Manifeste nach dem Zweiten Weltkrieg
Musikalisch, künstlerisch, architektonisch, politisch: Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist reich an unterschiedlichsten Manifesten:
In der noch stalinistischen Sowjetunion sollte bei einer Versammlung internationaler Komponisten diskutiert und gemeinsam verabschiedet werden. Der prominenteste Teilnehmer dieses im Mai 1948 in Prag stattfindenden Kongresses: der zurückgekehrte Hanns Eisler.
"Die Musik und das Musikleben unserer Zeit zeigt eine tiefe Krise. Diese wird hauptsächlich charakterisiert durch den Gegensatz zwischen sogenannter ernster und sogenannter Unterhaltungsmusik. Die sogenannte ernste Musik wird immer komplizierter, konstruierter, individualistischer und subjektiver. Die sogenannte populäre Musik wird immer flacher, nivellierter, standardisierter; sie wird zum Objekt der monopolisierten Kulturindustrie, zur Ware." (Prager Manifest, zit. nach Hanns Eisler)
Stefan Drees, Musikwissenschaftler: "Das Prager Manifest versucht eigentlich die Krise der Musik zu lösen, indem es sagt, wir dürfen erstens keine Musik schreiben, die nur für den Elfenbeinturm ist, aber es darf eben auch keine Musik sein, die sich als populäre Musik konsumieren lässt."
Der ehemalige Weggefährte und einstige Co-Autor Eislers, bald philosophischer Mentor der Neuen Musik westdeutscher Prägung, Theodor W. Adorno, wird in seinem Aufsatz "Die gegängelte Musik" diesen Weg aufs Schärfste verurteilen. Er sieht in dem Prager Manifest nur den Versuch, die "universale Gleichschaltung zu rechtfertigen" und warnt vor einer "Selbstliquidierung der Subjekte".
Im Westen bilden sich bald die Zentren der Avantgarde, unter anderem in Darmstadt durch die "Internationalen Ferienkurse für Neue Musik". Hier sorgt im Jahr 1958 der Amerikaner John Cage für einen ungewöhnlichen Auftritt:
"Das Geräusch eines Lastkraftwagens bei 50 Stundenkilometer. Atmosphärische Störungen im Radio. Regen. Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente." (John Cage, Die Zukunft der Musik – Credo)
Sein Manifest stammt aus dem Jahr 1937. Cage vollendet, was die "Geräuschemacher" der italienischen Futuristen zaghaft und wenig inspiriert in den 1910er-Jahren begonnen hatten: Die Gleichberechtigung von allem, was dem menschlichen Ohr hörbar ist, die Akzeptanz des Geräuschs in der Welt der Musik.
Heinz Mack gründet zusammen mit dem Künstlerkollegen Otto Piene die Gruppe ZERO, zu der später noch Günter Uecker stoßen wird. Auch sie suchen den künstlerischen Neubeginn. Und sie entdecken das Licht, das Weiß, die Leere und die Bewegung von Objekten. Auf der Kasseler Dokumenta des Jahres 1964 gelingt ZERO der Durchbruch. Es ist das erste Mal seit der Weimarer Republik, dass deutsche Künstler mit ihrer Kunst international Aufsehen erregen. Sie verfassen ein poetisches Manifest:
"Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang. Zero ist rund. Zero dreht sich. Zero ist der Mond. Die Sonne ist Zero. Zero ist weiß. Die Wüste Zero. Der Himmel über Zero. Die Nacht –. Zero fließt. Das Auge Zero. Nabel. Mund. Kuss. Die Milch ist rund. Die Blume Zero der Vogel. Schweigend. Schwebend." (ZERO Foundation)
"Keine Experimente" lautet der politische Slogan, mit dem der 81-jährige Konrad Adenauer im September 1957 die Wahlen für die CDU mit absoluter Mehrheit gewinnt.
"Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge." Es sind 18 zum Teil sehr prominente Wissenschaftler, die am 12. April 1957, unmittelbar vor Beginn des Bundestagswahlkampfes, ein deutliches Zeichen gegen eine obrigkeitstreue Untertanenhaltung setzen. Sie formulieren das "Göttinger Manifest". Das Manifest löst eine breite Diskussion um den Sinn der von der Regierung geplanten und von ihrem Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß vorangetriebenen atomaren Bewaffnung der Bundeswehr aus.
