Die infantile Gesellschaft

Werdet endlich erwachsen!

Eine Illustration zeigt eine wütende Faust in comichafter Überzeichung mit Wölkchen und Peng.
Mehr Frustrationstoleranz fordert die Pädagogin Astrid von Friesen von ihren Mitmenschen. © imago images / fStop Images / Malte Müller
Gedanken von Astrid von Friesen · 03.08.2022
Nicht wir selbst sind dafür verantwortlich, wenn etwas nicht wie gewünscht läuft, sondern die Politik: Eine solche Denkweise beobachtet die Pädagogin Astrid von Friesen bei ihren MitbürgerInnen und findet sie ziemlich infantil.
Was heißt Erwachsensein? Formal gesprochen: Jemand ist älter als 18 Jahre, finanziell sowie rechtlich selbstverantwortlich, räumlich eigenständig. Bemutterung also ade. Es besteht eine soziale Eigenständigkeit zum Beispiel bezogen auf Entscheidungen des Berufes und des Lebensstils. Hinzu kommt eine psychische Ablösung von der Herkunftsfamilie mit eigenen Freundeskreisen und LiebespartnerInnen.
Oh Schreck, oh Graus, meinen viele Jungerwachsene: Dann müssen wir unser Geld selbst verdienen, sogar den eigenen Haushalt bewältigen, uns festlegen auf  Beruf, Beziehungsstatus, eventuell Kinder. Das kann nur Sorgen und Freiheitsverlust bringen sowie entsetzliche Langeweile.

Verantwortung übernehmen für die Gesellschaft

Der Soziologe Norbert Elias setzte bereits in den 1930er-Jahren das Erwachsenseins mit Zivilisiertheit gleich, wenn die kindliche Wildheit überwunden und in akzeptable Bahnen gelenkt wurde. Zur Zivilisierung gehört die Beherrschung der Triebe sowie die Akzeptanz von Sitten, Rollen und Moral. Da fragt man sich, ob dies zutrifft bei 65-jährigen Vollschlanken, die mit knappsten Shorts und Hemdchen das Stadtbild prägen und deren verschwitzte Haut im engen Bus körpernah ausgehalten werden muss? Nicht adäquat, vielmehr infantil, diese Kinder-Freizeit-Kleidung der halbnackten „Dauerjugendlichen“, wie Robert Bly 1997 schrieb. Bloß nicht erwachsen erscheinen!
Psychoanalytisch geht es beim Erwachsensein darum, nicht wie im Kindermodus die Welt in „gut und böse“ zu spalten, sondern auszuhalten, dass jeder diese Anteile besitzt. Auch nicht Verantwortung nur für sich und seine engste Familie zu übernehmen, sondern für die Gemeinschaft, für unsere Welt. Argumente der Gegenseite anzuhören, Kompromisse zu schließen, Konflikte konstruktiv zu lösen, ohne Gewalt, sind erwachsene Fähigkeiten.

Frustrationstoleranz entwickeln

Wenn die einzelnen Entwicklungsstufen vom Baby bis zum Erwachsenalter nicht positiv bewältigt wurden, fallen Menschen, besonders in Stresssituationen, auf frühere Stufen zurück. Das ist spürbar bei jedem Ehestreit, beim Anbrüllen der eigenen Kinder, beim Mobben oder bei der infantil abgründigen Fäkalsprachen-Beschimpfung im Internet. Infantile suchen wie Kleinkinder nach der heilen Welt, ohne jedoch vom Sofa aufzustehen!

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Wird sie nicht sofort herbeigezaubert, reagieren sie ausfallend wütend, wie damals, als die Eltern ihnen keine Frustrationstoleranz abverlangten, vielmehr sie mit Süßkram und immerwährendem Lustgewinn durch die Medien ruhigstellten. Damals waren Vater und Mutter für permanenten Lustgewinn zuständig, heute „Vater Staat“ und – noch vor Kurzem – „Mutti Merkel“. Wenn das nicht klappt – ärgerlicherweise gibt es ja noch 83 Millionen „Geschwister“, die ebenfalls Ansprüche stellen – gelten Politiker, Experten und Wissenschaftler als „dumm und unfähig“.

Den Platz in der Gruppe akzeptieren

Zum Erwachsensein gehört auch, seine Rolle und seinen Platz in der Familie, den diversen Gruppen und Teams zu akzeptieren und entweder Führungsverantwortung zu übernehmen oder, wenn man sich bewusst dagegen entscheidet, zumindest aktive Mitverantwortung einzugehen.
Denn Autorität, gewählte, vorgesetzte, frei gesuchte, braucht Akzeptanz, weil wir leider alle derart ungenügend ausstaffiert sind, dass Gruppen ohne Leitungen nicht funktionieren. Das zeigt die Realität, die anzuerkennen so unfassbar schwer ist und einen Großteil des Erwachsenenlebens benötig.

Astrid von Friesen, Diplom-Pädagogin, Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin in Dresden und Freiberg, Supervisorin und Publizistin, unterrichtete 20 Jahre an der TU Bergakademie Freiberg. Ihre beiden letzten Bücher mit Gerhard Wilke: „Generationen als geheime Macht – Wechsel, Erbe und Last“ (2020) sowie „Die Macht der Wiederholungen: Von quälenden Zwängen zu heilenden Ritualen“ (2021).                                                                                                      

Astrid von Friesen
© dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
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