"Die größte Erfindung der Menschheit"
Dies ist eine Geschichte der Sprache, die unterhaltsam erzählt ist. Der israelische Wissenschaftler Guy Deutscher zeigt, wie aus einfachen Lauten die komplexen Bedeutungszusammenhänge von heute wurden. Humorvoll vermittelt er die neuesten Erkenntnisse der Sprachforschung und beantwortet nebenbei auch die Frage, warum "das Mädchen" ein Neutrum ist.
Formeln sind der Feind der Leser, sagt man von Sachbüchern über Mathematik. Gleiches gilt für Fachbegriffe in der Linguistik. Guy Deutscher tut deshalb gut daran, sie nur dort einzusetzen, wo sie unvermeidbar sind. Nicht nur das macht seine Geschichte über die Sprache besonders für Nicht-Linguisten zu einem großen Lesevergnügen. Dem israelischen Sprachwissenschaftler gelingt es, die hochkomplexe und längst noch nicht erschöpfend erforschte Entwicklung der menschlichen Sprache unterhaltend, originell und in weiten Teilen verblüffend suggestiv darzustellen.
Sein Kniff besteht darin, dem Leser sprachliche Kuriositäten zu entdecken: Warum heißt es "das Mädchen" und nicht "die"? Was hat der englische Löffel ("spoon") mit deutschem Holz zu tun? Und wieso schrieb Luther im Alten Testament, dass Gott den Propheten Jeremia ausgerechnet "auf schlechtem Wege" leiten wolle?
Der Autor motiviert den Aufbau seines Buches mit der faszinierendsten Eigentümlichkeit der menschlichen Sprache: "Die Sprache ist die größte Erfindung der Menschheit – obwohl sie natürlich nie erfunden wurde." Von diesem Rätsel ausgehend, erklärt Deutscher die Entwicklungsprinzipien: Wandel, Zerstörung, Erschaffung und Drang nach Ordnung bestimmten den Prozess der Sprache.
Anschauliche Beispiele aus der Vielfalt der gut 6.000 Sprachen machen aus dem Buch nicht nur eine Geschichte der Sprache, sondern eben auch eine Geschichte der Sprache. Die ist leider nicht frei von Fehlschlüssen. Der hartnäckigste lautet: Sprachentwicklung ist ein einziger Niedergang, heute ist nicht nur der Dativ dem Genitiv sein Tod, sondern das gesamte Ausdrucksvermögen kommt auf den Hund. Die Werke von Hobbyrhetorikern und selbsternannten Sprachwächtern füllen mittlerweile ganze Bücherregale.
Dankenswerterweise räumt Deutscher mit diesen Klischees auf. Was für Linguisten selbstverständliches Axiom ist, macht der Autor auch für Laien nachvollziehbar. Zunächst beweist er, dass der weit verbreitete Glaube an einen früheren besseren Zustand der Sprache nicht nur uralt ist, sondern auch in allen Nationen vorkommt, wie die Anekdote französischer Sprachhüter im 19. Jahrhundert belegt.
1843 behauptete ein Mitglied der ehrwürdigen Académie Française, das Französische verfalle zunehmend. Als der Schriftsteller Victor Hugo das bezweifelte, wurde sogar behauptet, man könne den Niedergang genau datieren, nämlich auf das Jahr 1789. Daraufhin Hugo: "A quelle heure, s'il vous plaît?" (Um welche Uhrzeit denn?).
Es ist das Früher-war-alles-besser-Stereotyp, das hier durchschlägt. In Wahrheit ist die Sprache beständig im Wandel. Dieser ist nicht nur geprägt von Kräften der Zerstörung, sondern eben auch von denen der Erschaffung.
Guy Deutscher erklärt, dass Unregelmäßigkeiten ("das Mädchen", aber "die Frau"; oder "sinken, sank, gesunken", aber "winken, winkte, gewunken") oder morphologische und phonologische Verkürzungen ("zu dem" – "zum", altenglisch "lovèd" vs. "lov'd") keinesfalls Beweise für den Weg von ehemaliger Wohlgeformtheit zur fortschreitender Verrohung sind, sondern den drei Grundprinzipien der Spracheentwicklung folgen: Ordnung (Analogie), Vereinfachung (Ökonomie) und Ausdrucksbereicherung (Expressivität).
Dass er das Kapitel über die produktiven Kräfte der Sprache als fiktive Konferenz über George Orwells Sprachphilosophie gestaltet, ist ein Beispiel für die mitunter originelle Methode, mit der der Sprachwissenschaftler komplizierte linguistische Probleme veranschaulicht. An manchen Stellen erscheint diese Originalität allerdings zu gewollt und gerät ein wenig albern.
