Muslime als Sündenböcke auch für Corona
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Radikale Hindus in Indien beschuldigen Muslime, für die Ausbreitung der Pandemie verantwortlich zu sein. Moscheen werden als "Coronafabriken" bezeichnet, es ist die Rede vom "Coronadschihad". Doch anti-muslimische Ressentiments und Unterdrückung gehen noch viel weiter.
Die schweren Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen in Delhi zu Beginn des Jahres waren der vorläufige Höhepunkt immer wieder kehrender religiös motivierter Gewalt in Indien. Dutzende Menschen sind dabei auf zumeist brutale Weise getötet worden, Hunderte wurden verletzt.
Die Opfer, vorwiegend junge muslimische Männer, die über einen Zeitraum von drei Tagen, von einem Hindu-Mob gejagt wurden - mit dem Schlachtruf "Jai Shri Ram - Sieg für Gott Rama". Und die Polizei schaute weg und griff nicht ein.
Nach Darstellung von Augenzeugen soll es sogar Polizisten gegeben haben, die sich an der brutalen Gewalt, mit der ein vorwiegend muslimischer Stadtteil im Nordosten der indischen Hauptstadt überzogen wurde, beteiligten.
Wenn die Gesellschaft ihre Balance verloren hat
Er habe das Gefühl, die Menschlichkeit sei an diesem Tage verloren gegangen, sagte Dr. M.A. Anwar, der behandelnde Arzt im Al-Hind-Krankenhaus, im Stadtteil Mustafabad.
"Wenn Menschen auf solche brutale Weise getötet werden, dann hat die Gesellschaft ihre geistige Balance verloren. Ich hätte nie gedacht, dass selbst Rettungswagen daran gehindert werden könnten, zu den Verletzten durchzukommen. Sogar im Krieg wird das doch ermöglicht."
Ausgebrannte Moscheen, zerstörte und geplünderte Geschäfte und Wohnhäuser. Die Angreifer seien mit unglaublicher Brutalität vorgegangen, so der Direktor des Guru Teg Bahadur Krankenhauses im Nordosten Delhis, Sunil Kumar Gautam.
"Viele Patienten haben sehr schwere Verletzungen erlitten: Schussverletzungen, Messerstiche, Kopfverletzungen. Manche haben sich schwere Verletzungen zugezogen, weil sie aus großer Höhe irgendwo runtergesprungen sind, um den Angreifern zu entkommen."
Ausgelöst wurde die Gewalt von Protesten der muslimischen Bevölkerung gegen den Citizenship Amendment Act CAA, das neue umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz, das die Einbürgerung von Flüchtlingen aus den muslimischen Nachbarstaaten Indiens erleichtert. Muslime sind davon jedoch ausdrücklich ausgenommen.
Ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz, das diskriminiert
Für die Muslime in Indien, die mit über 170 Millionen oder knapp 15 Prozent der Gesamtbevölkerung die größte religiöse Minderheit im Land darstellen, war dies der Tropfen, der das Fass der empfundenen Diskriminierung im eigenen Land zum Überlaufen brachte.
Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz stelle den säkularen Charakter Indiens in Frage, meint Faizan Mustafa, der Vize-Kanzler der juristischen Universität NALSAR in Hyderabad.
"Das Gesetz diskriminiert auf der Grundlage der Religion. Dabei wurde das Gesetz damit begründet, dass religiöse Minderheiten in unseren Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan diskriminiert werden und deshalb Hilfe brauchen. Was in gewissem Sinne stimmt. Aber die Minderheit im eigenen Land wird dadurch gezielt ausgegrenzt."
Die im Citizenship Amendment Act CAA erstmals eingeführte Vergabe der Staatsbürgerschaft auf der Grundlage der Religionszugehörigkeit, öffne einer staatlich legitimierten Ausgrenzung der Muslime und anderer religiöser Minderheiten Tür und Tor, befürchten die Kritiker des Gesetzes. Die hinduistische Regierungspartei BJP versuche auf diese Weise ihr zentrales Vorhaben voranzutreiben, aus der säkularen Republik Indien, einen Hindu-Staat zu machen, so Professor Faizan Mustafa.
"Die indische Verfassung wurde nach der Teilung des Landes geschrieben, die ja ihrerseits eine religiöse Teilung in Indien und Pakistan war. Sie ist eine säkulare Verfassung, aber sie sieht nicht explizit eine Trennung von Staat und Kirche vor, wie das beispielsweise in der ausdrücklich laizistischen Verfassung Frankreichs der Fall ist. Sie legt aber gleichzeitig fest, dass der Staat nicht eine der Religionen des Landes bevorzugt, sondern neutral bleibt gegenüber allen religiösen Gruppen."
