Die Geschichte einer Sehnsucht
Der aus Rostock stammende Schriftsteller Peter Wawerzinek wurde 2010 für seinen autobiografischen Roman "Rabenliebe" mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Jetzt gibt es gleich zwei Interpretationen dieses Textes als Hörspiel.
Peter Wawerzinek: "Was für eine erbärmliche Frau da auf was für einem erbärmlichen Gestühl sitzt. Nicht den Schatten wert, der sich schwach von ihr auf dem Boden abzeichnet."
Als Peter Wawerzinek seine Mutter nach mehr als fünfzig Jahren wiedersah, begegnete er einer kalten Frau. Das Kinderheim, in das Wawerzinek kam, nachdem sie ihn verlassen hatte, war sein Glück. Doch das Glück hatte eine Leerstelle – die Mutter fehlte. Wie eine immer größer werdende Last, trug er schwer am Fehlen der Mutter. In "Rabenliebe" erzählt Peter Wawerzinek die Geschichte seiner Sehnsucht.
Peter Wawerzinek: "Ich war ein Idiot, als ich mich entschloss, zur Mutter zu fahren. Ich war ein Idiot, als ich mich habe nicht adoptieren lassen wollen. Ich war ein Idiot, als ich den Schlaumeier zuzuhören begann, die mir einzureden versuchten, ich wäre beim Ringen ums menschliche Gleichgewicht auf der Verliererstrecke, wenn ich nicht zur verlorenen Mutter zurückfinde. Ich hätte durch den Muttermangel bereits sichtbaren Schaden genommen, müsse wettmachen, die Mutter aufspüren, den tiefen Graben zwischen uns überbrücken, unbedingt auf die Mutter zugehen, sie in die Arme schließen, dass sie ruhig sterben könne."
Es liegt Schnee auf den Wegen, die Wawerzinek beschreitet, als er sich einen Weg in die Vergangenheit bahnt. Dabei begegnet er einem Kind, das sich nach Wärme sehnt, und das am Mutterverlust zu erfrieren droht. Doch als er Jahre später die Mutter findet, wird es in dem Raum, in dem er ihr gegenübersitzt, nicht warm.
Peter Wawerzinek: "Wir gehen uns nichts an. Wir verplempern Zeit."
Peter Wawerzineks Lesung gleicht einer Inszenierung. Er wechselt die Tonlagen, Liedpassagen werden gesungen, er säuselt, fleht, redet im Dialekt, zieht Wörter in die Länge oder spricht sie mit spitzer Zunge. So entsteht ein lebendiges, mit viel Humor unterlegtes Einmannschauspiel.
Ganz anders liest Michael Rotschopf Wawerzineks Roman "Rabenliebe". Seine Stimme bewegt sich vorsichtig auf dem mit Raureif überzogenen Grund einer tief verletzten Kinderseele. Er versteht es, der im Roman herrschenden Kälte stimmlichen Ausdruck zu verleihen. Bietet es die Textvorlage an, spricht er sehr gekonnt in verteilten Rollen. Dominant aber ist Rotschopfs klare, Kälte spürbar machende Stimme.
Michael Rotschopf: "Ich leide am Verlust weiblicher Wärme. Hoffen und Bangen sind als unendliche Aktion auch eine Form von Wärmebildung. Hätte ich nicht Wärme gesammelt, mit Wärme gegeizt, jedwede Form von Hoffnung geheimst, mich an Wärme vergriffen, mir an Zukunft genommen, wo ich ihrer habhaft werden konnte, um nicht zu erfrieren, als Lichtlein nicht auszugehen nach dem Entzünden, Brüder, Schwestern, ich wäre in den Kinderheimen erfroren."
