Die Geschichte, in der alle Dinge sichtbar werden
Guus Kuijer beginnt sein Buch damit, dass er den jungen Lesern zunächst erzählt, was er eigentlich schreiben wollte: Ein lustiges und rührendes Buch über einen glücklichen Jungen. Doch dann kam ein fremder Mann zu ihm – Thomas Klopper – und erzählte ihm die Geschichte eines unglücklichen Kindes. Und zum Glück hat der Autor seine Pläne umgeworfen und hat die Geschichte von Thomas und seinem "Buch von allen Dingen" aufgeschrieben. Es ist ein Buch von Glauben und Zweifel, von Phantasie und knallharter Realität.
"Es hagelte so stark, dass es die Blätter von den Bäumen riss. Das ist wirklich passiert, in der Jan-van-Eyck-Straße im Sommer 1951, als ich neun Jahre alt war."
Thomas schaute aus dem Fenster, um nachzudenken, denn ohne Fenster konnte er nicht denken. Oder andersherum: Wenn ein Fenster da war, kam das Denken ganz von selbst. Dann schrieb er:
"Später werde ich glücklich"
Thomas sieht Dinge, die sonst niemand sieht. Als er am Fenster sitzt und in sein Buch schreibt, ist von Hagel nichts zu sehen. Draußen ist Frühling, doch für Thomas ist auf einmal Herbst. Und weil er das den anderen schlecht mitteilen kann, schreibt er es in sein Buch: "Das Buch von allen Dingen."
""Sonntag ist der einzige Tag, den man wie eine Schubkarre vor sich herschieben muss. Alle anderen Tage rollen ganz von allein die Brücke hinunter."
Sonntags gingen sie in die Kirche. Nicht in eine normale Kirche, sondern in eine besondere Kirche weit weg. Fast niemand ging in diese Kirche, aber sie wohl: Vater, Mutter, Margot und Thomas. Vater mit einem Hut und Mutter mit einem Kopftuch. Man durfte die Frisur der Frauen nicht sehen. Sie gingen zu Fuß, weil Gott nicht wollte, dass sie am Sonntag Straßenbahn fuhren. Die Straßenbahnen fuhren trotzdem, und das gefiel Gott nicht."
Was Gott gefällt und was nicht, bestimmt Thomas' Vater. Als streng gläubiger Protestant übersieht er kein einziges Gebot - außer dem Gebot der Nächstenliebe. Als Thomas es wagt, einen Gesangstext völlig falsch zu interpretieren, da knallt der Kochlöffel so oft auf ihn herab, dass er fast vom Glauben abfällt. Für Thomas gibt es aber noch Schlimmeres.
"Mutter zog Thomas vom Vater weg und legte ihm schützend einen Arm um die Schultern. Da schnellte Vaters Hand plötzlich vor und landete klatschend auf Mutters Wange. Die Engel im Himmel schluchzten, denn das tun sie immer, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Eine tiefe Trauer senkte sich auf die Erde nieder.
Thomas Hintern fühlte ich an wie ein Stecknadelkissen. Er starrte auf das Fenster und flüsterte:
"Lieber Gott, kann es dich bitte geben? Schick meinem Vater alle Plagen Ägyptens, bitte! Er hat Mama geschlagen, und das war nicht das erste Mal:"
Gott sagte kein einziges Wort. Die Engel versuchten, ihre Tränen zu trocknen, doch ihre Taschentücher waren so nass, dass es selbst in den Wüsten zu regnen begann."
Wer das "Buch von allen Dingen" liest, der erlebt gleichermaßen biblische Plagen und biblische Wunder. Thomas hat keine Wahl. Er muss sich den Gesetzen des Vaters fügen. Aber im Verborgenen geht er seiner eigenen Wege. Er besucht eine als Hexe verschriene Nachbarin, die ihren Mann im Widerstand verloren hat und ihm beibringt, seine Angst abzulegen. Er begegnet Elisa mit der verstümmelten Hand und dem knirschenden Lederbein und erkennt ihre Schönheit. Und vor allem erscheint ihm der Herr Jesus, den er einfach Jesus nennen darf. Jesus ist ganz anders als der Gott des strengen Vaters. Und vermutlich auch anders als der Jesus, den wir Erwachsenen uns vorstellen.
""Hallo Thomas" hörte Thomas jemanden in seinem Kopf sagen. Im Dunklen hinter den Augenlidern sah er Jesus in einem langen weißen Gewand.
