Die größte Party der Welt

Von Gottfried Stein · 16.02.2010
Erst Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Akzeptanz der aus Afrika verschleppten Sklaven mit Bräuchen und Tänzen. Der ursprünglich als wild und unzivilisiert geächtete Samba trat seinen Siegeszug an. Heute ist dieser Rhythmus in Brasilien nicht mehr wegzudenken.
Das Sambodromo in Rio de Janeiro: Die Parade der zwölf besten Sambaschulen. Mehrere tausend Tänzerinnen und Tänzern in farbenprächtigen Phantasiekostümen, begleitet von spektakulären Prunkwagen, defilieren im dröhnenden Sambatakt durch die kilometerlange Prachtstraße, bejubelt von 60.000 mitsingenden und mittanzenden Zuschauern. Juliana Paes ist die Königin der Sambaschule Viradouro:

"Das gibt immer viel Kribbeln im Bauch, aber genau das ist das Tolle daran, das zu spüren. Das Kostüm ist etwas schwer zu tragen, aber wir machen alles, um das Publikum auf den Tribünen zu begeistern. Und heute werden wir Champion."

Das weltberühmte Schaulaufen gilt als Höhepunkt des Karnevals, ist aber längst nicht alles. Eine Woche lang verwandeln die Cariocas, die Einwohner Rios, die Metropole in die größte Partymeile der Welt: mit Straßenumzügen, den Blocos, auf Bällen, mit spontanen Festen - ohne Pause, Tag und Nacht, mit heißem Samba, nackter Haut, exstatischen Tänzen und ...

"Feiern, viele Feiern. Freude pur, nichts anderes. Bei den Blocos machen wir voll mit, dieser Karneval wird richtig gut. Einen Umzug nach dem anderen, und abends geht es dann ins Sambodromo, um die Sambaschulen anzuschauen. Ich singe mit, ich mache alles mit. Das ist typisch brasilianisch."

Die Werkhalle der Sambaschule Portela ist ein riesiger Bau von der Größe eines Flugzeughangars. Hier bauen Ingenieure, Designer und Bühnentechniker die Prunkwagen der Portela: auf Sattelschleppern montierte fahrbare Bühnen, mit fantastischen Dekorationen und Aufbauten bis zu zehn Metern Höhe.

Monatelang schuften rund 300 Mitarbeiter der Portela für das Großereignis: Sie konstruieren die Wagen, schneidern Kostüme, basteln Figuren. Die Parade im Sambodromo erfordert gewaltige Vorbereitungen.

Die Werkhalle der Portela ist nur ein Teil eines riesigen Komplexes, den die Stadt in den alten Hafenanlagen von Rio gebaut hat: der "Cidade do Samba", der Samba-Stadt. Das Gelände beherbergt die Hallen der zwölf größten Sambaschulen, die bei den Umzügen im Sambodromo um den Sieg kämpfen. Die Samba-Stadt, sagt der Präsident der Portela, Nilo Mendes Figueiredo, sei ein Segen:

"Durch den Bau der Cidade do Samba hat die Sambaschule eine viel
bessere Infrastruktur erhalten. Sie ist viel besser als die frühere Einrichtung, die doch sehr bescheiden war. Jetzt können die Carnevalescos ihre Fantasien und Träume leichter realisieren, man hat mehr Platz, die Schule kann sich besser auf den Karneval vorbereiten, schönere Prunkwagen bauen und schönere Kostüme schneidern."
Finanziert wird der gigantische Aufwand durch Zuschüsse der Stadt, durch Übertragungsrechte, Eintrittskarten und Sponsoren. Umgerechnet gut zwei Millionen Euro investiert jede Schule in ihren Umzug, an dem jeweils acht Prunkwagen und rund 4000 Tänzerinnen und Tänzer teilnehmen.

Die Sambaschule "Portela" liegt in Madureira, einem Vorort Rio de Janeiros. Hier, im Stammhaus der Schule, proben Sänger, Musiker und Tänzer Wochen vor dem Karneval ihr neues Lied. Jedes Jahr werden nicht nur neue Wagen, Kostüme und Tänze kreiert, sondern auch ein zum Motto passendes Samba-Lied.

In diesem Jahr ist es ein Gemeinschaftswerk von gleich fünf Komponisten. Einer von ihnen ist Junior Escafura. Samba sei eine Kunst, sagt er:

"Die Samba muss das Thema komplett erzählen. Poesie und ein guter Text sind notwendig - und natürlich eine mitreißende Melodie, die Freude vermittelt und die ganze Avenida ansteckt."