Die Gesellschaft ist irritiert. Der Hauptautor des Göttinger Manifests ist Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, geläuterter Sohn eines NS-Diplomaten und SS-Führers, Bruder des späteren Bundespräsidenten. Er wird sein weiteres Leben zu einem guten Teil der Friedensforschung widmen.
Im Feld der Architektur ist in jenen Jahren, besonders in den Wüsten zerstörter deutscher Städte, großer Handlungsbedarf. Und das sowohl in Hinsicht eines realen Bauens wie im Bereich des Denkens und Planens. Wie soll die Stadt der Zukunft, wie soll das Haus der Zukunft aussehen? Bereits 1926 hatte der Schweizer Architekt Le Corbusier zusammen mit seinem Kollegen Pierre Jeanneret ein Manifest verfasst:
"Es handelt sich hier keineswegs um ästhetische Fantasien oder Trachten nach modischen Effekten, sondern um architektonische Tatsachen, welche ein absolut neues Bauen bedeuten, vom Wohnhaus bis zum Palast."
Le Corbusier strebt einen radikalen Bruch mit der Tradition an. Er erhält von der Firma Philips den Auftrag, einen Pavillon für die Weltausstellung 1958 in Brüssel zu gestalten. Er entwickelt und baut Wohnblocks für mehr als 1.000 Menschen, von Kritikern auch als "Wohnmaschinen" bezeichnet. Seine Gebäude sind hell, die Wohnungen oft sonnendurchflutet. Und doch haftet den Bauten von Le Corbusier, vor allem wegen der Kälte des Baumaterials Beton, etwas an, was schon in den 50er-Jahren auf Widerstand stößt.
Einer, der sich früh massiv gegen das Bauen nach den Prinzipien der Moderne positioniert, ist der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser. 1958 veröffentlicht Hundertwasser ein "Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur":
"Jeder soll bauen können, und solange diese Baufreiheit nicht existiert, kann man die gegenwärtige, geplante Architektur überhaupt nicht zur Kunst rechnen. Was realisiert ist, sind einzeln dastehende erbärmliche Kompromisse von Linealmenschen mit schlechtem Gewissen! Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln kann nur der Körper des Menschen zugrunde gehen, doch in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur geht seine Seele zugrunde."
Einige Jahre später wird die Kritik an dieser Architektur auch von wissenschaftlicher Seite formuliert werden. "Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden" lautet der Titel eines weithin bekannten Buches von Alexander Mitscherlich. Doch Hundertwassers Manifest ist keine sozialpsychologische Analyse, sondern, rund 20 Jahre vor der Gründung der Grünen, eher ein ökologisches Manifest aus der Perspektive der Kunst.
Zu Beginn der 60er-Jahre stehen vielerorts die Vorzeichen auf Aufbruch, ob in der Politik, in der Kunst, oder – wie bei Hundertwasser – im Grenzbereich von beiden. Es scheint, als sei die Zeit für kraftvolle Gegen-Positionierungen wieder reif. Manifeste werden wieder aktuell.
"Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue Film endlich die Chance, lebendig zu werden." (Alexander Kluge, Oberhausener Manifest)
Um die deutsche Filmindustrie ist es im Jahr 1962 schlecht bestellt. Mit Heimatfilmen, Sissy und Winnetou ist nur gelegentlich an der Kinokasse Gewinn zu machen, und auch künstlerisch ist in Deutschland produziertes Kino international nicht konkurrenzfähig. Nur der Kurzfilm bildet eine Ausnahme. Durch ein Gesetz, das Kinobetreiber von der Abgabe einer Vergnügungssteuer befreite, wenn sie ihrem Publikum künstlerisch wertvolle Vorfilme präsentierten, konnte sich das Genre gut entwickeln.
Alexander Kluge ist der Wortführer einer Gruppe von Filmemachern, die vor allem solche Kurzfilme realisiert hatten. Die große Form, der abendfüllende Spielfilm, blieb seiner Generation jedoch bislang versagt. Die Oberhausener sind erfolgreich. Drei Jahre später wird das "Kuratorium Junger deutscher Film" gegründet, eine an künstlerischen Kriterien orientierte Filmförderung kommt in Gang.
Am 3. Juni 1968 geht die 32-jährige Valerie Solanas vor einem Gebäude in Manhattan, New York, auf und ab. Im vierten Stock des Hauses befindet sich Andy Warhols "Factory", der Arbeitsort und Szenetreffpunkt des berühmten Pop-Art-Künstlers. An diesem Nachmittag wartet sie auf Warhol.