"Wie geht es dir, lieber Junge?" fragte Jesus. Thomas wagte nicht, zu sprechen.
"Keine Angst, Kleiner. Mir kannst du es ruhig sagen. Ich erzähle es keinem weiter – Ehrenwort." Der Herr Jesus spuckte sich auf die rechte Hand und hob die Finger zum Schwur."
Thomas und Jesus unterhalten sich über Väter und Söhne, über Gottes Schweigen und Gottes Liebe. Es sind kurze Gespräche ohne Pathos, und sie stehen in einer Reihe mit Thomas' Besuchen bei seiner Nachbarin oder mit der Revolution seiner Tante.
"Tante Pie kam die Treppe heraufgestürmt. Es war, als käme die Sonne ins Haus gerollt. Aber Tante Pie sah diesmal nicht fröhlich aus. Sie stemmte ihre Hände in die Seiten und rief:
"Benno hat mich geschlagen! Und wisst ihr warum? Weil ich mir eine Damenhose gekauft habe! Der ist doch plemplem!"
Die Vögel in den Bäumen hörten auf zu singen und der Wind legte sich. Die Kirchenglocken fingen spontan an zu läuten und die Straßenbahnen blieben knirschend stehen. Onkel Benno hatte Tante Pie geschlagen! Die Bestürzung im Land war groß."
Tante Pie bringt den Stein ins Rollen. Sie fügt sich nicht den Gesetzen des Patriarchats, und sie entlarvt auch ihren Schwager als gewalttätigen Despoten. Immer stärker wird der Widerstand der Mutigen und Friedlichen. Dazu gehören Thomas, seine Mutter und seine Schwester, die einen erstaunlichen Wandel durchläuft. Dazu gehören auch die Nachbarin und Elisa, und natürlich Jesus, der Thomas stärkt und am Ende den neugierigen Engeln Bericht erstattet.
""Wie geht es Thomas?", fragten die Engel im Chor. Ihr müsst nämlich wissen, dass sie alle hoffnungslos verliebt in Thomas waren, "Holst du ihn bald zu dir?"
"Nein", sagte Jesus, "Ihr hättet sowieso keine Chance bei ihm. Keiner von euch hat ein Lederbein, das beim Gehen knirscht.
Dazu fiel den Engeln nichts mehr ein. Sie waren alle miteinander wunderschön, aber ein Lederbein hatten sie nicht. Man kann eben nicht alles haben."
Guus Kuijer: "Das Buch von allen Dingen"
Übersetzung: Sylke Hachmeister
Oetinger Verlag, 95 Seiten, 9,90 €
Altersempfehlung: Ab 8 Jahre
Thomas schaute aus dem Fenster, um nachzudenken, denn ohne Fenster konnte er nicht denken. Oder andersherum: Wenn ein Fenster da war, kam das Denken ganz von selbst. Dann schrieb er:
"Später werde ich glücklich"
Thomas sieht Dinge, die sonst niemand sieht. Als er am Fenster sitzt und in sein Buch schreibt, ist von Hagel nichts zu sehen. Draußen ist Frühling, doch für Thomas ist auf einmal Herbst. Und weil er das den anderen schlecht mitteilen kann, schreibt er es in sein Buch: "Das Buch von allen Dingen."
""Sonntag ist der einzige Tag, den man wie eine Schubkarre vor sich herschieben muss. Alle anderen Tage rollen ganz von allein die Brücke hinunter."
Sonntags gingen sie in die Kirche. Nicht in eine normale Kirche, sondern in eine besondere Kirche weit weg. Fast niemand ging in diese Kirche, aber sie wohl: Vater, Mutter, Margot und Thomas. Vater mit einem Hut und Mutter mit einem Kopftuch. Man durfte die Frisur der Frauen nicht sehen. Sie gingen zu Fuß, weil Gott nicht wollte, dass sie am Sonntag Straßenbahn fuhren. Die Straßenbahnen fuhren trotzdem, und das gefiel Gott nicht."
Was Gott gefällt und was nicht, bestimmt Thomas' Vater. Als streng gläubiger Protestant übersieht er kein einziges Gebot - außer dem Gebot der Nächstenliebe. Als Thomas es wagt, einen Gesangstext völlig falsch zu interpretieren, da knallt der Kochlöffel so oft auf ihn herab, dass er fast vom Glauben abfällt. Für Thomas gibt es aber noch Schlimmeres.