US-Kommission will Indien auf schwarze Liste setzen
Der Hinduismus ist eine der ältesten Weltreligionen und die am weitesten verbreitete Glaubensrichtung in Indien. Nach dem letzten Census, der rund neun Jahre zurückliegt, bezeichnen sich mehr als 80 Prozent der Inder als Hindus. Knapp 15 Prozent der Inder sind Muslime. Christen machen mit rund 25 Millionen etwa 2,5 Prozent aus, knapp 2 Prozent sind Sikhs und weniger als 1 Prozent Buddhisten und Jainisten, zwei Religionen, die an den Kreislauf der Wiedergeburt glauben und die Beseeltheit aller Lebewesen.
Die Freiheit der Religionsausübung in Indien sei in ernster Gefahr, beklagte die US-Kommission für die Internationale Religionsfreiheit und will Indien auf die schwarze Liste setzen. Als Gründe werden explizit das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz CAA, aber auch die weit verbreitete Diskriminierung und Gewalt gegen Muslime und Christen genannt.
So kommt es immer wieder zu Anschlägen und Angriffen auf Kirchen, wie zuletzt Ende Oktober im Bundesstaat Punjab. Mit Gewehren bewaffnete Männer eröffneten das Feuer auf Besucher eines Gottesdienstes einer pfingstkirchlichen Gemeinde. Es gab Tote und Verletzte. Kirchenführer warfen den Behörden vor, nichts zum Schutz religiöser Minderheiten zu unternehmen.
Religionswechsel als arglistige Täuschung?
Während die indische Regierung alle Vorwürfe zurückweist, sieht Faizan Mustafa, von der juristischen Hochschule NALSAR in Hyderabad Handlungsbedarf.
"Die US-Kommission hat Indien in die unterste Kategorie der besonders besorgniserregenden Länder herabgestuft. Das bedeutet, die Regierung billigt Verstöße gegen die Religionsfreiheit. Viele religiöse Minderheiten fühlen sich ausgegrenzt, geradezu nicht willkommen in diesem Land."
So gibt es bereits in mehr als einem halben Dutzend indischer Bundesstaaten ein sogenanntes Anti-Konversionsgesetz, das einen Religionswechsel durch "arglistige Täuschung", wie es wörtlich heißt, unter Strafe stellt. Unter anderem in Jharkhand, im Osten Indiens. Dort muss, seit das umstrittene Gesetz vor drei Jahren in Kraft gesetzt wurde, ein Wechsel zum Christentum oder einer Naturreligion vom Gouverneur genehmigt werden. Medienberichten zufolge sind seitdem bereits Dutzende Personen wegen illegaler Konversion zum Christentum ins Gefängnis gekommen.
Dieses Gesetz verbietet den Religionswechsel und es ist vor allem gegen christliche Missionsarbeit gerichtet. Seltsamerweise, wenn das wirklich ein Problem wäre, dann müsste die Zahl der Christen in Indien ja deutlich zunehmen. Tatsächlich ist deren Zahl aber gleichgeblieben oder sogar eher rückläufig. Und wenn jemand zum Hinduismus übertreten will, dann gilt das nicht als Konversion im Sinne des Gesetzes.
Der Druck, sich zum Hinduismus zu bekehren
Einige Gruppierungen der Adivasi, wie sich die indigenen Völker im Nordosten Indiens selbst bezeichnen, sind Christen oder Anhänger von Naturreligionen, die ihre eigenen Rituale praktizieren. Doch im Vorfeld des im nächsten Jahr anstehenden landesweiten Census, mache die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP Druck auf die Bewohner der Region, sich zum Hinduismus zu bekennen, berichtete die katholische asiatische Nachrichtenagentur UCA News. Nach Auffassung der BJP sind die Adivasi von Natur aus Hindus und gesetzeswidrig durch den Einfluss von Missionaren konvertiert.
Das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen, insbesondere der beiden größten Religionsgemeinschaften, den Hindus und den Muslimen, stand kürzlich im Mittelpunkt eines Werbespots der landesweiten Juwelierkette TanishQ, die zum größten indischen Mischkonzern TATA gehört.
Der Vorwurf des "Love-Dschihad"
Darin wurde gezeigt, wie eine Schwiegermutter für ihre schwangere Schwiegertochter ein Fest organisiert. Das Besondere, die Schwiegermutter war eine Muslimin, die Schwiegertochter eine Hindu-Frau. Der Werbespot löste einen Shitstorm im Internet aus. TanishQ erhielt Drohungen von radikalen Hindus.
