"Die Deutschen lieben Mauern"
Seit den 90ern verbindet die frühere Punkband Die Goldenen Zitronen musikalische Experimente mit Agit-Prop. Auf ihrem neuen Album ätzt sie wieder gegen alles, was sie nervt. Warum es in einem Song um Mauern geht, erklärt Gitarrist Ted Gaier.
Die Goldenen Zitronen gehören zum Inventar der deutschen Punkgeschichte. In den 80er-Jahren als quietschbunte Funpunk-Band gegründet, die es sogar in die "Bravo" schaffte, vollzog die Hamburger Band in den 90ern unter den Eindrücken der rechten Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen einen ästhetischen Bruch: Nicht mehr Mitgröhl-Songs standen fortan im Vordergrund, sondern musikalische Experimente mit ätzenden Agit-Prop-Texten.
Ihren Wurzeln sind sie treu geblieben. "Wir fühlen uns in gewisser Weise immer noch dem linksradikalen Milieu zugehörig", sagt Ted Gaier im Deutschlandfunk Kultur. Mit im Gepäck haben er und Schorsch Kamerun ein neues Album: "More than a Feeling", eine bewusste Anspielung auf den gleichnamigen, von vielen als peinlich empfundenen Ohrwurm-Klassiker der US-Band Boston.
"Wer ist denn dieses 'Wir'?"
Auch auf diesem Album teilen die Goldenen Zitronen wieder aus: Gegen die AfD, die Politik im Allgemeinen, aber auch gegen die gentrifizierten Großstadtkieze und den schwarzen Block.
Wenn die Goldenen Zitronen im zweiten Stück ihres Albums in Richtung der AfD singen "Baut doch eine Mauer um den Scheißkontinent", dann hat diese Drastik im Ausdruck auch viel mit den Frustrationen zu tun, auf die man in persönlichen Begegnungen unter Geflüchteten stößt, erzählt Gaier. Er meint damit explizit auch Frustrationen jenseits der Asylpolitik:
"Die Folgen des Kolonialismus und all das, das wurde überhaupt noch nie diskutiert- nicht wirklich. Es hat sich niemand dafür entschuldigt. Es wurden auch nie Reparationszahlungen gemacht, nichts davon. Stattdessen wird immer dieses Bild aufgebaut: Wir werden überschwemmt. Dieses sogenannte 'Wir', wo ich mich immer frage: Wer ist denn dieses 'Wir'?"
"Wer möchte hinter der Mauer leben?"
Sehr bewusst wählte man für dieses Stück in Anspielung auf die deutsch-deutsche Vergangenheit das Bild der Mauer: "Die Mauer war ja überhaupt das Brutalste an Unmenschlichkeit, was man sich im Kalten Krieg vorstellen konnte", sagt Gaier. "Aber tatsächlich lieben Deutsche Mauern, habe ich den Eindruck. Das ist doch nur eine Frage, gegen wen die Mauer gebaut wurde."
Schorsch Kamerun ergänzt: "Wer genau will eigentlich hinter diesen Mauern sein? Und dann stellen wir eben die Frage, ob man diese Mauer testweise mal Drumrum bauen sollte. Und wer möchte dann da drin sein?"
Kritik an der linken Szene
Aber auch vor dem eigenen Milieu macht die Kritik der Band nicht halt. In dem Stück "Die alte Kaufmannsstadt, Juli 2017" befassen sie sich mit den Ausschreitungen beim G20-Gipfel 2019 in Hamburg. Beim Protest dagegen traten sie zwar selbst auf - siehe das eingebettete Video weiter unten -, doch fallen Anspruch und Realität in der linken Szene mitunter auseinander, beobachtet Gaier.
"In einer antiimperialistisch gemeinten Demo für die Guten der Welt fällt einem dann plötzlich auf: Moment Mal, wer spricht denn hier eigentlich?" Und Kamerun antwortet: "Weiße." Darüber hinaus habe der Schwarze Block "eine Frauenquote wie die Deutsche Industrie", so Gaier weiter.
In der Szene sind solche Äußerungen nicht gerne gesehen, sagt Gaier. Aber: "Gute Kunst oder überhaupt politische Debatten entstehen ja, indem man sich mit Realitäten auseinander setzt."
(thg)