Die heilende Kraft des Universums

Von Ralf Bei der Kellen |
Es gibt eine große Anzahl Jazzmusiker und Jazzfans, die immer wieder auf die religiösen Wurzeln dieser Musik hinweisen, und die nicht selten dieser Musik eine fast religiöse Kraft zugestehen. Ist Jazz also eine spirituelle Musik? Ralf Bei der Kellen hat sich auf die Suche gemacht nach den religiösen Elementen im Jazz gestern und heute.
"Hier in Harlem, wo der Jazz geboren wurde, hier im Kreuzungspunkt urwaldhafter Rhythmik und Zügellosigkeit und europäischer Zivilisation - hier, Sie hören den Lärm, das sind kleine Schläger, die auf den Gläsern und auf den Tischen tanzen - so gibt man hier Beifall zum besten, Holzschläger auf die Tische, man klatscht nicht, das wäre zu ermüdend hier ... "

So berichtet 1931 der Rundfunkreporter Hellmut H. Hellmut live aus dem berühmten New Yorker Cotton Club. Es ist die Hochzeit des frühen Swingjazz. Abend für Abend spielen hier berühmte Orchester wie die von Cab Calloway oder Duke Ellington. Ihre Musik ist wild, das Publikum ist ausgelassen.

Roger Willemsen (aus dem Hörbuch "99x Jazz"): "Der Ursprung des Wortes 'Jazz' ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Wahrscheinlich geht er auf einen Slangausdruck für 'Beischlaf' zurück."

Wolf Kampmann: "Da der Jazz sowohl Wurzeln hat in der afrikanischen Musik, aber auch in europäischer Sakralmusik, und dann wiederum in all diesen Mischformen, die es in amerikanischer Musik in Form von Gospel und Spirituals und Blues und so weiter gab, ist Jazz per se erst mal eine extrem spirituelle Musik."

Zwei Aussagen über Jazz - die erste stammt aus dem Leitfaden "99mal Jazz" von Roger Willemsen, die zweite von dem renommierten Musikjournalisten Wolf Kampmann. Es scheint kaum vorstellbar, dass diese auf Unterhaltung ausgelegte, geradezu hedonistische Musik religiöse Wurzeln haben soll.

Beschäftigt man sich mit den Lebensläufen einzelner früher Protagonisten, stellt man eines häufig fest: Viele der Jazzmusiker, die in den 20er und 30er Jahre in den Tanzschuppen und Speakeasys für Unterhaltung sorgten, waren Menschen mit einer starken religiösen Sozialisation.

Mary Lou Williams: "Thank you, good evening friends. I'd like to bring you up today to demonstrate the history of Jazz. First was the spirituals, Ragtime, Kansas City Swing-"

Die 1910 geborene Pianistin Mary Lou Williams leitete ihre Konzerte oft mit einem kurzen Abriss der frühen Jazzeinflüsse und Stilistiken ein. Die tiefgläubige Musikerin betonte dabei immer wieder das spirituelle Element und die heilende Kraft des Jazz.

"What we're tyring to do is to bring good Jazz back to you. With the healing in it and the spiritual feeling. So I'd like to start out with the spirituals."

Williams war ein Wunderkind. Schon im Alter von drei Jahren spielte sie auf dem Harmonium im Haus ihrer Mutter. Diese brachte ihr vor allem Spirituals bei, die die kleine Mary Lou sonntags im Gottesdienst ihrer Gemeinde vortrug. Viele Jazzmusiker machten ihre ersten und oft prägenden musikalischen Erfahrungen in ihren Kirchen. Der Journalist Derek Jewell schrieb 1977 in seiner Biographie über Duke Ellington:

"Jeden Sonntag besuchten Ellington und seine Mutter mindestens zwei Gottesdienste - üblicherweise einen in ihrer eigenen baptistischen Kirche sowie einen in der methodistischen Gemeinde des Vaters. Jeder Amerikaner afrikanischen Ursprungs mit einer religiösen Familie bekam in jenen Tagen durch die Kirchenbesuche ein solides musikalisches Fundament vermittelt."

Wolf Kampmann: "Die amerikanische Gesellschaft ist sehr stark auf das Leben in religiösen Gruppen konzentriert. Und die Menschen, die in diesen religiösen Gruppen aufwachsen, sind dadurch natürlich für ihr ganzes Leben geprägt."

Populär wurde der Jazz in den 20er und 30er Jahren als Unterhaltungsmusik - und nicht nur für den Teil der Bevölkerung, der afrikanischen Ursprungs war. Im Cotton Club waren nur die Bands und die Bedienungen schwarz. Der Status des Gastes blieb Menschen weißer Hautfarbe vorbehalten. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum Religion als Thema in den frühen Tagen des Jazz fast ausschließlich als Persiflage vorkam.

