Die Grande Dame der Karnevalszene

Von Kim Kindermann · 02.06.2006
Wo immer auf der Welt ein Straßenkarneval stattfindet - die Engländerin Barbara Agar ist dabei. Mit ihren farbgewaltigen und märchenhaften Kostümen gilt sie mittlerweile als die Grande Dame der Karnevalszene. Jedes Jahr organisiert sie den Karneval in der englischen Stadt Stockton und nun ist sie zum Karneval der Kulturen in Berlin angereist.
Der Fischmann zieht einen unausweichlich in seinen Bann: mit seiner blau-silbern strahlenden Schuppenhaut und den gewaltigen Flossen scheint er geradewegs auf einen zu zutauchen.

Nicht weniger beeindruckend: Das grüne Waldfabelwesen in seinem Blätterkostüm und den meterhohen Ästen, die sich auf seinem Rücken in die Höhe winden. Märchenhaft, berauschend, ungewöhnlich – das trifft auf alle von Babara Agar entworfenen Kostüme zu. Eine Frau, die von sich selbst sagt:

"Ich habe nicht die Zeit mich besonders außergewöhnlich herzurichten. Ich weiß, ich sehe überhaupt nicht aus wie eine Künstlerin. Das haben mir auch schon viele Leute gesagt, aber ich denke immer, nicht ich bin wichtig, sondern meine Kunst."

Tatsächlich stehen ihre farbgewaltigen Fantasie-Kunstwerke - auf den ersten Blick zumindest - im krassen Gegensatz zu ihr selbst: Leuchten dort sämtliche Farben des Universums dem Betrachter entgegen, kommt Barbara Agar ziemlich schlicht daher. Zur schwarzen Strickjacke trägt die groß gewachsene Engländerin ausgewaschene Jeans. Die schwarzen Haare sind streichholzkurz. Schmuck trägt sie keinen. Auffallend allein sind die strahlenden Augen. Mit ihren kleinen Lachfältchen erzählen sie viel über Barbara Agar selbst:

"Ich kann sehr gut über mich selbst lachen. Eigentlich die ganze Zeit. Richtig gut bin ich, wenn ich unter Druck arbeiten muss, dann kann ich allerdings auch unausstehlich werden. Außerdem bin ich sehr leidenschaftlich."

Seit 1993 ist Barbara Agar, die Kunst und Bildhauerei unter anderem bei Henry Moore studiert hat, offiziell im Karnevalsgeschäft. Und zwar hochoffiziell: Sie ist festangestellte Karnevalsbeauftragte der Stadt Stockton und organisiert jedes Jahr den mittlerweile international bekannten Umzug dieser nordöstlichen englischen Industriestadt. Dabei entwirft sie jedes der rund 300 Kostüme selbst.

In England ist sie die Grand Dame der Karnevalszunft. Studenten kommen, um bei ihr zu lernen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Richard - einem Event-Manager - hat sie eine eigene Company "Bravura" gegründet. Stockton ist der Knotenpunkt ihres Schaffens. Von hier trägt sie ihre Ideen hinaus in die Welt, wie jetzt nach Berlin.

"Der Karneval hier dreht sich viel mehr um die Menschen, um ihre Eigendarstellung. Wir benutzen den Karneval, die Gemeinde zu einen. Stockton hatte in der Vergangenheit ein paar soziale Brennpunkte und Probleme. Durch den Karneval und die Vorbereitungsarbeiten hat die Bevölkerung gelernt einander zu helfen, wir sehen uns jetzt wirklich als Familie."
Zurück in Berlin: Barbara Agar bei den Vorbereitungen zum Karneval der Kulturen. Auf, unter und neben dem Arbeitstisch stapeln sich die merkwürdigsten Materialen: Weidenzweige, PVC-Platten, Dauerwellenpapier, buntes Dämmmaterial, meterlange Wasserrohre, Holzplatten, Klarsichtfolie, Gartenschläuche. Und dazwischen Barbara Agar. Die 47-Jähige ist voll in ihrem Element, gibt Anweisungen, erklärt, welches Material, wozu am besten geeignet ist.

Sie scheint überall gleichzeitig zu sein. Hört und sieht alles. Überlastung? Nein, das kennt die Tochter eines Ingenieurs, die in Kalkutta zur Welt kam, nicht. Trubel gehörte einfach immer schon zu ihrem Leben.

"Ich habe zwei Brüder und zwei Schwestern. Ich bin die Älteste und ich musste schon früh Verantwortung übernehmen und sie beschäftigen. Da wir nicht viele Spielsachen hatten, haben wir oft Scherenschnitte gemacht oder haben - wenn Stifte da waren - viel gemalt. Das hört sich an, als ob wir arm waren, das stimmt aber nicht. Was ich damit meine ist: Wir mussten einfach oft einfallsreich sein."

Ruhe vom stressigen Karnevalalltag findet Barbara Agar zuhause: In ihrem alten Farmhaus herrscht strenge Schlichtheit. Anders als die von ihr entworfenen Kostüme ist hier alles in weiß. Ein Kontrast, den sie braucht:

"Ich bin den harten Weg gegangen: Als ich 27 Jahre alt war, hatte ich eine an sich harmlose Grippe gleichzeitig bin ich aber mit einer chemisch hochgiftigen Substanz in Kontakt gekommen – welche ist unklar. Aber seitdem leide ich unter Körpersklerose - einer seltenen Autoimmunerkrankung, die die Muskeln und die Lunge angreift. Einer unter einer Million erkrankt daran. Die Krankheit hat mein Leben - mich - verädert: Ich respektiere das Leben viel mehr als vorher. Aber gleichzeitig bin ich auch ungeduldiger geworden. Ich versuche, in kürzester Zeit so viel wie möglich zu schaffen."

Alle zwölf Wochen muss sie zur Chemotherapie, um die Krankheit im Zaun zu halten. Kinder konnte sie keine bekommen. Doch trotzdem hat ihre Krankheit nicht nur Unglück bedeutet, sondern ihr auch Flügel verliehen: Ihre Schaffenslust kennt - seit sie um ihre Krankheit weiß - keine Grenzen mehr. Und ihre Ideen kommen an. Bescheiden, ist sie dennoch oder besser gesagt gerade deswegen geblieben.

"Wenn ich zum Unterrichten irgendwo hinkomme, und fremd bin, dann ignorieren mich die Leute anfangs oft, weil ich ihnen nicht interessant genug bin. Wenn dann das Scheinwerferlicht auf mich fällt, dann sehe ich plötzlich diese Frage in ihren Augen aufblitzen: What you are Barbara Agar? Sorry!"