Die große Unübersichtlichkeit
Was ist aus der deutsch-deutschen Literatur geworden? Ost/West – interessiert das noch? Ist das für Schriftsteller heute noch wichtig? Was ist aus den gesellschaftlichen Visionen der späten 80er, frühen 90er-Jahre geworden? Diese Themen besprachen die Schriftsteller Katja Lange-Müller, Marcel Beyer und Ingo Schulze.
Es gibt eine deutsche Literatur. Oder - gibt es immer noch zwei deutsche Literaturen? Seit Mitte der 90er-Jahre ist diese Frage immer weniger zu beantworten. Die große Welle der Popliteratur setzte ein, die Literatur einer Enkelgeneration, die plötzlich anfing, Bücher über ihre Großeltern zu schreiben, schließlich: die Literatur mit Migrationshintergrund – sozusagen, sie machte das deutsche Schreiben europäischer.
Was ist aus der deutsch-deutschen Literatur geworden? Ost/West – interessiert das noch? Ist das für Schriftsteller heute noch wichtig? Was ist aus den gesellschaftlichen Visionen der späten 80er, frühen 90er-Jahre geworden? Der Moderator, der Literaturwissenschaftler Jörg Magenau, gab das Thema des Abends vor.
"Die Visionen oder die Utopie oder das Nach-Vorne-Schauen, das sind ja auch Themen, die in der Literatur eine Rolle spielen, die aber nach 1989 in der deutschen literarischen Landschaft, glaube ich, doch eher nur eine verschwindende bis marginale Rolle gespielt haben. Die Debatte um Utopie, um das Nach-Vorne-Schauen, ob die Gesellschaft vielleicht eine Zielvorstellung, welcher Art auch immer, braucht, um sich zu orientieren, hat gelitten - und das hat vielleicht auch mit der Literatur zu tun."
Zu Gast im Collegium Hungaricum waren - in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin - drei Schriftsteller, die alle – auf sehr verschiedene Weise - mit dem Deutsch-Deutschen verbandelt waren - und sind? Katja Lange-Müller zog 1984 von Berlin-Ost nach Berlin West, der Westdeutsche Marcel Beyer wechselte 1995 von Köln nach Dresden, und Ingo Schulze, aus Dresden gebürtig und jetzt in Berlin lebend –er gilt seit seinem Briefroman "Neue Leben" von 2005 manchen Kritikern als DER Autor des Wenderomans, auf denen viele so lange gewartet hatten.
Einig waren sich alle darin: Ost/West – das interessiert nicht mehr. Anderes ist viel wichtiger geworden.
Marcel Beyer: "Wir leben in einer Zeit des Historisierens. Also wir können zum einen zurückblicken aufs 20. Jahrhundert, und ich glaub, alle hatten doch irgendwie so das Gefühl, zwischen '88 und '91 ist eigentlich das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, man blickte zurück auf die Zeit der zwei großen Systeme; man blickte auch zurück ... also, jemand in meinem Alter, als jemand, der weder im einen noch im anderen Zwängen ausgesetzt war, sich ein Bekenntnis abzulegen. Also hat man auch eine ganz andere Perspektive einnehmen können.
Und ich glaube auch – jetzt schon wieder 20 Jahre weiter: dieser Fokus auf die Historisierung der Welt, in der wir leben, hat auch damit zu tun, dass wir begreifen: die große Zeit des Erinnerns könnte höchstwahrscheinlich nicht im Alter stattfinden.
Das heißt, wir leben damit, dass Menschen immer älter werden, aber ihre Erinnerungsfähigkeit immer mehr verlieren. Mein Bild als Kind war noch, wenn man alt ist, erinnert man sich an frühere Zeiten. Und wir erleben jetzt, dass es sehr viele Menschen gibt, die dazu überhaupt nicht in der Lage sind. Und – irgendwie scheint mir das zusammenzuhängen."
Visionen, Zielvorstellungen der Gesellschaft, Utopie, davon war nicht die Rede. Stattdessen sehr präsent: die große Unübersichtlichkeit.
Ingo Schulze: "Es ist natürlich auch, dass man – wenn man jetzt das 20. Jahrhundert nimmt, da hat man noch halbwegs Kategorien, an die man sich halten kann. Und die sind ja jetzt ... nicht, dass es die jetzt nicht mehr gäbe, aber es ist, glaube ich, alles sehr viel unsicherer. Leben wir in einer Demokratie oder einer Post-Demokratie? Diese Dinge einfach zu bestimmen und wirklich die Zwänge zu benennen und Feindbilder zu benennen, die überzeugend sind – das ist, glaub ich, sehr viel schwieriger, als es im 20. Jahrhundert war. Aber natürlich auch vielleicht sehr viel interessanter."
Wo Sicherheit und Übersicht verloren gehen, hilft: der Weg in die Erinnerung.
Marcel Beyer: "Ich glaube, dass dieses Aufschreiben der Geschichte der Großeltern viel weniger mit den Großeltern zu tun hat als mit den Enkeln selber. Die versuchen etwas zu greifen, was den Großeltern schon selber entglitten ist."
Sich erinnern, einer Vergangenheit habhaft werden wollen, weil die Gegenwart so wenig greifbar ist. Katja Lange-Müller erinnert daran, dass auch das Sich-Erinnern eine fragwürdige Beschäftigung ist:
"Erinnern ist natürlich Konfabulation, ist Spekulation, ist Lüge auch in hohem Maße. Etwas wird als Erinnerung verkauft, das ist ein alter Trick. Man gibt der Sache Namen und ein Datum und schon tut es so, als sei es geschehen. Das ist natürlich etwas, was wir auch immerzu machen, und vielleicht ist ja sozusagen das Visionäre tatsächlich zu dieser Deutung geschrumpft oder so ... keine Ahnung, aber: wie erinnert ist das Erinnerte? Die Frage muss man wirklich offen lassen, gerade in der Literatur."