1931 nahm Ellington ein Stück mit dem Titel "Is That Religion?" auf. Das von dem schwarzen Komponisten Maceo Pinkard geschriebene Lied macht sich über die vermeintlich primitive Religion der Nordamerikaner afrikanischer Herkunft lustig. Gesungen wurde es bezeichnenderweise von dem weißen Sänger Dick Robertson, der es mit einem überzeichneten schwarzen Dialekt vortrug.

"Bretheren! Sisteren! Hear my preachin', de good book teachin' is dat not reachin you?"

Ellington und Williams hatten ihre Religiosität in den 20er und 30er Jahren für sich behalten, hatten sie vielleicht sogar verdrängt, um konfliktfreier den weltlichen Entertainer geben zu können. Gut ein Jahrzehnt später gehörte Ellington zu den ersten Jazzmusikern, die ernsthafte spirituelle Kompositionen in ihr Repertoire aufnahmen.

1943 führte er erstmals seine Komposition "Black, Brown & Beige" in der New Yorker Carnegie Hall auf. Er selbst bezeichnete die Suite als "musikalische Parallele zur Geschichte des American Negros".

Das hier enthaltene Stück "Come Sunday" ist heute fester Bestandteil des Gesangbuchs der methodistischen Kirchen in den USA. Der Bandleader schrieb noch weitere religiöse Werke, die in Kirchen auf der ganzen Welt aufgeführt wurden. Über diese Werke sagte er einmal:

"Diese Musik ist das wichtigste, was ich jemals gemacht habe oder jemals tun werde. Jetzt kann ich der ganzen Welt laut verkünden, was ich jahrelang auf Knien zu mir selbst sagte."

Rainer E. Lotz: "Also ich glaube, der Sprung ist gekommen mit dem Übergang von der Gebrauchsmusik zur Kunstmusik, vom Freudenhaus und dem Tanzsaal zum Konzertsaal und eben die Musik nicht mehr 'Gebrauchsmusik' war wie im Cotton Club. Sondern das war auf einmal konzertante Musik. Und dann konnten sich auch Musiker ganz anders entwickeln und konnten auch ihre Improvisationen so lange ausdehnen, wie sie Luft hatten und Ideen hatten."

Der Jazzexperte Dr. Rainer E. Lotz. Zwar gab es in Ellingtons Musik auch Raum für die Improvisation einzelner Solisten; für die Form seiner geistlichen Werke griff Ellington stark auf Vorbilder aus der europäischen Klassik zurück.

Zu einer ganz anderen, eigenen Form fanden die Jazzmusiker zu Beginn der 60er Jahre, als die spirituellen Wurzeln ihrer Musik eine Art Wiedererweckung erfuhren.

Wolf Kampmann: "Wenn ich 'Jazz' im Zusammenhang mit 'spiritueller Musik' höre, dann fällt mir sofort John Coltrane ein und sein ganzes Umfeld; Musiker, für die es überhaupt gar nicht wichtig war, aus welcher unmittelbaren Tradition sie kommen, sondern für die es viel wichtiger war, an welchem Geist sie teilhaben und das versucht haben in Musik umzusetzen - natürlich auf Grundlage auf der Tradition, aus der sie kamen, denn der verdanken sie ja ihr ganzes Handwerk. Aber diese Tradition löste sich praktisch in der Spiritualität, im Geistlichen, auf."

John William Coltrane wurde 1926 in North Carolina geboren. Sein Großvater war ein bekannter Prediger. In der Kirche wie auch zu Hause in der Familie kam der junge John mit kirchlicher Musik in Kontakt.

Coltrane wurde Jazzmusiker und folgte seinen Vorbildern wie Charlie Parker in die Heroinsucht. 1957 unterzog er sich einem kalten Entzug, ließ sich von seiner Mutter und seiner Frau in ein Zimmer einsperren und wies sie an, ihm nur Brot und Wasser zu geben. Später erklärte er, während des Entzugs Gott erlebt zu haben. Diese Erfahrung gab seinem Leben und seiner Musik einen anderen Sinn.

Neben Coltrane gab es noch eine ganze Reihe weiterer Musiker, deren Musik in dieser Zeit an Spiritualität gewann - zum Beispiel Charles Mingus oder Albert Ayler. Beide erlebten in ihrer Kindheit Gottesdienste in den Gemeinden ihrer Eltern.

1964 veröffentlichte John Coltrane sein Album "A Love Supreme", das zu einem Meilenstein in der Geschichte der Musik wurde. Coltrane selbst beschrieb das Werk im Klappentext der LP-Hülle als "einen Versuch, Gott durch unsere Arbeit zu danken".

Die Gründe für dieses "Wiederwachen" sieht Dr. Rainer E. Lotz im gesellschaftlichen Umbruch der frühen 60er Jahre.

