Die Hölle vergessen
Was muss dieser Mensch erlebt haben? Meisterhaft schildert der Journalist Kuno Kruse die inneren Abgründe eines Mannes, den die traumatisierenden Misshandlungen durch Priester und Nonnen dazu gebracht haben, sich selbst zu verlieren.
Er sitzt auf einer Parkbank. Das erste, was ihm auffällt, ist sein eigener Duft. Er ist im zuwider. Wie lange er hier sitzt, weiß er nicht. Er weiß auch nicht, wo er sitzt, warum er hier sitzt und wie er dorthin gekommen ist? Das Schlimmste aber: Er weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt, was er von Beruf ist, ob er eine Familie hat. Sein Leben ist ihm entfallen. Es ist der 12. April 2005. Hier beginnt die Geschichte des Mannes, der sein Gedächtnis verlor, die erschütternde Geschichte von Jonathan Overfeld.
2008 hat Kuno Kruse sie das erste Mal in der Zeitschrift "Stern" erzählt, jetzt liegt sie als Buch vor. Mehr als 250 Seiten dick, voll von seelischem Leid, Schmerz und Panik, die Jonathan Overfeld auf seiner Suche nach der eigenen Identität begleiten. Einer Identität, die er bis heute, fünf Jahre nach der Parkbank, noch immer nicht vollständig zurückgewonnen hat. Bruchstückhaft lernt er, wer er war, was er war und mehr noch: warum er alles vergessen hat. "Dissoziative Amnesie" nennen die Fachleute diesen Zustand, den man sogar auf Computerbildern sichtbar machen kann, obgleich ihm keine organischen Ursachen zugrunde liegen.
Diese Art Gedächtnisverlust ist psychisch bedingt, oft ist ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit der Auslöser. Bei Jonathan Overfeld ist es die Hölle, die er zu vergessen sucht: der organisierte und wiederholte sexuelle Missbrauch durch Priester und Nonnen während seiner Kindheit und Jugend.
Das ist harter Stoff. Zumal sich der Autor eines filmischen Stilmittels bedient: In kleinen, oft nur zwei Seiten kurzen Kapiteln begleitet man Jonathan Overfeld bei seiner Suche. Taucht wie er ein in die Angst und die Ungewissheit, ist geschüttelt von der Schwere dieses Zustandes und muss lernen, dass die eigene Identität zu verlieren, hilflos macht wie kaum etwas anderes. Diese innere Leere zu ertragen – unvorstellbar. Kleine Tagebuchnotizen verstärken diesen Sog: "Ich lebe in einem Chaos",steht da oder: "Ich will nicht mehr." Und: "Ich habe Angst." Über all dem immer die Frage: Was muss jemand erlebt haben, dass er es irgendwann nicht mehr aushält und sich selbst verliert?
Kuno Kruse gelingt es meisterhaft, diesen inneren Abgrund zu schildern. Oft kann man nicht trennen zwischen Autor und Overfeld. Fast so, als wären sie eins. Und dann doch wieder nicht. Das nimmt gefangen. Zumal Kruse immer an den wichtigen Stellen die richtigen Fragen stellt und Fachleute zu Wort kommen lässt. Das ist die hohe Kunst des Schreibens. Kuno Kruse beherrscht sie.
Und so sucht man Schritt für Schritt mit Overfeld Teile seines alten Lebens zusammen. Über eine Suchmeldung melden sich alte Freunde. Jonathan Overfeld erkennt sie nicht. Sie erzählen Geschichten, die ihm nichts sagen. Einen Trigger-Moment aber gibt es für diesen Mann ohne Gedächtnis, der ihm Teile seiner Erinnerung zurückbringt: Klavierspielen. Zum ersten Mal passiert es im Aufenthaltsraum der Psychiatrischen Station der Berliner Charité. Jonathan Overfeld setzt sich ans Klavier, seine Finger gehorchen einem inneren Befehl, ohne Notenblätter spiel er das "Ave Maria" von Bach. Und plötzlich sind sie da, bruchstückhaft, die brutalen Erinnerungen. Seite für Seite taucht man tiefer in sie ein, begleitet den heute 61-Jährigen zu seinen Wurzeln. Fragt sich, wie Jonathan Overfeld oft selbst, kann das alles stimmen? Ist das nicht zuviel für ein Leben? Zu viel Schrecken, Schläge, Angst und Erniedrigung?