"Die Reduktion der Frauen zu Tieren im rückständigsten Sektor der Gesellschaft – der 'privilegierten', 'gebildeten' Mittelklasse, dieser Hinterprovinz der Humanität, wo Daddy unangefochten regiert – ist so gründlich, dass die Frauen sich nach der Tretmühle der Arbeit drängen und heute, in der Mitte des 20. Jahrhunderts, im fortgeschrittensten Land der Erde, mit am Busen fett werdenden Babys herumlungern. Aber trotzdem geschieht es nicht zum Wohl der Kinder, wie 'Experten' den Frauen weismachen wollen, wenn Mama zu Hause bleiben und im Bereich des Animalischen herumkriechen muss, sondern es ist Daddys Vorteil."
Solanas, die am 3. Juni 1968 in Manhattan auf Andy Warhol wartet, ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Sie hatte ihm das Skript eines Theaterstücks anvertraut, in der Hoffnung, er werde es produzieren. Als Warhol gegen 16.15 Uhr erscheint, fahren sie gemeinsam mit dem Fahrstuhl in die Etage der Factory. Dort zieht Valerie Solanas einen Revolver und schießt mehrfach auf Warhol.
Eine Kugel trifft Warhols Lunge, seine Galle, den Magen, Leber und Speiseröhre. Er überlebt: "Er hatte zu viel Kontrolle über mein Leben" – so kommentiert Solanas später gegenüber einem Polizisten, von dem sie sich festnehmen lässt, ihre Tat. Das Manifest, das sie bis dahin lediglich in hektografierten Exemplaren auf der Straße zu verkaufen versucht hatte, trägt den Titel "SCUM" (PDF). Das bedeutet einerseits soviel wie "Abschaum", ist andererseits die Abkürzung für "Society for cutting up men", "Gesellschaft zur Vernichtung von Männern". Es ist das bis heute radikalste Manifest der feministischen Bewegung weltweit.
Hochpolitisch versteht der italienische Komponist Luigi Nono seine Arbeit. Er ist aktives Mitglied der kommunistischen Partei Italiens. Im zweiten Teil seiner Komposition "Musica Manifesto Numero uno" beschäftigt er sich in einer Tonbandcollage mit der Lust am Protest, mit der Poesie des Widerstands, aber auch mit dessen Gewalttätigkeit. Der warnende, beinahe belehrende Titel dieses Teils: "Non cosumiamo Marx", "Lasst uns Marx nicht konsumieren!".
Es ist das Jahr 1968. Nono versucht Politik und Musik ineinander zu verklammern, das Politische in der Musik zu bedenken. Wie Cage nutzt er Geräusche, alltägliche Originaltöne, ignoriert aber nicht deren historische Dimension, sondern betont sie. Politischer Protest wird nicht, wie etwa bei einem Agitprop-Song, auf die Musik gesetzt. Der Protest liegt immer auch in der Form selbst, die das Alte weiter entwickeln oder überwinden soll. Das "Musica Manifesto Numero uno" ist ein Statement für die notwendige Verbindung von politischer und musikalischer Arbeit.
Nono scheint den Riss durch den Menschen ausdrücken zu wollen, der auch in Valerie Solanas feministischem Manifest immer wieder aufschien. Es ist die Sehnsucht nach privatem, persönlichem Glück, vielleicht in Kontakt zur Natur – einerseits. Andererseits die Notwendigkeit, sich politisch mit Anderen zusammenzuschließen und sich offenkundigem Unrecht in der Welt entgegen zu stellen.
Denn bei allen Forderungen, die in Manifesten zum Ausdruck kommen – meist ist der Schmerz über eine Welt, wie sie nun mal ist, der Ausgangspunkt. Eine Welt, die man sich lieber anders vorstellen mag.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Stefan Zednik
Redaktion: Dr. Monika Künzel
Regie: Stefan Hilsbecher
Webproduktion: Jörg Stroisch
Über den Autor:
Stefan Zednik arbeitete ehemals als Opernregisseur und hat sich seit einigen Jahren dem Radiomachen verschrieben. Seine Schwerpunkte sind die Geschichte des Musiktheaters und ihrer Mitwirkenden sowie die Rezeptions- und Sozialgeschichte der Musik. Dazu erschienen zahlreiche Features in verschiedenen Sendern (DLF, WDR, SWR, RBB/MDR). Im Erscheinen begriffen ist derzeit sein Buch "Die Mörder sitzen in der Oper" über die Rezeptionsgeschichte der Oper.