"Der Durchbruch ist gekommen mit dem Civil Rights Movement, wo der Stolz auf die schwarze Hautfarbe und eine schwarze Identität eine große Rolle spielten. Und dann haben die Musiker etwas gemacht, was ihnen sozusagen keiner wegnehmen konnte - das 'New Thing', dass dann später als 'Free Jazz' bekannt wurde, also eine völlig eigene Musik, die sie mit sich identifiziert haben und die für sie Identifikation war. Und das war dann auch nicht auf irgendeine Religion festgelegt, sondern das waren dann Esoteriker und Mystiker wie der Albert Ayler oder der John Coltrane, die dann aus dem Katholizismus kamen oder aus dem Islam."

Von Coltrane inspiriert begaben sich nun auch europäische Jazzmusiker auf die Suche nach ihrer eigenen Spiritualität und versuchten, diese in Musik auszudrücken. Coltrane selbst wandte sich vor seinem frühen Tod 1967 immer stärker dem freien Spiel zu.

Während ihrer intuitiven Improvisationen dringen die Jazzmusiker häufig in Räume vor, die ihnen selbst zuvor nicht bekannt sind. Der Saxophonist Sonny Rollins beschreibt dieses transzendente Moment folgendermaßen:

"Manchmal, wenn ich mitten in einem wirklich guten Konzert bin, schaltet mein Geist ganz von selbst auf Autopilot um, und ich erlebe, dass ich einfach dort stehe, während der Geist des Jazz quasi meinen Körper erfüllt. Ein tiefes spirituelles Erlebnis!"

Markus Stockhausen: "Wenn man in einem Zustand höchster Konzentration ist, dann ist das Denken oder die Person ausgeschaltet, dann gibt es nur das, was man gerade macht. Und da kann man schon davon reden, dass sich das Ego dann quasi auflöst, weil ... man ist in dem Moment ganz das, was geschieht."

Hub Hildenbrand: "Die Intuition ist meist viel, viel intelligenter, die formt oft, oft Musik, wo ich dann im Nachhinein denke: Woher kommt das? (lacht) Wie ist das gerade entstanden? Das sind meist die stärksten ... die stärksten Momente in der Musik ... die wirklich einfach kommen -ohne, dass ich das jetzt 'will'. Das ist ein Gefühl von, dass ich mich selber auflöse, mein Bewusstsein nicht mehr da ist, ich merke nicht mehr das, was um mich rum passiert eigentlich."

Markus Stockhausen: "Das ist auch interessant, dass oft bei solchen Konzerten, wo man sich ganz frei ausdrücken kann und wo man diesen Punkt erreicht, dass etwas wirklich Kreatives entsteht, man sich nachher sehr erfrischt fühlt und erneuert. Oft anders auch als in der komponierten Musik."

Was der Trompeter Markus Stockhausen und der Gitarrist Hub Hildenbrand hier berichten, deckt sich mit der Aussage des Amerikaners afrikanischer Herkunft Sonny Rollins. Ihr sozialer und religiöser Hintergrund ist allerdings ein völlig anderer. Bezeichnet sich der 50-jährige Stockhausen als "gläubigen Menschen", so hat der 37-jährige Hildenbrand so gut wie keine religiöse Sozialisation erfahren. (0'23)

Hub Hildenbrand "Also, ich kann nicht sagen: Das ist spirituelle Musik, weil's Jazz ist. Manche Musik empfinde ich als unheimlich spirituell, aber erlebe Musiker, die das gar nicht finden."

In seiner über 100-jährigen Geschichte hat der Jazz stärkere Wandlungen erfahren als die meisten anderen Musikstile. So hat sich auch der Ausdruck der Spiritualität verändert. Die schwarze Volksfrömmigkeit, die in den Spirituals Ausdruck fand, wurde in den 60er Jahren in eine oft kosmische Spiritualität transformiert. Für eine junge Generation von Jazzmusikern spielen diese Wurzeln häufig keine Rolle mehr. Dennoch machen viele von ihnen wie auch das Publikum während ihrer Improvisation quasi spirituelle Erfahrungen.

Ob der Jazz in seinen verschiedenen Spielarten ein erneutes spirituelles Erwachen erleben wird, bleibt abzuwarten. Letztlich gilt aber für viele Musiker noch immer der Satz, nach dem Albert Ayler 1969 sein letztes Alben benannte: "Music Is The Healing Force Of The Universe" - Musik ist die heilende Kraft des Universums. Markus Stockhausen kann sich dem ohne Probleme anschließen:

"Höre ich sehr gerne, diesen Satz und kann ich gerne unterschreiben. Ist vielleicht nicht die einzige 'healing force', denn es gibt auch noch andere, aber es ist hier auf der Erde und vielleicht im ganzen Universum, das weiß ich nicht, eine der stärksten Formen. Ganz bestimmt."