Keine Vision, die Gegenwart unübersichtlich, das Erinnerte trügerisch. Das sind doch für Schriftsteller – nicht die schlechtesten Zeiten. ..
Was ist aus der deutsch-deutschen Literatur geworden? Ost/West – interessiert das noch? Ist das für Schriftsteller heute noch wichtig? Was ist aus den gesellschaftlichen Visionen der späten 80er, frühen 90er-Jahre geworden? Der Moderator, der Literaturwissenschaftler Jörg Magenau, gab das Thema des Abends vor.
"Die Visionen oder die Utopie oder das Nach-Vorne-Schauen, das sind ja auch Themen, die in der Literatur eine Rolle spielen, die aber nach 1989 in der deutschen literarischen Landschaft, glaube ich, doch eher nur eine verschwindende bis marginale Rolle gespielt haben. Die Debatte um Utopie, um das Nach-Vorne-Schauen, ob die Gesellschaft vielleicht eine Zielvorstellung, welcher Art auch immer, braucht, um sich zu orientieren, hat gelitten - und das hat vielleicht auch mit der Literatur zu tun."
Zu Gast im Collegium Hungaricum waren - in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin - drei Schriftsteller, die alle – auf sehr verschiedene Weise - mit dem Deutsch-Deutschen verbandelt waren - und sind? Katja Lange-Müller zog 1984 von Berlin-Ost nach Berlin West, der Westdeutsche Marcel Beyer wechselte 1995 von Köln nach Dresden, und Ingo Schulze, aus Dresden gebürtig und jetzt in Berlin lebend –er gilt seit seinem Briefroman "Neue Leben" von 2005 manchen Kritikern als DER Autor des Wenderomans, auf denen viele so lange gewartet hatten.
Einig waren sich alle darin: Ost/West – das interessiert nicht mehr. Anderes ist viel wichtiger geworden.
Marcel Beyer: "Wir leben in einer Zeit des Historisierens. Also wir können zum einen zurückblicken aufs 20. Jahrhundert, und ich glaub, alle hatten doch irgendwie so das Gefühl, zwischen '88 und '91 ist eigentlich das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen, man blickte zurück auf die Zeit der zwei großen Systeme; man blickte auch zurück ... also, jemand in meinem Alter, als jemand, der weder im einen noch im anderen Zwängen ausgesetzt war, sich ein Bekenntnis abzulegen. Also hat man auch eine ganz andere Perspektive einnehmen können.
Und ich glaube auch – jetzt schon wieder 20 Jahre weiter: dieser Fokus auf die Historisierung der Welt, in der wir leben, hat auch damit zu tun, dass wir begreifen: die große Zeit des Erinnerns könnte höchstwahrscheinlich nicht im Alter stattfinden.
Das heißt, wir leben damit, dass Menschen immer älter werden, aber ihre Erinnerungsfähigkeit immer mehr verlieren. Mein Bild als Kind war noch, wenn man alt ist, erinnert man sich an frühere Zeiten. Und wir erleben jetzt, dass es sehr viele Menschen gibt, die dazu überhaupt nicht in der Lage sind. Und – irgendwie scheint mir das zusammenzuhängen."
Visionen, Zielvorstellungen der Gesellschaft, Utopie, davon war nicht die Rede. Stattdessen sehr präsent: die große Unübersichtlichkeit.
Ingo Schulze: "Es ist natürlich auch, dass man – wenn man jetzt das 20. Jahrhundert nimmt, da hat man noch halbwegs Kategorien, an die man sich halten kann. Und die sind ja jetzt ... nicht, dass es die jetzt nicht mehr gäbe, aber es ist, glaube ich, alles sehr viel unsicherer. Leben wir in einer Demokratie oder einer Post-Demokratie? Diese Dinge einfach zu bestimmen und wirklich die Zwänge zu benennen und Feindbilder zu benennen, die überzeugend sind – das ist, glaub ich, sehr viel schwieriger, als es im 20. Jahrhundert war. Aber natürlich auch vielleicht sehr viel interessanter."
Wo Sicherheit und Übersicht verloren gehen, hilft: der Weg in die Erinnerung.
Marcel Beyer: "Ich glaube, dass dieses Aufschreiben der Geschichte der Großeltern viel weniger mit den Großeltern zu tun hat als mit den Enkeln selber. Die versuchen etwas zu greifen, was den Großeltern schon selber entglitten ist."
Sich erinnern, einer Vergangenheit habhaft werden wollen, weil die Gegenwart so wenig greifbar ist. Katja Lange-Müller erinnert daran, dass auch das Sich-Erinnern eine fragwürdige Beschäftigung ist:
"Erinnern ist natürlich Konfabulation, ist Spekulation, ist Lüge auch in hohem Maße. Etwas wird als Erinnerung verkauft, das ist ein alter Trick. Man gibt der Sache Namen und ein Datum und schon tut es so, als sei es geschehen. Das ist natürlich etwas, was wir auch immerzu machen, und vielleicht ist ja sozusagen das Visionäre tatsächlich zu dieser Deutung geschrumpft oder so ... keine Ahnung, aber: wie erinnert ist das Erinnerte? Die Frage muss man wirklich offen lassen, gerade in der Literatur."
Keine Vision, die Gegenwart unübersichtlich, das Erinnerte trügerisch. Das sind doch für Schriftsteller – nicht die schlechtesten Zeiten. ..