Die Lieder für das Sambodromo sind wie Endlosschleifen, bei denen sich Text und Refrain immer wiederholen. Sie werden während des ganzen 80-minütigen Defilees ununterbrochen gespielt. Die Akzeptanz beim Publikum ist eines der Kriterien, nach denen eine Jury das Spektakel bewertet. Der Samba sei wichtig, sagt der Dramaturg Amarildo de Melo, aber nicht das Wichtigste allein:

"Natürlich ist es für eine Schule am wichtigsten, einen guten Samba zu haben, die mitreißt und dafür sorgt, dass alle richtig mitsingen und auch richtig defilieren, und die ein gute Atmosphäre entstehen lässt. Aber man darf den Samba nicht isoliert sehen, weil es heutzutage beim Karneval in Rio zehn Kriterien bei der Bewertung gibt. Es ist wichtig, dass alles im Zusammenspiel gut funktioniert, damit die Schule überall gute Noten bekommt und sie als Sieger hervorgeht."

In der Halle der Portela probt eine Gruppe halbprofessioneller Tänzer und Tänzerinnen. Sie bilden die "Comisao de frente", die Eröffnungsformation. Auf ein Paar kommt es besonders an: auf die "Porta Bandeira", die Fahnenträgerin, und ihren Partner, dem Mestre Sala, dem Zeremonienmeister. Lucia Nobre, die diesjährige Fahnenträgerin, hat ein bisschen Angst:

"Die Kleidung, das Kostüm, ist sehr schwer. Dann kommt noch die Hitze hinzu. und wenn man sich dann noch auf die Fahne konzentrieren muss, die man schwenkt, wird das alles zum Problem. Alles ist dann schwierig. Dann muss man tief durchatmen und einfach weitermachen, bis es vorbei ist. Der Trick ist, es ein wenig langsamer angehen zu lassen. Und natürlich muss man in guter körperlicher Verfassung sein."
Bis weit nach Mitternacht üben die Portela-Mitglieder ihre Samba.
In der großen, überdachten Halle singen und tanzen mehrere hundert Menschen zum Rhythmus der Bateria, der Rhythmusgruppe. Sie spielt auf einer Empore, gemeinsam mit dem Puxador - dem Vorsänger. Auf ihn, sagt Gilson da Conceicao, komme es im Sambodromo besonders an:

"Ich werde den Samba in der Avenida singen und die ganze Schule damit
pushen. Ich sorge dafür, dass der Samba beim Durchmarsch durch die Avenida gut ankommt und von allen Mitgliedern gut gesungen wird – und dann im Sambodromo geradezu explodiert. Ich hoffe, das Publikum anstecken zu können."

Freitagnachmittag im "Buraco do Galo", im "Loch des Hahns", fließt das Bier in Strömen. In der heruntergekommenen Kneipe im Bahnhofsviertel von Osvaldo Cruz feiert die "Velha Guarda", die alte Garde der Sambaschule Portela. Der Vorort im Norden Rios ist für einen Tag Endstation des "Sambazuges". Das Fest, das einmal im Jahr stattfindet, soll an die historischen Wurzeln des Sambas erinnern. Aurea Maria ist Sängerin der alten Garde:

"Es ist etwas Besonderes, hier zu sein. Osvaldo Cruz ist ein ganz traditionelles Viertel, hier wurde die Portela gegründet. Die ältesten Mitglieder der Portela kommen gern hierher, auch die aus der benachbarten Samba-Schule Madureira. So folgt der Sambazug der Tradition von Paulo und der Portela, und deshalb endet der Zug immer hier."

Paulo war einer der Gründer der Portela. Im Armenviertel Osvaldo Cruz pflegte die schwarze, von afrikanischen Sklaven abstammende Bevölkerung früher ihre Traditionen. Von hier aus fuhren die Armen täglich ins mondäne Rio, um sich als Personal bei den Weißen zu verdingen, oft unter den Schikanen der Polizei. Paulo fuhr immer mit, im Zug wurde Samba gespielt und gesungen. Marquinos de Osvaldo Cruz, Komponist und Sambamusiker, hat die Tradition des Sambazuges 1996 neu belebt:

"Wir haben beschlossen, einen nationalen Sambatag zu feiern. Mir kam die Idee, in den Zügen Samba-Musik zu machen, weil das an den Kampf von Paulo in den 20er-Jahren erinnert, der dasselbe gemacht hat, um den Repressalien der Polizei zu entgehen."

Marquinos fährt allerdings in die umgekehrte Richtung: vom Zentralbahnhof aus nach Osvaldo Cruz. Am Nachmittag geht es los: Angeführt von einigen der berühmtesten Sambagruppen Brasiliens, drängen sich die Menschen in fünf hoffnungslos überfüllten Zügen:

Zusammengepfercht singen und feiern die Menschen den Samba. Irgendwo am Ende des Abteils spielt die alte Garde der Portela. Der 75-jährige Monarco ist einer der berühmtesten Sambasänger Brasiliens:

"Das ist eine besondere Art, den Samba wieder zu beleben. Samba ist Brasilien, ist das Leben der Brasilianer. Manchmal bist Du traurig, dann heilt die Samba alle Wunden, lässt Liebesschmerz vergessen. Samba hat viel mit dem Leben der Armen zu tun, das ja, wie man sich denken kann, nicht leicht ist. Aber beim Samba vergisst man die offenen Rechnungen, die fällige Miete zum Beispiel, den ganzen Frust."

