Essenz indischer Spiritualität
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Die Upanischaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus. Ihre Lehre ist bis heute lebendig. Vor allem in Klöstern, die der Gelehrte Adi Shankara um die Wende vom achten zum neunten Jahrhundert gegründet hat.
Die Kleinstadt Kalady im südindischen Bundesstaat Kerala. Im Shri-Adi-Shankara-Tempel hängt der monotone Sprechgesang der Priester in der Luft. Der weitläufige Tempelkomplex ist dem Philosophen Adi Shankara gewidmet, der hier im Jahr 788 nach Christus auf die Welt gekommen sein soll. Der Philosoph und religiöse Lehrer wird als eine Inkarnation des Gottes Shiva verehrt.
Ein Schatz spiritueller Schriften
Subramanian Iyer ist der ehrenamtliche Direktor des Tempels. Von Kopf bis Fuß in ein weißes Tuch gehüllt, sitzt der 63-Jährige in seinem Büro. Die philosophischen Abhandlungen der Upanischaden, erklärt der Professor für Sanskrit und Philosophie, seien Bestandteil der altindischen heiligen Schriften der Veden. Insgesamt gebe es über 200 Upanischaden. Die zehn wichtigsten habe Adi Shankara ausgiebig kommentiert:
"Die heiligen Schriften der Veden enthalten sehr ausführliche Details über Rituale, Meditation und Spiritualität. Doch Adi Shankara hebt die spirituelle Seite der Veden hervor. Und diese spirituellen Teile sind in den Upanischaden enthalten. Adi Shankara sah es als seine Aufgabe an, die Lehren der Upanischaden ins richtige Licht zu rücken."
Die Upanischaden sollen die Wissenschaft der Spiritualität enthalten, erklärt Subramanian Iyer. Eine Wissenschaft, die die individuelle menschliche Seele mit der universellen Seele verbinden möchte.
"Wir bezeichnen die individuelle Seele als ‚jiva atma‘, die Universal-Seele ist als ‚para atma‘ bekannt. Die Quintessenz aus den Lehren der Upanischaden ist, dass jiva atma und para atma identisch sind, dass Individual-Seele und Universal-Seele übereinstimmen. Wir müssen erkennen, dass wir nichts anderes als ein Teil der Universal-Seele sind."
Das Selbst in allen Dingen
Keiner habe diese Botschaft vorher so klar formuliert wie Adi Shankara, erklärt der 63-Jährige. Adi Shankara hat durch seine Arbeit die philosophische Strömung des Advaita-Vedanta begründet, die Lehre der "Nicht-Dualität". Bis heute vertreten viele Lehrer und religiöse Einrichtungen in Indien diese Strömung. Im Westen wurde die Lehre vor allem durch die Ramakrishna-Mission bekannt. Den Grundgedanken der "Nicht-Dualität" verdeutlicht ein Dialog aus der Chandogya-Upanischad:
Vater: "Lege dieses Salz ins Wasser und bring es morgen früh hierher. Nun, wo ist das Salz?"
Sohn: "Ich sehe es nicht."
Vater: "Nippe hier. Wie schmeckt es?"
Sohn: "Salzig, Vater?"
Vater: "Und hier? Und da?"
Sohn: "Ich schmecke überall Salz".
Vater: "Es ist überall, obwohl wir es nicht sehen. Genauso, mein Lieber, ist das Selbst überall, in allen Dingen drin, obgleich wir es nicht sehen."
Beim Guru sitzen und zuhören
"Was die Upanischaden sind? Upa bedeutet so viel wie ‚in der Nähe des Gurus sitzen‘. Und -nishad steht für zuhören, dem Guru zuhören. Neben dem Guru sitzen und zuhören, das sind die Upanischaden", erklärt der indische Gelehrte Parag Pathak.
Er lebt in Somnath, einer Stadt im westindischen Bundesstaat Gujarat. Der Gelehrte sitzt barfuß in seinem Wohnzimmer und hält ein schweres Buch in der Hand. Die Lehren der Upanischaden, erklärt er, habe ein Guru früher in der Einsamkeit der Wälder an seine Schüler weitergegeben. Dort wohnten sie in Ashrams, also Einsiedeleien, zusammen.
Dieses enge Lehrer-Schüler-Verhältnis gibt es in Indien bis heute. Die heiligen Schriften der Veden, fährt Parag Pathak fort, stünden eng mit unseren Körperteilen in Verbindung. Er blättert in dem dicken Buch, das Parallelen zwischen der menschlichen Physiologie und der vedischen Literatur zieht und diese ausführlich darstellt.
Die Upanischaden – ein Spiegelbild des Köpers
Auch die Upanischaden haben ihre Entsprechung in unserem Körper. Der Gelehrte liest vor:
"Die DNA-Gene, die die Informationen für die aufsteigenden Bahnen des zentralen Nervensystems enthalten, korrespondieren mit den Upanischaden der vedischen Literatur."
