Die Geschichte eines gebrochenen Mannes
Mehr als 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Michail Scholochows "Ein Menschenschicksal" legt die Büchergilde eine deutsche Neuausgabe vor. In der Erzählung schildert Scholochow, der 1965 für den Romanzyklus "Der stille Don" den Literaturnobelpreis erhielt, die tragische Lebensgeschichte des Soldaten und Zwangsarbeiters Andrej Sokolow.
Wer Michail Scholochow wirklich war, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Seinen Befürwortern gilt er als "proletarischer Tolstoi", seinen Gegnern als stalinistischer Literatur- und Politik-Funktionär, der sich nicht zu schade war, an vorderster Front verbal und publizistisch auf Dissidenten wie Andrej Sinjawski oder Alexander Solschenizyn einzuschlagen.
In gewisser Weise treffen beide Bewertungen zu: Für seinen epochalen Romanzyklus "Der stille Don" erhielt der Schriftsteller 1965 nicht weniger als den Nobelpreis für Literatur, sein Engagement als linientreuer Funktionär war jederzeit offensichtlich. All das wäre eine Frage der Meinungen, der Vorlieben und Abneigungen, wenn da nicht jener entscheidende Zweifel in der Welt wäre, ob Scholochow überhaupt der Autor des "Stillen Don" und anderer Werke sei. Ob er nicht ein Plagiator war, der Originalmanuskripte des Schriftstellers Fjodor Krjukow in seinen Besitz brachte und diese regelrecht ausschlachtete. Während heute ein wesentlicher Teil der literaturwissenschaftlichen Forschung diese Unterstellung als nicht haltbar ablehnt, geht die abenteuerlichste – und ihrerseits zum Romanstoff taugende – These sogar davon aus, dass Scholochow kaum eines seiner Werke selbst verfasst hat, sondern die willige Vorzeige-Marionette der Schreibwerkstätten des sowjetischen Geheimdienstes war. Der letzte Beweis in dieser Streitfrage wird sich wohl kaum erbringen lassen, denn jene Originalmanuskripte, die Scholochow als Vorlage gedient haben sollen, sind vermutlich unwiederbringlich verschollen.
"Ein Menschenschicksal" ist eine große Erzählung. Ihre Wirkung beruht auf der ergreifenden Wucht jenes Schicksalsschlags, den der Zweite Weltkrieg (der Große Vaterländische Krieg in russischer Terminologie) dem Leben eines einfachen Mannes versetzt hat. Dieser erzählt seine Lebensgeschichte im ersten Nachkriegsfrühling dem Ich-Erzähler während einer zufälligen Begegnung. Der Kraftfahrer Andrej Sokolow hat sein Leben auf die Bahn eines bescheidenen Glücks gebracht, er hat eine Frau, die er liebt, und mit ihr drei Kinder. Die Familie wohnt in einem eigenen kleinen Haus am Rand einer Provinzstadt, als der Krieg ausbricht. Andrej wird einberufen, er kämpft an der Front, wird mehrmals verwundet und gerät schließlich in deutsche Gefangenschaft. Er schildert die Umstände seines Lebens als "Arbeitstier", all die Grausamkeiten, Demütigungen, physischen und seelischen Qualen, die er zu überstehen hat. Ihm gelingt schließlich die Flucht, aber nun erwartet ihn der eigentliche Schlag: Er erfährt, dass seine Frau und seine beiden Töchter gleich zu Beginn des Krieges getötet wurden, als eine Bombe das Haus traf. Sein Schmerz erfährt ein wenig Linderung, als er ein Lebenszeichen seines Sohnes, inzwischen Offizier an der Front, erhält. Aber auch dieser Trost ist ihm letztlich nicht vergönnt. Im allerletzten Kriegsmoment wird sein Sohn in Berlin von einem Scharfschützen erschossen. Sokolow ist ein zerstörter und gebrochener Mann mit leerem Blick, als der Ich-Erzähler ihm begegnet. Aber er hat einen fünfjährigen Jungen, eine der vielen streunenden Kriegswaisen jener Zeit, faktisch adoptiert und ist mit dem Kind auf dem Weg, um eine neue Arbeitsstelle anzutreten.