Peter Wawerzinek wollte herausfinden, was das für eine Mutter ist, die nichts dazu bewegen konnte, ihr Versteck zu verlassen. Doch während er sich geografisch auf sie zu bewegt, entfernte er sich innerlich von ihr. Er wird "muttersatt" und schließlich "muttermüde". Das Wiedersehen mit der Mutter bildet den Schlusspunkt seiner Suche. Für ihn ist es eine Befreiung. Dass Peter Wawerzinek am Mutterverlust nicht zerbrochen ist, kann man hören. Lesend triumphiert er über den Verrat, den sie an ihm begangen hat.
Michael Rotschopf setzt andere stimmliche Akzente. Sehr überzeugend vermag er mit der gebotenen Distanz – in der Wut und Traurigkeit Raum bekommen – den Facetten Ausdruck zu verleihen, die diesem Kindheitsdrama eingeschrieben sind. Peter Wawerzinek und Michael Rotschopf lesen ein und dasselbe Buch und man glaubt doch, dass jeder eine andere Geschichte zu Gehör bringen will und muss.
Peter Wawerzinek: "Ich bleibe das Kind ohne Heim. Die Mutter ist ein Gespinst, eine Farce, ein Trugbild, das ich nicht länger mehr durch mein Leben tragen will. Die fernste Ferne ist erreicht. Es gibt keine Nähe zu vermelden."
Michael Rotschopf: "Ich sitze am Tisch. Ich esse den Kuchen nicht. Ich schaue die Mutter an und wende mich ab von ihr. Im Namen der Schwester, im Namen unserer gemeinsamen Not, wir bleiben mutterlos, der Schlussstrich ist zu ziehen, die Mutter aus dem Spielplan zu nehmen und als Theaterstück abzusetzen. Die Mutter sagt nichts. Alles spricht gegen sie. Sie sitzt vor mir und es gibt sie nicht."
Jeder der beiden Sprecher setzt andere Akzente. Welche Interpretation man auch hört, sie bleibt lange in Erinnerung.
Besprochen von Michael Opitz
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
Live-Mitschnitt einer Autorenlesung im Berliner Maxim Gorki Theater
Argon Verlag, Berlin 2011
2 CDs, Gesamtlaufzeit 144 Minuten, 14,95 Euro
Und:
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
gelesen von Michael Rotschopf
Argon Verlag, Berlin 2011
9 CDs, Gesamtlaufzeit 619 Minuten, 34,95 Euro
Als Peter Wawerzinek seine Mutter nach mehr als fünfzig Jahren wiedersah, begegnete er einer kalten Frau. Das Kinderheim, in das Wawerzinek kam, nachdem sie ihn verlassen hatte, war sein Glück. Doch das Glück hatte eine Leerstelle – die Mutter fehlte. Wie eine immer größer werdende Last, trug er schwer am Fehlen der Mutter. In "Rabenliebe" erzählt Peter Wawerzinek die Geschichte seiner Sehnsucht.
Peter Wawerzinek: "Ich war ein Idiot, als ich mich entschloss, zur Mutter zu fahren. Ich war ein Idiot, als ich mich habe nicht adoptieren lassen wollen. Ich war ein Idiot, als ich den Schlaumeier zuzuhören begann, die mir einzureden versuchten, ich wäre beim Ringen ums menschliche Gleichgewicht auf der Verliererstrecke, wenn ich nicht zur verlorenen Mutter zurückfinde. Ich hätte durch den Muttermangel bereits sichtbaren Schaden genommen, müsse wettmachen, die Mutter aufspüren, den tiefen Graben zwischen uns überbrücken, unbedingt auf die Mutter zugehen, sie in die Arme schließen, dass sie ruhig sterben könne."
Es liegt Schnee auf den Wegen, die Wawerzinek beschreitet, als er sich einen Weg in die Vergangenheit bahnt. Dabei begegnet er einem Kind, das sich nach Wärme sehnt, und das am Mutterverlust zu erfrieren droht. Doch als er Jahre später die Mutter findet, wird es in dem Raum, in dem er ihr gegenübersitzt, nicht warm.
Peter Wawerzinek: "Wir gehen uns nichts an. Wir verplempern Zeit."