König Janaka: "Wenn nun die Sonne untergeht, Yajnavalkya, und der Mond untergeht und das Feuer erlischt und niemand spricht – was ist dann das Licht des Menschen?"
Weiser Yajnavalkya: "Das Selbst ist das Licht des Menschen, Eure Majestät, denn bei seinem Schein sitzen wir, werken wir, gehen wir hinaus und kommen wir zurück."
König Janaka: "Wer ist dieses Selbst?
Weiser Yajnavalkya: "Das Selbst, reines Gewahrsein, leuchtet als das von den Sinnen umgebene Licht im Innern des Herzens. Nur scheinbar denkend, nur scheinbar sich bewegend, schläft das Selbst nicht, noch wacht es, noch träumt es."
Der Weise Adi Shankara aus Kerala, so ist es überliefert, wurde nur 32 Jahre alt. Allerdings soll er sich schon im Alter von acht Jahren für ein Leben in Askese entschieden haben. Er kommentierte nicht nur die Upanischaden, sondern reiste auch viel durch Indien. Auf seinen Reisen verbreitete er die Philosophie der "Nicht-Dualität" und des Sanatana Dharma, der sogenannten "ewigen Ordnung". Ein Begriff, mit dem Hindus ihre Religion oder Lebensweise bezeichnen. Um Sanatana Dharma zu etablieren, gründete Adi Shankara vier Klöster. In jedem wird einer der vier Veden bewahrt und gepflegt.
Im westindischen Bundesstaat Gujarat, in der Stadt Dwarka. Ein Sänger sitzt im Schneidersitz auf einem Teppich. Während er singt, bewegt sich seine rechte Hand zur Melodie. Keine ungewöhnliche Szene in Shardapith Math. Denn hier, in einem der vier Klöster, die Adi Shankara auf seinen Reisen gegründet hat, wird das Erbe des Samaveda bewahrt. Er enthält das Wissen über Melodien und Gesänge und gilt als eine Wurzel der klassischen indischen Musik und des Tanzes.
Klöster in allen vier Himmelsrichtungen
Swami Sadanand Sarasvati, der stellvertretende Oberpriester, läutet die Aarti, die Morgenandacht, im Shardapith Math ein. Sharda ist ein anderer Name von Sarasvati, der Göttin der Musik, der Sprache und des Wissens – ihr ist das Kloster gewidmet. Nach der Andacht hat der Swami Zeit für ein Gespräch über die Entstehung der Upanischaden:
"Zur damaligen Zeit wurde das Wissen der Veden vom aufkommenden Buddhismus intellektuell in Frage gestellt und attackiert. Die Autorität der Veden wurde vernachlässigt."
Die Upanischaden wurden von zahlreichen, meist unbekannten Autoren über einen sehr großen Zeitraum hinweg niedergeschrieben. Dessen Kernzeit liegt in etwa zwischen 400 vor und 400 nach Christus. Die vor allem auf Rituale bezogenen Veden enden mit den philosophischen Ideen der Upanischaden.
Das hängt auch mit dem intellektuellen Druck zusammen, den der Buddhismus auf den Brahmanismus ausübte. Denn der Buddhismus entstand im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus zunächst nur als Reformbewegung des Brahmanismus. Erst später dividierten sich die beiden auseinander. Als Adi Shankara Ende des 8. beziehungsweise Anfang des 9. Jahrhunderts nach Christus in allen vier Himmelsrichtungen Indiens Klöster errichtete, wollte er vor allem die "ewige Ordnung" des Brahmanismus verteidigen und stärken.
"Wir sprechen gerade alle darüber, dass wir Einheit herstellen müssen. Genaugenommen sind wir aber alle sehr unterschiedlich. Einer ist alt, der andere jung, einer ist schwarz, der andere weiß. Wie können wir alle eins sein, wenn wir uns so stark voneinander unterscheiden? Adi Shankara sagt, dass jeder die gleiche Seele hat. Und zwar von der Ameise bis zum Elefanten."
Aus Sicht des stellvertretenden Oberpriesters Sadanand Sarasvati ist die Philosophie Adi Shankaras deshalb so wichtig, weil sie eine Antwort darauf gibt, wie wir leben können: Wir sind alle verschieden, aber es gibt etwas, das uns alle eint.
"Das Selbst ist in den Herzen aller Wesen verborgen,
wie die Butter im Rahm verborgen liegt.
Realisiere das Selbst in den Tiefen der Meditation –
den Herrn der Liebe, die höchste Wirklichkeit,
der das Ziel allen Wissens ist.
Dies ist die oberste mystische Lehre."
wie die Butter im Rahm verborgen liegt.
Realisiere das Selbst in den Tiefen der Meditation –
den Herrn der Liebe, die höchste Wirklichkeit,
der das Ziel allen Wissens ist.
Dies ist die oberste mystische Lehre."