Das Pathos dieser Erzählung kleidet sich in eine schlichte Sprache und entfaltet auf diese Weise seine ganze Dimension. Es ist die Dimension einer großen menschlichen Tragödie, die frei ist von allen falschen Tönen.
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Michail Scholochow: Ein Menschenschicksal. Erzählung
Aus dem Russischen von Otto Braun. Mit einem Vorwort von Willi Beitz und Illustrationen von Horst Hussel
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2009
110 Seiten, 12,90 Euro
In gewisser Weise treffen beide Bewertungen zu: Für seinen epochalen Romanzyklus "Der stille Don" erhielt der Schriftsteller 1965 nicht weniger als den Nobelpreis für Literatur, sein Engagement als linientreuer Funktionär war jederzeit offensichtlich. All das wäre eine Frage der Meinungen, der Vorlieben und Abneigungen, wenn da nicht jener entscheidende Zweifel in der Welt wäre, ob Scholochow überhaupt der Autor des "Stillen Don" und anderer Werke sei. Ob er nicht ein Plagiator war, der Originalmanuskripte des Schriftstellers Fjodor Krjukow in seinen Besitz brachte und diese regelrecht ausschlachtete. Während heute ein wesentlicher Teil der literaturwissenschaftlichen Forschung diese Unterstellung als nicht haltbar ablehnt, geht die abenteuerlichste – und ihrerseits zum Romanstoff taugende – These sogar davon aus, dass Scholochow kaum eines seiner Werke selbst verfasst hat, sondern die willige Vorzeige-Marionette der Schreibwerkstätten des sowjetischen Geheimdienstes war. Der letzte Beweis in dieser Streitfrage wird sich wohl kaum erbringen lassen, denn jene Originalmanuskripte, die Scholochow als Vorlage gedient haben sollen, sind vermutlich unwiederbringlich verschollen.
"Ein Menschenschicksal" ist eine große Erzählung. Ihre Wirkung beruht auf der ergreifenden Wucht jenes Schicksalsschlags, den der Zweite Weltkrieg (der Große Vaterländische Krieg in russischer Terminologie) dem Leben eines einfachen Mannes versetzt hat. Dieser erzählt seine Lebensgeschichte im ersten Nachkriegsfrühling dem Ich-Erzähler während einer zufälligen Begegnung. Der Kraftfahrer Andrej Sokolow hat sein Leben auf die Bahn eines bescheidenen Glücks gebracht, er hat eine Frau, die er liebt, und mit ihr drei Kinder. Die Familie wohnt in einem eigenen kleinen Haus am Rand einer Provinzstadt, als der Krieg ausbricht. Andrej wird einberufen, er kämpft an der Front, wird mehrmals verwundet und gerät schließlich in deutsche Gefangenschaft. Er schildert die Umstände seines Lebens als "Arbeitstier", all die Grausamkeiten, Demütigungen, physischen und seelischen Qualen, die er zu überstehen hat. Ihm gelingt schließlich die Flucht, aber nun erwartet ihn der eigentliche Schlag: Er erfährt, dass seine Frau und seine beiden Töchter gleich zu Beginn des Krieges getötet wurden, als eine Bombe das Haus traf. Sein Schmerz erfährt ein wenig Linderung, als er ein Lebenszeichen seines Sohnes, inzwischen Offizier an der Front, erhält. Aber auch dieser Trost ist ihm letztlich nicht vergönnt. Im allerletzten Kriegsmoment wird sein Sohn in Berlin von einem Scharfschützen erschossen. Sokolow ist ein zerstörter und gebrochener Mann mit leerem Blick, als der Ich-Erzähler ihm begegnet. Aber er hat einen fünfjährigen Jungen, eine der vielen streunenden Kriegswaisen jener Zeit, faktisch adoptiert und ist mit dem Kind auf dem Weg, um eine neue Arbeitsstelle anzutreten.
Das Pathos dieser Erzählung kleidet sich in eine schlichte Sprache und entfaltet auf diese Weise seine ganze Dimension. Es ist die Dimension einer großen menschlichen Tragödie, die frei ist von allen falschen Tönen.
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Michail Scholochow: Ein Menschenschicksal. Erzählung
Aus dem Russischen von Otto Braun. Mit einem Vorwort von Willi Beitz und Illustrationen von Horst Hussel
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2009
110 Seiten, 12,90 Euro