Selbst Politiker der indischen Regierungspartei BJP warfen der Firma vor, sie fördere den sogenannten "Love-Dschihad". Diese in Indien weit verbreitete Verschwörungstheorie in hinduistischen Kreisen behauptet, muslimische Männer versuchten hinduistische Frauen in eine gemischt-religiöse Ehe zu locken, um so das ganze Land zum Islam zu konvertieren.
TanishQ zog den auf religiöse Harmonie basierenden Werbespot schließlich zurück. Immerhin planen mehrere indische Bundesstaaten jetzt sogar Gesetze gegen den sogenannten "Love-Dschihad". Dabei sollen in bestimmten Fällen einer Konvertierung nach einer interreligiösen Eheschließung, Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren verhängt werden.
Das ganze Gerede von "Love-Dschihad" sei völliger Unsinn, meint der muslimische Journalist Zafrul Islam Khan, der einst Vorsitzender der Minderheitenkommission in Delhi war. "Love-Dschihad" sei ein Hirngespinst radikaler Hindus, um religiöse Minderheiten, wie die Muslime zu diskreditieren.
Durch die Corona-Pandemie, wegen der in Indien Ende März ein landesweiter vollständiger Lockdown angeordnet wurde, kamen die Proteste der muslimischen Bevölkerung und andere religiöse Spannungen vorübergehend zum Stillstand. Tempel, Moscheen, Kirchen und andere religiöse Gebetshäuser und Einrichtungen waren geschlossen. Gebete und spirituelle Rituale fanden weitgehend zuhause statt.
Und doch brachten auch die Pandemie und der verzweifelte Kampf gegen das unbekannte Virus, Misstrauen und Geringschätzung radikaler Hindus gegenüber Muslimen und anderen Minderheiten an die Oberfläche.
Muslime für Corona-Ausbreitung verantwortlich gemacht
Anfang März, noch vor dem Corona-Lockdown, hatte die muslimische Missionsbewegung Tablighi Jamaat Tausende Gläubige zu einer Massenveranstaltung nach Delhi eingeladen. Einige Teilnehmer dieser Versammlung hatten sich mit Corona infiziert.
Danach verbreitete sich das Virus im ganzen Land. Die Gebetsversammlung in der Moschee im Stadtteil Nizzamudin galt als erstes Super-Spreader-Event in Indien, was die anti-muslimischen Ressentiments in der indischen Bevölkerung verstärkte. In den sozialen Netzwerken wurde der Hashtag #coronadschihad hunderttausendfach geklickt.
Die hindu-nationalistische Bewegung Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS, eine Unterorganisation der Regierungspartei BJP von Premierminister Modi, machte die religiösen Führer der Tablighi Jamaat für die Ausbreitung des Coronavirus in Indien verantwortlich. Arun Anand, der Chefideologe des RSS bezeichnete die muslimische Sekte als eine radikale Organisation, die alle Bemühungen der Regierung zunichte gemacht habe.
"Wir hatten die Corona-Epidemie fast unter Kontrolle, als diese Leute ihre Versammlung abhielten, mit Tausenden Teilnehmern. Und auf Videos kann man den Chef der Tablighi Jamaat sehen, wie er gegen das Versammlungsverbot agitiert hat. Dieses Verhalten wird von der ganzen Bevölkerung verurteilt."
Muslimische Stadtteile zu Sperrzonen erklärt
Der RSS ist eine Hindu-Gruppierung, die häufig durch aggressiv-martialische Aufmärsche in der Öffentlichkeit auffällt. Auch Premierminister Narendra Modi war in seiner Jugend Mitglied der Bewegung. Der RSS bezeichnet sich selbst mit Stolz als die größte Freiwilligenbewegung der Welt. Die Zahl der Mitglieder wird auf fünf bis sechs Millionen geschätzt. Disziplin und paramilitärische Übungen gehören zu ihrem Programm. Der göttlichen Hindu-Nation schwören sie ewige Treue.
In Delhi und anderen Millionenstädten des Landes, waren Muslime von den Corona-Maßnahmen besonders betroffen. So wurden zahlreiche Stadtteile mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung zu Sperrzonen erklärt, weil sich dort das Virus besonders stark ausbreite.
Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, die sich seit Jahren gegen die "Hindu-First-Politik" von Premierminister Narendra Modi einsetzt, erhob schwere Vorwürfe gegen die Regierung und sprach von Anzeichen eines Genozids. Seit Jahren würden Muslime in Indien an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sagte die Autorin und Menschenrechtsaktivistin in einem ARD-Interview.
