Die Herrschaft des Ungefähren

Von Burkhard Müller-Ullrich |
Erst tat sich der Boden auf und verschlang das Kölner Stadtarchiv, jetzt gibt der Untergrund Geheimnisse preis, die noch nirgendwo archiviert waren: Geheimnisse über das Bauen in Deutschland, Geheimnisse über Gepflogenheiten bei Ämtern und Behörden sowie bei Firmen und Gutachtern.
Staunend steht das Publikum an einer U-Bahn-Baugrube, die just zum Jahrestag der Einsturzkatastrophe geflutet werden sollte, weil nicht nur an einer Stelle unsachgemäß gearbeitet wurde, sondern auch an vielen anderen, und zwar nicht nur in Köln.

Unsachgemäß ist ein nettes Wort für zu dünne Wände, zu wenig Stahlbügel und gefälschte Protokolle. Dass Beton gespart und Metall geklaut wird, erwartet man auf Baustellen südlich von Rom, auf dem Balkan und in der Dritten Welt. Dass solche Dinge auch bei uns gang und gäbe sind, scheint große Teile des Publikums zu erstaunen und zu erschrecken. Schon legen sich die Systemkritiker ins Zeug: Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, ist natürlich schuld. Er wird ja immer zügelloser. Er wird uns noch alle umbringen.

Dabei ist das doch alles bloß wie in schlechten Romanen. Es gibt von Heinrich Böll eine Kurzgeschichte unter diesem Titel: "Wie in schlechten Romanen". Sie ist selber herzlich schlecht, aber sie wurde früher viel im Schulunterricht verwendet. Sie handelt von einem Bauunternehmer, der irgendeinen öffentlichen Auftraggeber besticht, weil er dazu genötigt wird. Schmiergeldzahlungen, wollte uns der Dichter sagen, waren bereits damals, in den tiefen Sechzigern, in Deutschland gang und gäbe.

Das mag schon stimmen, genauso wie es zutrifft, dass auf Baustellen hierzulande schon immer ein bisschen gepfuscht wurde. Wer sich wirklich auskennt, der weiß, wie leicht sich jede Aufsicht austricksen lässt. Kaum jemand hält sich peinlich genau an die Armierungspläne, sei es, weil die Geschäftsleitung zu knapp kalkuliert hat, sei es, weil man sich am Baustahl bereichern will, oder sei es auch einfach aus Bequemlichkeit, denn der exakte Aufbau aller Gitter und Bügel ist in der Praxis stets ein bisschen komplizierter als von den Ingenieuren dargestellt.

Schließlich sieht man, wenn der Beton erst einmal vergossen ist, von den fraglichen Innereien aus Torstahl sowieso nichts mehr. Und was die Festigkeit betrifft, pflegen sich Bauleiter und Poliere angesichts der hohen Sicherheitsmargen in Deutschland sowieso keine Sorgen zu machen: Was liegt schon daran, wenn statt Faktor sieben bloß Faktor vier erreicht wird? Das ist immer noch viermal mehr als der notwendige Wert!

Dieses Denken beruht auf dem enormen Selbstvertrauen, das im gesamten deutschen Bauwesen herrscht, und zwar zu Recht. Es hat sich über Jahrhunderte akkumuliert und all jene geheimnisvollen Riten hervorgebracht, welche die Zunft bis heute prägen. Die "German Villages" in Amerika zeugen ebenso wie deutsche Siedlungen am Schwarzen Meer von dem enormen Renommee, das unsere Baukunst in aller Welt besitzt.

Der große Schock von Köln besteht nicht zuletzt darin, dass die althergebrachten Vorstellungen von Solidität, die mit dem deutschen Bauwesen verbunden sind, die aktuelle Wirklichkeit des Ungefähren so vollkommen verhüllen konnten. Dabei ist das Umsichgreifen des Ungefähren die wahrscheinlich wichtigste Entwicklung in der gegenwärtigen deutschen Geistes- und Seelenstruktur. Ein Volk, das in den Augen aller anderen die Präzision gepachtet hat, versinkt zusehends in selbst erzeugtem Chaos: Die Verwaltung kann es an Schlampigkeit mit der k.u.k.-Monarchie aufnehmen, die Eisenbahn fährt, wenn sie überhaupt noch fährt, nach indischen Zeitvorstellungen, und das größte Stadtarchiv nördlich der Alpen stürzt in eine schlecht gesicherte Baugrube.

Wahrscheinlich verlief nicht einmal der ursächliche Metalldiebstahl beim U-Bahn-Bau gezielt und planvoll, denn sonst hätte irgendeine tiefsitzende Restvernunft den Tätern bei 50 Prozent Schwund Einhalt geboten. Sagen wir es so: Wenn es normal ist, dass ein Viertel des Materials sowieso nicht eingebaut wird, dann kann unter dem Horizont der gerade geschilderten Denkungsart einer auf die Idee kommen, noch ein zweites Viertel abzuzweigen. Bloß völlige Planlosigkeit kann dazu führen, dass ein Dritter glaubt, der andere hätte noch nicht, und wir sind bei 75 Prozent. In der Kölner U-Bahn fehlen aber stellenweise über 80 Prozent der vorgesehenen Armierungseisen im Beton. So wirkt sich die Herrschaft des Ungefähren aus und führt zur Plötzlichkeit des Unausdenklichen.


Burkhard Müller-Ullrich: freier Publizist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk. Mitglied der Autorengruppe "Achse des Guten", deren Website www.achgut.de laufend aktuelle Texte publiziert.
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