Wenn die Stimme ein Konzert gibt
Tisch, Mikro, Leselampe: Für eine Lesung braucht es nicht viel, will man meinen. Doch oft sind bei der Vorbereitung Dilettanten am Werk. Der Autor Hanns-Josef Ortheil hat 21 Autoren gefragt, was für sie eine ideale Lesung ausmacht.
Ein dreiseitiges "Merkblatt" ließ der Autor Ernst Jandl den Veranstaltern seiner Lesungen vorab zukommen. Darin listete er Details auf, die bei der Vorbereitung zu beachten seien: Aschenbecher und Wasser auf dem Lesetisch, ein "sorgfältig ausgewähltes" Hotel und nicht zu lange Gespräche mit Fans und der Presse danach. Der Autor Hanns-Josef Ortheil hat diese Anweisungen zusammen mit Mitherausgeber Klaus Siblewski als Anlass für das Buch "Die ideale Lesung" genommen. Darin schütten 21 Autorinnen und Autoren in Bezug auf ihre Lesereisen ihr Herz aus.
Dilettantische Aufführungsbedingungen
Die meisten Autoren litten darunter, dass die Lesung als Inszenierung nicht ernst genug genommen werde, so Ortheil. Oft sei die Haltung der Veranstalter, dass man sich auf den Auftritt eines Autors nicht weiter vorbereiten müsse: "Da steht dann irgendein Tisch, und ein Mikro wird wahrscheinlich auch irgendwie funktionieren und das Licht, da braucht man sich auch nicht viele Gedanken zu machen", so Ortheil. "Oft leiden die Autorinnen und Autoren dann unter diesen dilettantischen Aufführungsbedingungen."
Ortheil selbst ist bei Lesungen routiniert. "Ich bin nicht aufgeregt, im Gegenteil, ich freue mich und warte eigentlich immer auf den schönen Moment, oben an dem Tisch zu sitzen. Wenn alles eingerichtet ist und wenn ich das Publikum sehe, ist das ein ganz, ganz großer Moment."
"Hinein in die innere Lautsphäre des Autors"
Ortheil wurde 1951 in Köln geboren, schreibt seit seinem achten Lebensjahr Erzählungen. Seinen literarischen Durchbruch feierte er 1979 mit dem Debütroman "Ferner" über die Flucht eines desertierten Soldaten durch das Nachkriegsdeutschland. Es folgten weitere, auch preisgekrönte Romane und Erzählungen, unter anderem "Schwerenöter" (1987), "Agenten" (1989), "Abschied von den Kriegsteilnehmern" (1992), "Das Verlangen nach Liebe" (2007), "Die Moselreise" (2010) und "Die Berlinreise" (2014).
Eine Lesung sei für ihn eine Übersetzung des Textes ins Stimmliche, so der Autor. "Die Stimme ist wie ein Konzertinstrument, das den Text neu instrumentiert. Das ist ein ganz neues Stadium von Aneignung von Text, über das stumme naive Lesen hinaus, hinein in die innere Lautsphäre des Autors."
(uz)
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Das Interview im Wortlaut
Katrin Heise: Nicht mehr virtual, sondern ganz real geht's jetzt los, es geht um die ideale Lesung. Ernst Jandl war ja ein begnadeter Schriftsteller, Wort- und Lautkünstler vielleicht besser, und wenn er las oder vortrug, war das ein ganz besonderes Erlebnis. Damit das so gut klingen konnte, das Mikro also nicht rückkoppelte, der Stuhl nicht gequietscht hat und was da noch alles so passieren kann, also damit das alles nicht passiert, bestand der Künstler auf einer akribischen Vorbereitung. Damit hat er nicht sich gemeint, sondern den Veranstalter – worüber wir Leser und Lesungsbesucher uns ja nie Gedanken machen, was so eine Lesung eigentlich für den Autor bedeutet. Ein kleines Büchlein gewährt uns jetzt Eindrücke, Einblicke in die Seele der Vorlesenden, herausgegeben wurde es von Hanns-Josef Ortheil, den kennen wir durch so beeindruckende Romane wie "Das Kind, das nicht fragte" oder "Der Stift und das Papier". Ich grüße Sie, Herr Ortheil!
Hanns-Josef Ortheil: Ja, hallo!
Heise: 21 schreibende Kolleginnen und Kollegen schütteten in Bezug auf ihre Lesereisen ihr Herz aus. Die Idee kam ja tatsächlich von Ernst Jandl, mehr oder weniger. Erzählen Sie doch mal bitte noch von dem Fund Ihres Mitherausgebers, Klaus Siblewski!
