Die Geschichte der Quilts

Von Siegfried Buschschlüter |
Sie sind die wunderbarsten Kunstwerke, die Amerika hervorgebracht hat, jubelte die "New York Times". Die Quilts, kunstvoll geknüpfte Stoffdecken, die teuer gehandelt werden, wurden einst von Sklavinnen gefertigt. Sie erzählen die Geschichte der Sklaverei und des Rassismus in den amerikanischen Südstaaten.
82 ist Arlonzia Pettway und in Boykin geboren. Boykin ist seit 1949 der offizielle Name dieser abgelegenen ländlichen Gemeinde im tiefen Süden Alabamas. Frank Boykin war ein weißer Senator aus Mobile, Alabama, längst vergessen und ohne Bedeutung für die Bewohner des Ortes, den alle schon lange wieder Gee's Bend nennen, nach Joseph Gee, einem weißen Pflanzer, der 1816 aus North Carolina nach Alabama kam und eine Baumwollplantage am Ufer des Alabama River anlegte. Und da der River an der Stelle sich formt wie ein Hufeisen und das Dorf mittendrin liegt, an drei Seiten vom Fluss umgeben, nennen sie es Gee's Bend.

Auch Lucy Marie Mingo, 74 Jahre alt, in Rehoboth geboren, wenige Meilen von Gee's Bend entfernt, hat ihr ganzes Leben hier verbracht, wie Generationen vor ihr. Von Joseph Gee, der 1824 ohne Erben starb, ging das Land in den Besitz seines jüngeren Bruders und schließlich eines Verwandten, namens Mark Pettway, über. Zu den 100 Sklaven, die sich damals auf der Plantage befanden, kamen 1845 weitere Hundert dazu, als der neue Besitzer mit seinem gesamten Hab und Gut und mehreren Planwagen von North Carolina nach Gee's Bend zog. Und alle, die auf seiner Plantage arbeiteten, mussten ihren Namen aufgeben und seinen übernehmen, wie Arlonzia Pettway.

Doch hinter dem Namen Pettway verbergen sich unterschiedliche Familiengeschichten und kulturelle Vermischungen, von schwarz und weiß, Schwarzen und Indianern. Ihre Familiengeschichte lernte Arlonzia Pettway von ihrer Urgroßmutter, Dinah Miller. Sie kam aus Afrika, als sie 13 war, zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder. Nachdem ein Weißer sie für zehn Cent aufgekauft hatte, wurde sie von ihren Eltern und ihrem Bruder getrennt. Sie hat sie nie wiedergesehen.

Noch zweimal wurde sie weiterverkauft, musste schließlich mit vier Männern zusammenleben, zwei Weißen und zwei Indianern. Sie sollten die schwarzen Sklavinnen schwängern. Große, starke Babys wollte der Plantagenbesitzer von ihnen. So wie Sally, Dinah's Tochter. Sie war 17, als sie zum ersten Mal schwanger war. Auch der Vater ihres ersten Sohnes war Weißer, der ihres zweiten Sohnes, Indianer.
Mit ihrem schwarzen Ehemann, Esau, hatte Sally, die später Hebamme wurde, zwölf Kinder. So wie Arlonzias Mutter, Missouri Pettway, und so wie sie selber auch. Vier Mädchen und acht Jungen brachte Arlonzia zur Welt. Und alle arbeiteten sie auf der Farm. Zuerst als Sklaven, dann nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 als Pächter, als "sharecroppers".

Der Plantagenbesitzer stellte das Land zur Verfügung, und der Pächter seine Arbeitskraft. Saatgut, Düngemittel, Geräte und Vieh erhielt der "sharecropper" zu Preisen, die vom Landbesitzer willkürlich festgesetzt wurden. Um seine Lebenshaltungskosten zu decken, musste er beim Landbesitzer Kredit aufnehmen. Zurückzahlen musste er ihn mit Zinsen und bis zu drei Viertel des Ernteertrags, überwiegend Baumwolle. Nur einen Unterschied sieht Arlonzia Pettway zwischen der Sklaverei und dem "sharecropping." Als Sklaven wurden ihre Vorfahren noch regelmäßig geschlagen.

Mit der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren ging auch das "sharecropping" in der Landwirtschaft der Südstaaten zu Ende, wanderten Millionen Schwarze in den industriellen Norden aus. Für die Bewohner von Gee's Bend wäre das Ende fast schon mit dem Verfall der Baumwollpreise Anfang der 30er Jahre gekommen.

Ein freundlicher Geschäftsmann im benachbarten Camden, auf der anderen Seite des Alabama River, hatte ihnen das, was sie zum Leben brauchten, auf Kredit verkauft und ihre Baumwolle im Lager deponiert, in der Hoffnung, dass die Preise wieder steigen würden. Doch als der Händler im Herbst 1932 starb, ohne Unterlagen zu hinterlassen, ließ seine Witwe die Schulden gewaltsam eintreiben, von bewaffneten Männern, die mit der Fähre von Camden nach Gee's Bend übersetzten, von Hütte zu Hütte zogen, und ihre gesamte Habe mitnahmen. Arlonzia Pettway hat den Tag bis heute nicht vergessen.