"Mutter zog Thomas vom Vater weg und legte ihm schützend einen Arm um die Schultern. Da schnellte Vaters Hand plötzlich vor und landete klatschend auf Mutters Wange. Die Engel im Himmel schluchzten, denn das tun sie immer, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Eine tiefe Trauer senkte sich auf die Erde nieder.
Thomas Hintern fühlte ich an wie ein Stecknadelkissen. Er starrte auf das Fenster und flüsterte:
"Lieber Gott, kann es dich bitte geben? Schick meinem Vater alle Plagen Ägyptens, bitte! Er hat Mama geschlagen, und das war nicht das erste Mal:"
Gott sagte kein einziges Wort. Die Engel versuchten, ihre Tränen zu trocknen, doch ihre Taschentücher waren so nass, dass es selbst in den Wüsten zu regnen begann."
Wer das "Buch von allen Dingen" liest, der erlebt gleichermaßen biblische Plagen und biblische Wunder. Thomas hat keine Wahl. Er muss sich den Gesetzen des Vaters fügen. Aber im Verborgenen geht er seiner eigenen Wege. Er besucht eine als Hexe verschriene Nachbarin, die ihren Mann im Widerstand verloren hat und ihm beibringt, seine Angst abzulegen. Er begegnet Elisa mit der verstümmelten Hand und dem knirschenden Lederbein und erkennt ihre Schönheit. Und vor allem erscheint ihm der Herr Jesus, den er einfach Jesus nennen darf. Jesus ist ganz anders als der Gott des strengen Vaters. Und vermutlich auch anders als der Jesus, den wir Erwachsenen uns vorstellen.
""Hallo Thomas" hörte Thomas jemanden in seinem Kopf sagen. Im Dunklen hinter den Augenlidern sah er Jesus in einem langen weißen Gewand.
"Wie geht es dir, lieber Junge?" fragte Jesus. Thomas wagte nicht, zu sprechen.
"Keine Angst, Kleiner. Mir kannst du es ruhig sagen. Ich erzähle es keinem weiter – Ehrenwort." Der Herr Jesus spuckte sich auf die rechte Hand und hob die Finger zum Schwur."
Thomas und Jesus unterhalten sich über Väter und Söhne, über Gottes Schweigen und Gottes Liebe. Es sind kurze Gespräche ohne Pathos, und sie stehen in einer Reihe mit Thomas' Besuchen bei seiner Nachbarin oder mit der Revolution seiner Tante.
"Tante Pie kam die Treppe heraufgestürmt. Es war, als käme die Sonne ins Haus gerollt. Aber Tante Pie sah diesmal nicht fröhlich aus. Sie stemmte ihre Hände in die Seiten und rief:
"Benno hat mich geschlagen! Und wisst ihr warum? Weil ich mir eine Damenhose gekauft habe! Der ist doch plemplem!"
Die Vögel in den Bäumen hörten auf zu singen und der Wind legte sich. Die Kirchenglocken fingen spontan an zu läuten und die Straßenbahnen blieben knirschend stehen. Onkel Benno hatte Tante Pie geschlagen! Die Bestürzung im Land war groß."
Tante Pie bringt den Stein ins Rollen. Sie fügt sich nicht den Gesetzen des Patriarchats, und sie entlarvt auch ihren Schwager als gewalttätigen Despoten. Immer stärker wird der Widerstand der Mutigen und Friedlichen. Dazu gehören Thomas, seine Mutter und seine Schwester, die einen erstaunlichen Wandel durchläuft. Dazu gehören auch die Nachbarin und Elisa, und natürlich Jesus, der Thomas stärkt und am Ende den neugierigen Engeln Bericht erstattet.
""Wie geht es Thomas?", fragten die Engel im Chor. Ihr müsst nämlich wissen, dass sie alle hoffnungslos verliebt in Thomas waren, "Holst du ihn bald zu dir?"
"Nein", sagte Jesus, "Ihr hättet sowieso keine Chance bei ihm. Keiner von euch hat ein Lederbein, das beim Gehen knirscht.
Dazu fiel den Engeln nichts mehr ein. Sie waren alle miteinander wunderschön, aber ein Lederbein hatten sie nicht. Man kann eben nicht alles haben."
Guus Kuijer: "Das Buch von allen Dingen"
Übersetzung: Sylke Hachmeister
Oetinger Verlag, 95 Seiten, 9,90 €
Altersempfehlung: Ab 8 Jahre