Ortheil: Ernst Jandl war ja eigentlich der erste große Lesende, der in überdimensionalen Foren auftrat, also in der Royal Albert Hall in London und in großen Stadien und in Messehallen. Also er hatte Lesungen mit Hunderten von Besuchern und wurde auch als einer der Ersten wahrgenommen, der quasi in der Reihe der alten griechischen Sänger wieder auftrat und ganze Massen faszinierte. Dazu war es eben nötig, dass diese Lesungen wie große Performances aufgebaut waren, dass er also immer sicher sein konnte, dass alles funktionierte. Ganz logischerweise hat er dann einen großen Katalog entworfen von vielen Punkten, den er an die Veranstalter geschickt hat, immer mit der Vorgabe, macht das alles bitte, bereitet das gut vor, macht das alles so, wie ich es euch jetzt empfehle, das Mikro, der Tisch, der Stuhl, das Licht. Er war eigentlich einer der Ersten, der die Lesung ganz als Auftritt ernst genommen hat und von A bis Z akribisch geplant hat. Diesen Katalog haben wir entdeckt jetzt, also hat Klaus Siblewski entdeckt in der österreichischen Nationalbibliothek im Nachlass von Ernst Jandl, und dann haben wir die schöne Idee gehabt, das an viele junge Autoren und Gegenwartsautoren zu schicken und zu fragen, wie würdet ihr heute eure eigene ideale Lesung aufbauen, was würdet ihr von den Veranstaltern verlangen.
"Eine Lesung ist wirklich etwas ganz Großes"
Heise: Und da kommt einiges an Erlebnissen, Befürchtungen, Wünschen zustande. Ich hab auch sehr gelacht, als ich gelesen habe, wie die Reihenfolge der Weine sein muss, damit Sie so richtig in Lesestimmung kommen. Aber mal ernsthaft, worunter leiden die Autorinnen und Autoren tatsächlich?
Ortheil: Die Autoren und Autorinnen leiden, glaube ich, die meisten, darunter, dass es nicht ernst genommen wird, dass die Lesung so gesehen wird als ein kleiner Auftritt, wo man sich nicht weiter drauf vorbereitet. Da steht irgendein Tisch und ein Mikro wird wahrscheinlich doch irgendwie funktionieren, und das Licht, ja, da brauch man sich auch nicht viele Gedanken drum zu machen. Das Ganze wird als Event, also als Inszenierung nicht ernst genug genommen, und oft leiden dann die Autoren und Autorinnen unter diesen dilettantischen Aufführungsbedingungen. Andererseits ist eine Lesung wirklich was ganz Großes. Man kommt ja irgendwo hin, man reist weit an und man präsentiert seinen Text einem großen Publikum, und da sollte eigentlich auch alles stimmen und man sollte eigentlich auf jedes Detail achten und das Detail auch vorher mit den Veranstaltern absprechen.
Heise: Mich würde aber noch mal interessieren, was Sie als Autor oder Ihre Kollegen, beispielsweise Kerstin Hensel versammelt, John von Düffel ist dabei, Max Goldt, also ganz viele Leute, ganz viele Autoren, die sich geäußert haben, was möchten Sie eigentlich mit einer Lesung bieten, welche Hoffnungen, Erwartungen haben Sie daran?
Ortheil: Die Lesung ist ja noch mal eine Übersetzung des Textes jetzt ins Stimmliche, dass die Stimme den Text noch mal neu auflädt und der Leser quasi, der jetzt zuhört, wahrnimmt, wie ein Autor selbst seinen eigenen Text instrumentiert hat. Das ist etwas ganz Neues, denn die Stimme ist wie ein Instrument, wie ein Konzertinstrument, das jetzt den Text neu instrumentiert und herüberzubringen versucht in einer ganz individuellen Version an den Leser. Ich selbst habe zum Beispiel sehr oft nach Lesungen gehört dann die Reaktion von Leserinnen und Lesern, die gesagt haben, jetzt höre ich den Text erst, also jetzt ist der Text sozusagen so in meinem Ohr, wie Sie ihn vorgelesen haben, und selbst wenn Sie nur wenige Stellen vorgelesen haben, höre ich ihn jetzt so, wie Sie ihn gelesen haben wollen, und könnte Ihnen, wenn ich jetzt selbst mich wieder zurückziehe mit dem Buch, in dieser Fasson wieder weiterlesen. Das ist also ein ganz neues Stadium von Aneignung von Text – über das stumme, naive Lesen hinaus hinein in die innere Lautsphäre des Autors.
Dieselbe Pointe zündet nicht überall
Heise: Und was passiert, wenn jetzt zum Beispiel eine Pointe, die Sie sich ausgedacht haben in der stillen Stube, nicht zündet, oder wenn der Saal unruhig bleibt, macht das dann auch was mit Ihnen und Ihrem Gefühl zu Ihrem Text, also steht der immer wieder zur Disposition bei einer Lesung?