Den Winter '32, '33 überlebten die meisten nur, weil sie sich von Beeren und Trauben ernährten, von der Jagd und vom Fischfang. Und hätte das Rote Kreuz nicht von ihrem Schicksal gehört und ihnen Essen gebracht, wären ganze Familien verhungert. Bis nach Washington drang die Kunde vom Schicksal der armen Schwarzen in Gee's Bend. Präsident Franklin D. Roosevelt schaltete sich ein, kaufte das Land auf und stellte 100 Familien zinsgünstige Darlehen für den Bau neuer Häuser und den Kauf bescheidener Farmen zur Verfügung.

20 Jahre später, als Gee's Bend und Wilcox County, damals eine der ärmsten Grafschaften im Süden der USA, schon wieder in Vergessenheit geraten waren, kam Martin Luther King in den abgelegenen Ort. Er war auf dem Weg nach Selma, wo er 1965 mit dem Marsch nach Montgomery der Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch verhalf.

Lucy Mingo erinnert sich noch gut. Sie sollten sich in das Wählerverzeichnis eintragen lassen, habe ihnen Martin Luther King gesagt. Nur so könnten sie etwas im Leben erreichen und Arbeitsplätze bekommen. Um sich registrieren zu lassen, mussten sie in die Bezirkshauptstadt, nach Camden. Doch wohl war ihnen nicht dabei, denn von den tausend Einwohnern Camdens waren fast alle weiß und feindselig. Und je öfter die Schwarzen nach Camden zogen, desto häufiger wurden sie mit Tränengas und Rauchbomben begrüßt, und ins Gefängnis gingen sie, aber es habe sich gelohnt, sagt Lucy Mingo, die immer dabei war: "Wir wurden als Wähler eingetragen."

Sie gewannen das Wahlrecht und verloren ihre Fähre. Bei Nacht und Nebel wurde die Fährverbindung nach Camden gestoppt. Verantwortlich für die Aktion war Camdens Sheriff, Lummie Jenkins. Nicht aus Rassengründen sei die Fährverbindung eingestellt worden, sagte er später. "Wir haben die Fähre nicht gestoppt, weil sie für die Schwarzen da war. Wir haben sie gestoppt, weil die Schwarzen vergessen hatten, dass sie schwarz waren."

Martin Luther King haben die Schwarzen aus Gee's Bend nie vergessen. Die beiden Maulesel, die bei seiner Beerdigung in Atlanta den Leichenwagen zogen, kamen aus ihrem Ort. Und wenn es nach den Bewohnern von Gee's Bend gegangen wäre, wäre ihr Ort nach Dr. King benannt worden. Doch auch so haben sie allen Anlass, stolz zu sein auf das, was sie heute repräsentieren. Das hat nicht nur mit ihrer Würde, ihrem Glauben und ihrer Musik, den Gospelsongs zu tun, das verdanken sie ihren Quilts, das, was die "New York Times" einmal " einige der wunderbarsten Werke moderner Kunst" nannte, "die Amerika je hervorgebracht hat".
Quilts sind prosaisch ausgedrückt, aus drei Lagen bestehende, mit kleinen Quiltstichen zusammengenähte Bettdecken. Arlonzia Pettway und Lucy Mingo haben das Quilten von ihren Eltern und Großeltern gelernt. Eine alte Tradition, über Generationen hinweg lebendig erhalten.
Mit 14 begann Lucy Mingo zu quilten, Decken aus zusammengenähten Stoffresten, aus Baumwolle und Cord. Jeden Tag, wenn sie von der Feldarbeit nach Hause kam, vom Baumwollpflücken, und die Kinder in der Schule waren, machte sie sich an Quilten. Gebrauchsgegenstände waren die Quilts, sie sollten die Kinder warm halten, denn sie lebten nicht in gut isolierten Häusern, da war es kalt in der Nacht und zugig und so deckten sie ihre Kinder mit Quilts zu.

1965 wurden ihre Quilts von einem Bürgerrechtler entdeckt, der sie zufällig auf der Wäscheleine sah. Er organisierte eine Quilt-Genossenschaft, die "Freedom Quilting Bee", und stellte Kontakte zu großen Warenhäusern her. Berühmt wurden die Quilts von Gee's Bend aber erst durch den Kunstsammler, William Arnett. Ihm und seiner Stiftung, der Tinwood Alliance in Atlanta, haben es die Quilterinnen zu verdanken, dass ihre Arbeit seit einigen Jahren in den besten Museen des Landes ausgestellt wird, ihre Waren zu Preisen verkauft werden, von denen sie einst nur träumen konnten.

Auch Arlonzia Pettway konnte zunächst nichts damit anfangen, als ihr gesagt wurde, ihre Quilts seien Kunstwerke. Jetzt ist sie glücklich, dass sie Quilts hat, die man an die Wand hängen kann wie ein Gemälde. Und alle drei Monate begleitet sie ihre Quilts zu den Ausstellungen, und freut sich darüber, dass die Menschen Gefallen finden an ihrer Arbeit, ihrer Kunst.