"Die muslimische Community wurde vollkommen isoliert, unsichtbar gemacht. Lynchmorde gegen Muslime sind nur ein Aspekt davon. Die Lederindustrie, die Fleischindustrie in Indien wurden geradezu ausgelöscht, alles traditionelle Bereiche der Muslime, die dadurch zu Almosenempfängern gemacht wurden. Die Muslime wurden mit Gewalt in Unterwerfung geprügelt und sind in der sozialen Hierarchie immer weiter nach unten gerückt. Sie sind heute so etwas wie die neue Kaste der Unberührbaren."
Führende Politiker der Regierungspartei BJP forderten daraufhin juristische Schritte. Doch die Hindutwa, die seit Jahren vorherrschende Politik zur Stärkung der Vorherrschaft des Hinduismus in Indien, kann weitere Erfolge verbuchen.
Hindus siegen im Rechtsstreit um Tempel
Anfang August wurde in Ayodhya der Grundstein für den umstrittenen Tempel gelegt, für den die Hindu-Hardliner der indischen Regierungspartei BJP mehr als drei Jahrzehnte lang gekämpft hatten. Im November vergangenen Jahres hatte der Oberste Gerichtshof in Delhi den Rechtsstreit zwischen Hindus und Muslimen um das Gelände zugunsten der Hindus beendet und grünes Licht für den Tempelbau gegeben.
An der Stelle, wo jetzt der neue Tempel entsteht, stand eine Moschee, bis radikale Hindus das Gebetshaus aus dem 16. Jahrhundert im Dezember 1992 zerstörten, weil dort der Gott Rama geboren sein soll, eine der bedeutendsten Gottheiten des Hinduismus. Bei den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Muslimen und Hindus, waren rund 2000 Menschen ums Leben gekommen.
Der Tempelbau in Ayodhya schreitet voran und die muslimische Geschichte Indiens wird nach und nach ausgelöscht. Städte- und Straßennamen, die an die Jahrhunderte lange Mogul-Herrschaft erinnerten, wurden in den vergangenen Jahren geändert. So hieß die Tempelstadt Ayodhya bis vor zwei Jahren noch Faizabad und die Stadt Allahbad, ebenfalls im Bundesstaat Uttar Pradesh, wo der BJP-Hardliner Yogi Adityanath an der Macht ist, wurde durch Umbenennung zu Prayagraj.
Selbst für die Stadt Agra, wo das weltberühmte Taj Mahal steht, soll ein hindu-freundlicher Name gefunden werden. Das Mausoleum aus weißem Marmor, das der muslimische Groß-Mogul Shah Jahan im 17. Jahrhundert erbauen ließ und das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, ist nach der Lesart der Hindu-Nationalisten ein Relikt der Fremdherrschaft muslimischer Eroberer Indiens.
Die Hardliner des RSS würden das Grabmal gerne abreißen und die jahrhundertelange muslimische Herrschaft ganz ungeschehen machen. Die Deutschen hätten die Berliner Mauer ja auch abgerissen, so Surendra Jain von der RSS-Auslandsorganisation Vishnu Hindu Parishad.
"Genauso wie die Deutschen die Berliner Mauer eingerissen haben, müsste das Taj Mahal in einen Hindutempel umgewandelt werden. Erst dann kann es ein Symbol der Liebe sein."
Alle Inder sind Hindus?
Die internationale Staatengemeinschaft müsse einschreiten, fordert Zafrul Islam Khan, der frühere Vorsitzende der Minderheitenkommission in Delhi, damit die muslimische Geschichte und Gegenwart Indiens nicht ausgelöscht würden.
"Muslime haben dieses Land über sieben Jahrhunderte regiert und ein kulturelles Erbe hinterlassen. Die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten des Landes stammen aus der Mogul-Herrschaft, wie das Taj Mahal und das Rote Fort in Delhi. Und jetzt benennen sie alle Städte und Straßen, die an die muslimische Zeit erinnern um. Das ist eine sehr rohe Art, den Muslimen in Indien klar zu machen, dass sie nicht dazu gehören."
Für die Hardliner der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP von Premierminister Narendra Modi, ist Hinduismus keine Religion, sondern eine übergeordnete Staatsideologie der alle Inder folgen müssen, das alleinige Band, das die indische Gesellschaft zusammenhält. Im Prinzip, so heißt es immer wieder, seien alle Söhne und Töchter Indiens im Grunde genommen Hindus, egal welcher Religion sie gerade folgen.
Bernd Musch-Borowska vom ARD-Studio in Neu Delhi hält sich derzeit in Hamburg auf.