Ortheil: Nein, aber die Orte stehen zur Disposition, wo ich vorlese. Das ist ja Spannende, dass man dann mit dem Text herumfährt und ja doch ähnliche Stellen vorliest und plötzlich merkt, in Paderborn schweigen alle. Die Zuhörer sitzen da, und man denkt, wo bin ich, was ist denn jetzt passiert, keiner regt sich, es gibt keine Rückkopplungen. Und dann liest man denselben Text, was weiß ich, in Köln-Sülz, und plötzlich ist die Erregung nach dem vierten Satz da, und eine ganz andere Lesung findet statt. Es ist wirklich wie bei Konzerten auch, von denen ja dann auch Menschen berichten, die Musik machen, die dieselbe Erfahrung gemacht haben: Wir kommen an verschiedene Stätten, spielen dasselbe Stück und erhalten ganz verschiedene Reaktionen. Das ist natürlich für den Vorlesenden ungeheuer interessant, das abzuklopfen und seinen Text an verschiedenen Orten zu testen.
Heise: Wo Sie gerade die Musik erwähnen, im Musikbereich bekommt ja das Livekonzert immer mehr Bedeutung, das ist ja wahrscheinlich bei den Lesungen ähnlich. Sie haben es gerade angedeutet, die Leser, die Hörer in dem Fall vielleicht auch, erwarten ganz unterschiedliche Dinge, sie wollen den Text mal vom Autor hören, sie wollen unterhalten werden, aber vielleicht wollen sie ja auch vom Autor etwas erfahren, also dieses Fragen am Ende, aber wie ich dem Buch entnommen habe, viele Schriftsteller schätzen das nun gerade gar nicht.
Ortheil: Nein, das Fragen am Ende ist was sehr Protestantisches. Man käme ja nie bei der Musik auf die Idee, hinterher, wenn die Leute ein Musikstück aufgeführt haben, zu fragen, warum haben Sie das auf der G-Seite so und so gespielt, das würde man nicht tun. Eine Lesung muss für sich stehen, sie ist ein auratisches Ereignis, und das muss übergehen in bestem Falle in die Seelen der Zuhörer und dort Wirkungen zeitigen. Und dann diese prosaische Phase hinterher, dass wir das alles jetzt noch mal aufarbeiten, indem wir Fragen stellen und sagen, wie geht's Ihnen heute oder schreiben Sie mit Stift oder mit dem Laptop, das sind Fragestellungen, die das Ganze ja wieder entauratisieren, also das sollte man lassen. Aber was die Leserinnen und Leser gerne erwarten und was auch, finde ich, sehr schön ist, dass sie vom Autor mehr hören als die bloße Lesung, dass sie also hinkommen und hören, wie habe ich denn diesen Text erarbeitet, was ist passiert, bis ich zu dieser Endfassung kam, was habe ich mit diesem Text selbst verbunden und so weiter. Also sie möchten natürlich mehr hören als das bloße Rezitieren von Stellen, und da sind auch die Autorinnen und Autoren gefordert in der Weise, dass sie ein Vermögen haben müssen, so eine Art Minimoderation ihrer Texte selbst zu gestalten, also etwas mehr dem Leser anzubieten als bloßes Vorlesen.
Vorfreude auf die Lesung vor Publikum
Heise: Sie, der viele Lesungen in seinem Leben schon gehalten hat, sind Sie eigentlich noch aufgeregt vor Lesungen?
Ortheil: Nein, nee, aber das ist eine Sonderform. Ich habe, bevor ich geschrieben habe, als Pianist auch viele Auftritte gehabt, und schon da war ich irgendwie nie aufgeregt. Das ist eine reine Temperaments- oder eine Psychosache. Ich bin nicht aufgeregt, im Gegenteil, ich freue mich so und ich warte eigentlich immer auf das Ereignis selbst, also auf den schönen Moment, oben an dem Tisch zu sitzen, und wenn das alles eingerichtet ist und ich das Publikum unten sehe, ist das ein ganz, ganz großer Moment. Das ist doch für einen Autor was ganz Wunderbares, so viele Menschen zu sehen, die dann extra gekommen sind für einen Abend und einen nur hören wollen. Das begeistert mich dann in dem Augenblick so, an Aufregung denke ich überhaupt nicht.
Heise: Hanns-Josef Ortheil, danke schön! Dann freuen wir uns schon auf die nächsten Lesungen, die finden, mal ganz abgesehen von den Lesungen auf der Buchmesse heute und morgen noch, die finden also Ende November in München und in Erlangen statt. Das erwähnte Büchlein "Die ideale Lesung" ist in der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung erschienen.
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