"Die Inquisition ist mit Sicherheit das falsche Instrument"
Bei der Inquisition sei es um strittige Glaubenslehren und die Glaubenseinheit gegangen. Die Verurteilung der Taten und der ethische Standpunkt der Kirche gegenüber sexuellem Missbrauch seien aber völlig eindeutig, sagt Kirchenhistoriker Andreas Holzem. "Man braucht keine Inquisition, um das zu untersuchen".
Joachim Scholl: Braucht die katholische Kirche ein eigenes juristisches Gremium, eigene Verfahren, um die Missbrauchsfälle in den Reihen katholischer Kirchenmänner zu verfolgen und zu ahnden? Den Vorschlag einer neuen Inquisition wurde in der letzten Woche von der Zeitung "Die Welt" in dieselbe gesetzt und wir wollen diese Idee und Vorstellung mit dem Kirchenhistoriker Andreas Holzem von der Universität Tübingen diskutieren.
Die heilige Inquisition war ein innerkirchliches juristisches Verfahren, das ab dem 12. Jahrhundert eingesetzt wurde, um Abweichler vom rechten Glauben, Ketzer, zu verfolgen. Bis heute wird die Inquisition verknüpft mit Willkür, sogenannter peinlicher Befragung, Folter und Scheiterhaufen. Die Nachfolgerin der Inquisition ist die seit 1965 sogenannte Glaubenskongregation des Vatikans. Diese Kongregation wurde 24 Jahre lang von Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt, geleitet. Nun, in düsterster Zeit der Missbrauchsskandale, werden Stimmen laut, die eine neue Inquisition fordern als Reinigungsinstrument der katholischen Kirche. Am Telefon begrüße ich jetzt Andreas Holzem, er ist Professor für mittlere und neuere Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Guten Tag, Herr Holzem!
Andreas Holzem: Guten Morgen!
Scholl: Braucht die katholische Kirche wirklich eine neue Inquisition?
Holzem: Nein, das glaube ich nicht. Die Inquisition ist mit Sicherheit das falsche Instrument. Wir haben, anders als im Mittelalter, anders als am Beginn der frühen Neuzeit, keine Situation, in der irgendwelche zentralen Glaubenslehren bestritten würden oder die Kirche um ihre Glaubenseinheit kämpfen müsste. Wir haben stattdessen, teils länger zurückliegend, teils noch erschreckend nah am Heute, extreme ethische Verfehlungen von Geistlichen gegenüber Schutzbefohlenen. Und wir haben eine Diskussion darüber, ob die heute Verantwortlichen, insbesondere natürlich die deutschen Bischöfe, konsequent genug klarmachen, dass es ihnen in erster Linie um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und nicht um die Verteidigung der Institution geht. Aber die Verurteilung dieser Taten und der ethische Standpunkt der Kirche gegenüber sexuellem Missbrauch ist völlig eindeutig. Man braucht keine Inquisition, um das zu untersuchen.
Scholl: Ich meine, bei allem furchtbarem Ruf, den die Inquisition historisch erlangt hat, war sie ja zunächst ein durchaus fortschrittliches juristisches Verfahren?
Holzem: Ja, die jüngere Inquisitionsforschung hat den furchtbaren Ruf der Inquisition in einem hohen Maß als schwarze Legende entlarven können, die in den Konfessionskämpfen der Frühen Neuzeit als Teil der ideologischen Auseinandersetzung in die Welt gesetzt wurde. Damit das jetzt nicht so apologetisch klingt, muss der katholische Kirchenhistoriker wahrscheinlich darauf hinweisen, dass ein Großteil dieser jüngeren Inquisitionsforschung von Kriminalitätshistorikern gemacht worden ist und nicht dazu da ist, den eigenen Laden zu verteidigen.
Scholl: Ich meine, es gibt, anders als in der evangelischen Kirche, eine eigene Justiz in der katholischen Kirche, das sogenannte kanonische Recht. Wozu ist es da?
Holzem: Vielleicht muss man noch mal kurz zur Inquisition und zu den Ergebnissen der Inquisitionsforschung zurückkommen, weil die kirchlichen Inquisitionen jedenfalls Teil des kanonischen Rechts gewesen sind. Die Inquisition selbst ist zunächst einmal ein Verfahren und damit rechtsgeschichtlich ein Fortschritt. Wenn wir sonntags abends "Tatort" gucken, was da geschieht, ist im Grunde Inquisitionsverfahren. Gegenüber den viel unsichereren und vor allen Dingen für schwächere Kläger, denen Unrecht geschah, schwierigen älteren Gerichtsverfahren, ist das Inquisitionsverfahren rechtsgeschichtlich ein enormer Fortschritt. Erst in einem zweiten Schritt wurde dieses Inquisitionsverfahren dann innerkirchlich angewandt einerseits, um Reformen anzutreiben, aber andererseits eben auch um sich mit Häresien auseinanderzusetzen.