Nein, ist es leider nicht. Jonathan Overfelds Geschichte ist das beklemmende Zeugnis dafür, was Menschen Schutzbefohlenen, Kindern, antun können. Und das alles – vermeintlich – im Namen des Herrn.
Besprochen von Kim Kindermann
Kuno Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010
256 Seiten gebunden, 20,00 Euro
2008 hat Kuno Kruse sie das erste Mal in der Zeitschrift "Stern" erzählt, jetzt liegt sie als Buch vor. Mehr als 250 Seiten dick, voll von seelischem Leid, Schmerz und Panik, die Jonathan Overfeld auf seiner Suche nach der eigenen Identität begleiten. Einer Identität, die er bis heute, fünf Jahre nach der Parkbank, noch immer nicht vollständig zurückgewonnen hat. Bruchstückhaft lernt er, wer er war, was er war und mehr noch: warum er alles vergessen hat. "Dissoziative Amnesie" nennen die Fachleute diesen Zustand, den man sogar auf Computerbildern sichtbar machen kann, obgleich ihm keine organischen Ursachen zugrunde liegen.
Diese Art Gedächtnisverlust ist psychisch bedingt, oft ist ein traumatisches Erlebnis in der Kindheit der Auslöser. Bei Jonathan Overfeld ist es die Hölle, die er zu vergessen sucht: der organisierte und wiederholte sexuelle Missbrauch durch Priester und Nonnen während seiner Kindheit und Jugend.
Das ist harter Stoff. Zumal sich der Autor eines filmischen Stilmittels bedient: In kleinen, oft nur zwei Seiten kurzen Kapiteln begleitet man Jonathan Overfeld bei seiner Suche. Taucht wie er ein in die Angst und die Ungewissheit, ist geschüttelt von der Schwere dieses Zustandes und muss lernen, dass die eigene Identität zu verlieren, hilflos macht wie kaum etwas anderes. Diese innere Leere zu ertragen – unvorstellbar. Kleine Tagebuchnotizen verstärken diesen Sog: "Ich lebe in einem Chaos",steht da oder: "Ich will nicht mehr." Und: "Ich habe Angst." Über all dem immer die Frage: Was muss jemand erlebt haben, dass er es irgendwann nicht mehr aushält und sich selbst verliert?
Kuno Kruse gelingt es meisterhaft, diesen inneren Abgrund zu schildern. Oft kann man nicht trennen zwischen Autor und Overfeld. Fast so, als wären sie eins. Und dann doch wieder nicht. Das nimmt gefangen. Zumal Kruse immer an den wichtigen Stellen die richtigen Fragen stellt und Fachleute zu Wort kommen lässt. Das ist die hohe Kunst des Schreibens. Kuno Kruse beherrscht sie.
Und so sucht man Schritt für Schritt mit Overfeld Teile seines alten Lebens zusammen. Über eine Suchmeldung melden sich alte Freunde. Jonathan Overfeld erkennt sie nicht. Sie erzählen Geschichten, die ihm nichts sagen. Einen Trigger-Moment aber gibt es für diesen Mann ohne Gedächtnis, der ihm Teile seiner Erinnerung zurückbringt: Klavierspielen. Zum ersten Mal passiert es im Aufenthaltsraum der Psychiatrischen Station der Berliner Charité. Jonathan Overfeld setzt sich ans Klavier, seine Finger gehorchen einem inneren Befehl, ohne Notenblätter spiel er das "Ave Maria" von Bach. Und plötzlich sind sie da, bruchstückhaft, die brutalen Erinnerungen. Seite für Seite taucht man tiefer in sie ein, begleitet den heute 61-Jährigen zu seinen Wurzeln. Fragt sich, wie Jonathan Overfeld oft selbst, kann das alles stimmen? Ist das nicht zuviel für ein Leben? Zu viel Schrecken, Schläge, Angst und Erniedrigung?
Nein, ist es leider nicht. Jonathan Overfelds Geschichte ist das beklemmende Zeugnis dafür, was Menschen Schutzbefohlenen, Kindern, antun können. Und das alles – vermeintlich – im Namen des Herrn.
Besprochen von Kim Kindermann
Kuno Kruse: Der Mann, der sein Gedächtnis verlor
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2010
256 Seiten gebunden, 20,00 Euro