Am Ende sind es 100.000 Menschen, die bis nachts um drei trinken, tanzen und singen. Touristen kommen hier nie her, sie kennen Samba nur vom Karneval in Rio und dem Sambadrome. Aber das hier, sagt die Sängerin Tia Sirica von der Alten Garde, sei etwas ganz anderes:

"Im Sambódromo ist alles sehr festgelegt. Hier dagegen ist es ein spontanes Fest. Hier muss man keine Zeitvorgaben einhalten, keine Punkte gewinnen, das ist ein reines Volksfest. Hier gibt's junge Menschen, alte Menschen, Kinder - alle machen mit. Und deshalb erwarten alle diesen Tag so sehnsüchtig."

So hört sich Karneval in Rio heute an – Samba pur. Während in anderen brasilianischen Regionen wie in Salvador de Bahia andere Musikrichtungen einfließen, ist der Karneval in Rio strikt auf Samba beschränkt. Genau das, meint Sänger Monarco, mache ihn so einzigartig:

"Zum Karneval gehört halt ein kleiner Marsch dazu, eine Samba. Die Samba-Schulen ziehen immer mit ihren Trommeln von den Hügeln herab ins Stadtzentrum - zur Freude der Bevölkerung. Die Sambas sind überall in der Stadt zu hören, dazu die Späßchen in der Straßenbahn, und so gehört Samba einfach zum Karneval dazu, und deshalb gibt es die Sambaschulen. Karneval kann ohne Samba nicht existieren. Samba ist im brasilianischen Volk stark verwurzelt."

Die traditionsreichen Sambaschulen sind wichtige Institutionen auch außerhalb des Karnevals. Sie liegen meist in den ärmeren, überwiegend von Schwarzen bewohnten Vorstädten oder in den berüchtigten Favelas. Sambaschulen, sagt Alfons Hug, Direktor des Goetheinstituts in Rio, hätten eine wichtige gesellschaftliche Funktion:

"Eine Sambaschule muss man sich als eine Art sozialen Sportverein vorstellen. Sie haben eine soziale und integrative Wirkung in ihren Stadtteilen. Sie sorgen für sozialen Zusammenhalt und bieten auch außerhalb des Sambas, jenseits des Karnevals, bestimmte Kurse an und versuchen, auch Frieden herzustellen innerhalb ihrer Comunities."

Die Samba-Schule Portela ist nicht nur während des Karnevals immer gut besucht. Es sei fast eine Ganzjahresschule, meint Geronimo, der Tanz-Choreograf:

"Hier gibt es ein soziales Zentrum mit Capoeira- Unterricht für Kinder, mit Karate, Jiu-Jitsu, Sport allgemein und auch nähen. Die Kinder lernen Kostüme schneidern und Prunkwagen bauen. Es ist also nicht nur Samba, was eine Sambaschule heutzutage lehrt, sie hat auch eine soziale Funktion, damit die Kinder später auch einen Beruf haben."

Sambaschulen werden von den Menschen in ihren Stadtvierteln verehrt und bewundert wie Fußballvereine, aber sie haben nicht immer das Beste Image. Je nach Standort werden ihre Vorstände manchmal mit illegalem Glückspiel, Prostitution und Drogenhandel in Verbindung gebracht.

Bis Aschermittwoch wird gefeiert, getanzt, getrunken, und manchmal auch ein bisschen mehr. Für die Cariocas ist Schlafen verpönt.

Mehrfacher Gewinner und einer der großen Favoriten ist Beija Flor. Die Schule kommt aus einer Favela, in der es viel Kriminalität, Drogen und soziales Elend gibt. Natürlich steht auch hier der Vorstand im Verdacht, gemeinsame Sache mit der Unterwelt zu machen. Aber Beija Flor sei auch ein Hoffnungsträger der Armen, und das mache die Qualität der Schule aus, meint Marquinhos:

"Es sind immer noch die ärmsten Bevölkerungsschichten, vor allem die Schwarzen, die den Karneval das ganze Jahr über leben. Nur wenn es um das Defilee geht, tauchen diese Menschen nie auf. Dabei halten sie alles in Gang. Ohne sie gäbe es weder Freude noch Erfolg.

Und bei allem Negativen, was man über die Beija-Flor-Schule sagen kann: Heute bin ich Fan der Beija Flor: Sie gibt am meisten Gratiskostüme an ihre Mitglieder aus. Deshalb gewinnen sie zurzeit so viele Titel. Sie proben mit dem ganzen Herzen, mit viel mehr Enthusiasmus."

Der Sieger des Spektakels wird erst verkündet, wenn alles vorbei ist: Am Mittwoch, in einer landesweit im Radio und Fernsehen ausgestrahlten Show, die inszeniert ist wie in Europa der Grand Prix de Eurovision. Die Besten dürfen am Samstag noch einmal durchs Sambodromo defilieren - und ausgelassen feiern.