Peter Wawerzineks Lesung gleicht einer Inszenierung. Er wechselt die Tonlagen, Liedpassagen werden gesungen, er säuselt, fleht, redet im Dialekt, zieht Wörter in die Länge oder spricht sie mit spitzer Zunge. So entsteht ein lebendiges, mit viel Humor unterlegtes Einmannschauspiel.
Ganz anders liest Michael Rotschopf Wawerzineks Roman "Rabenliebe". Seine Stimme bewegt sich vorsichtig auf dem mit Raureif überzogenen Grund einer tief verletzten Kinderseele. Er versteht es, der im Roman herrschenden Kälte stimmlichen Ausdruck zu verleihen. Bietet es die Textvorlage an, spricht er sehr gekonnt in verteilten Rollen. Dominant aber ist Rotschopfs klare, Kälte spürbar machende Stimme.
Michael Rotschopf: "Ich leide am Verlust weiblicher Wärme. Hoffen und Bangen sind als unendliche Aktion auch eine Form von Wärmebildung. Hätte ich nicht Wärme gesammelt, mit Wärme gegeizt, jedwede Form von Hoffnung geheimst, mich an Wärme vergriffen, mir an Zukunft genommen, wo ich ihrer habhaft werden konnte, um nicht zu erfrieren, als Lichtlein nicht auszugehen nach dem Entzünden, Brüder, Schwestern, ich wäre in den Kinderheimen erfroren."
Peter Wawerzinek wollte herausfinden, was das für eine Mutter ist, die nichts dazu bewegen konnte, ihr Versteck zu verlassen. Doch während er sich geografisch auf sie zu bewegt, entfernte er sich innerlich von ihr. Er wird "muttersatt" und schließlich "muttermüde". Das Wiedersehen mit der Mutter bildet den Schlusspunkt seiner Suche. Für ihn ist es eine Befreiung. Dass Peter Wawerzinek am Mutterverlust nicht zerbrochen ist, kann man hören. Lesend triumphiert er über den Verrat, den sie an ihm begangen hat.
Michael Rotschopf setzt andere stimmliche Akzente. Sehr überzeugend vermag er mit der gebotenen Distanz – in der Wut und Traurigkeit Raum bekommen – den Facetten Ausdruck zu verleihen, die diesem Kindheitsdrama eingeschrieben sind. Peter Wawerzinek und Michael Rotschopf lesen ein und dasselbe Buch und man glaubt doch, dass jeder eine andere Geschichte zu Gehör bringen will und muss.
Peter Wawerzinek: "Ich bleibe das Kind ohne Heim. Die Mutter ist ein Gespinst, eine Farce, ein Trugbild, das ich nicht länger mehr durch mein Leben tragen will. Die fernste Ferne ist erreicht. Es gibt keine Nähe zu vermelden."
Michael Rotschopf: "Ich sitze am Tisch. Ich esse den Kuchen nicht. Ich schaue die Mutter an und wende mich ab von ihr. Im Namen der Schwester, im Namen unserer gemeinsamen Not, wir bleiben mutterlos, der Schlussstrich ist zu ziehen, die Mutter aus dem Spielplan zu nehmen und als Theaterstück abzusetzen. Die Mutter sagt nichts. Alles spricht gegen sie. Sie sitzt vor mir und es gibt sie nicht."
Jeder der beiden Sprecher setzt andere Akzente. Welche Interpretation man auch hört, sie bleibt lange in Erinnerung.
Besprochen von Michael Opitz
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
Live-Mitschnitt einer Autorenlesung im Berliner Maxim Gorki Theater
Argon Verlag, Berlin 2011
2 CDs, Gesamtlaufzeit 144 Minuten, 14,95 Euro
Und:
Peter Wawerzinek: Rabenliebe
gelesen von Michael Rotschopf
Argon Verlag, Berlin 2011
9 CDs, Gesamtlaufzeit 619 Minuten, 34,95 Euro