Leider betont die deutsche Ausgabe ausgerechnet diese Schwäche, indem sie "Du Jane, ich Goethe" als Titel gewählt hat, statt bei dem schlichten "The Unfolding of Language" ("Die Entfaltung der Sprache") zu bleiben. Das schmälert aber nicht die Leistung Guy Deutschers, so mitreißend in die Geschichte der Sprache einzuführen, dass der Leser am Ende der gut 400 Seiten kaum bemerkt haben dürfte, dass er soeben ein kleines Proseminar über die moderne Linguistik besucht hat.
Rezensiert von André Hatting
Guy Deutscher: Du Jane, ich Goethe. Eine Geschichte der Sprache
C. H. Beck, München 2008
416 Seiten, 24,90 Euro
Sein Kniff besteht darin, dem Leser sprachliche Kuriositäten zu entdecken: Warum heißt es "das Mädchen" und nicht "die"? Was hat der englische Löffel ("spoon") mit deutschem Holz zu tun? Und wieso schrieb Luther im Alten Testament, dass Gott den Propheten Jeremia ausgerechnet "auf schlechtem Wege" leiten wolle?
Der Autor motiviert den Aufbau seines Buches mit der faszinierendsten Eigentümlichkeit der menschlichen Sprache: "Die Sprache ist die größte Erfindung der Menschheit – obwohl sie natürlich nie erfunden wurde." Von diesem Rätsel ausgehend, erklärt Deutscher die Entwicklungsprinzipien: Wandel, Zerstörung, Erschaffung und Drang nach Ordnung bestimmten den Prozess der Sprache.
Anschauliche Beispiele aus der Vielfalt der gut 6.000 Sprachen machen aus dem Buch nicht nur eine Geschichte der Sprache, sondern eben auch eine Geschichte der Sprache. Die ist leider nicht frei von Fehlschlüssen. Der hartnäckigste lautet: Sprachentwicklung ist ein einziger Niedergang, heute ist nicht nur der Dativ dem Genitiv sein Tod, sondern das gesamte Ausdrucksvermögen kommt auf den Hund. Die Werke von Hobbyrhetorikern und selbsternannten Sprachwächtern füllen mittlerweile ganze Bücherregale.
Dankenswerterweise räumt Deutscher mit diesen Klischees auf. Was für Linguisten selbstverständliches Axiom ist, macht der Autor auch für Laien nachvollziehbar. Zunächst beweist er, dass der weit verbreitete Glaube an einen früheren besseren Zustand der Sprache nicht nur uralt ist, sondern auch in allen Nationen vorkommt, wie die Anekdote französischer Sprachhüter im 19. Jahrhundert belegt.
1843 behauptete ein Mitglied der ehrwürdigen Académie Française, das Französische verfalle zunehmend. Als der Schriftsteller Victor Hugo das bezweifelte, wurde sogar behauptet, man könne den Niedergang genau datieren, nämlich auf das Jahr 1789. Daraufhin Hugo: "A quelle heure, s'il vous plaît?" (Um welche Uhrzeit denn?).
Es ist das Früher-war-alles-besser-Stereotyp, das hier durchschlägt. In Wahrheit ist die Sprache beständig im Wandel. Dieser ist nicht nur geprägt von Kräften der Zerstörung, sondern eben auch von denen der Erschaffung.
Guy Deutscher erklärt, dass Unregelmäßigkeiten ("das Mädchen", aber "die Frau"; oder "sinken, sank, gesunken", aber "winken, winkte, gewunken") oder morphologische und phonologische Verkürzungen ("zu dem" – "zum", altenglisch "lovèd" vs. "lov'd") keinesfalls Beweise für den Weg von ehemaliger Wohlgeformtheit zur fortschreitender Verrohung sind, sondern den drei Grundprinzipien der Spracheentwicklung folgen: Ordnung (Analogie), Vereinfachung (Ökonomie) und Ausdrucksbereicherung (Expressivität).
Dass er das Kapitel über die produktiven Kräfte der Sprache als fiktive Konferenz über George Orwells Sprachphilosophie gestaltet, ist ein Beispiel für die mitunter originelle Methode, mit der der Sprachwissenschaftler komplizierte linguistische Probleme veranschaulicht. An manchen Stellen erscheint diese Originalität allerdings zu gewollt und gerät ein wenig albern.
Leider betont die deutsche Ausgabe ausgerechnet diese Schwäche, indem sie "Du Jane, ich Goethe" als Titel gewählt hat, statt bei dem schlichten "The Unfolding of Language" ("Die Entfaltung der Sprache") zu bleiben. Das schmälert aber nicht die Leistung Guy Deutschers, so mitreißend in die Geschichte der Sprache einzuführen, dass der Leser am Ende der gut 400 Seiten kaum bemerkt haben dürfte, dass er soeben ein kleines Proseminar über die moderne Linguistik besucht hat.
Rezensiert von André Hatting
Guy Deutscher: Du Jane, ich Goethe. Eine Geschichte der Sprache
C. H. Beck, München 2008
416 Seiten, 24,90 Euro