Scholl: Also dieser Fortschritt der Inquisition besteht zum Beispiel darin, dass man also fragt, dass man das Befragte dokumentiert und dass man das Dokumentierte wiederum vergleicht mit Aussagen von anderen Zeugen, was eben früher gar nicht vorgesehen war. Aber kommen wir zu diesem kanonischen Recht, Herr Holzem ...
Holzem: Ja.
Scholl: Dieses kanonische Recht, sieht das überhaupt Verfahren oder Strafen gegen jene Form von sexuellem Missbrauch vor?
Holzem: Ja, sogar sehr drakonische. Es gibt eigene Passagen innerhalb des kanonischen Rechts, das heute im sogenannten Codex Iuris Canonici kodifiziert ist, die sich mit sexuellem Missbrauch an Schutzbefohlenen befassen, und an dieser Stelle ist das kirchliche Recht besonders streng, reicht also bis zu Amtsverlust, bis zu völliger Suspension und so weiter.
Scholl: Warum wurde das kanonische Recht dann aber in dieser Form so selten angewandt? Man wirft ja der Glaubenskongregation, mithin auch Kardinal Ratzinger und damit dem heutigen Papst vor, die zahlreichen Missbrauchsfälle, die schon in der Vergangenheit intern bekannt wurden, also ja mit dem Mantel des Schweigens umhüllt zu haben. Ich meine, dann hat das kanonische Recht diese Praxis doch nicht bedeckt, oder?
Holzem: Genau. Also ich glaube nicht, dass das kanonische Recht an dieser Stelle versagt hat, sondern die Kirche als Institution, sprich die konkret zuständigen Amtsträger. Das ist was, wovon ich sagen würde, das sollte natürlich auch die kirchliche Zeitgeschichte interessieren, also in welchem Klima der 50er-, 60er- und auch noch 70er-, teilweise sogar frühen 80er-Jahre entsteht eine Situation, in der man glaubt, solche Missbrauchsfälle in einem Schweigekartell verschwinden lassen zu können.
Scholl: Die katholische Kirche und der Vorschlag einer neuen Inquisition, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Kirchenhistoriker Andreas Holzem. Herr Holzem, welche internen Möglichkeiten hat denn nun die katholische Kirche hier, gewissermaßen aufzuräumen und das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen?
Holzem: Ich glaube, dass eines der zentralen Probleme damit zu tun hat, dass man im Grunde versucht hat, innerhalb der Kirche mehr oder minder unter Ausschluss der Öffentlichkeit, der kirchlichen wie der gesamten Öffentlichkeit, die Konsequenzen intern in den Griff zu bekommen. Ich glaube, dass man gerade in den 60er-Jahren viel zu optimistisch gewesen ist, was die Therapierbarkeit von Pädophilie angeht. Eine gewisse auch psychologische Machbarkeitsgläubigkeit scheint mir innerhalb des zeitgeschichtlichen Spektrums der frühen 60er-Jahre da eine große Rolle gespielt zu haben. Die Kirchenleitungen sind da, so scheint es, viel weniger konsequent vorgegangen, als das kanonische Recht es ermöglicht hätte. Und vor allen Dingen haben sie nicht mit den staatlichen Ermittlungs- und Justizbehörden zusammengearbeitet. Da gab es, sagt wiederum der Kirchenhistoriker, einen wohl aus dem 19. Jahrhundert überkommenen falschen Anspruch auf Eigenständigkeit.
Scholl: Ich meine, die Kirche beruft sich ja auf den Passus im Kirchenrecht, wonach sie nicht zur Anzeige verpflichtet ist. Ich meine, gerade diese Praxis des Nicht-anzeigen-Müssens hat ja die größte Kritik und den größten Unmut erzeugt. Muss sich die Kirche hier nicht klar und eindeutig zum weltlichen Recht bekennen?
Holzem: Ich würde sagen, das muss sie aus zwei Gründen. Einerseits, weil sie in den Strukturen der Bundesrepublik einen gewissermaßen privilegierten Status hat, wie andere Religionsgemeinschaften auch, das nötigt im Grunde dazu, diese staatlichen Strukturen, weil es rechtsstaatliche, demokratische, öffentliche Strukturen sind, zu akzeptieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das hat aber viel auch mit dem veränderten Selbstverständnis der Kirche zu tun. Vor dem Zweiten Vatikanum hat der Katholizismus vielfach geglaubt, sich in eine Art Frontstellung gegen die moderne Welt und die moderne Gesellschaft stellen zu müssen; diesen Standpunkt hat man in den 60er-Jahren explizit aufgegeben und das im Zweiten Vatikanischen Konzil auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
Scholl: Wäre denn ein neues Konzil, das sich diesen Fragen offensiv widmet, vielleicht eine Lösung?
Holzem: Da Sie mich als Kirchenhistoriker fragen, springe ich sozusagen in mein Professionelles und frage, was hat die Kirche bislang gemacht in Situationen, in denen schwere Missstände zu Vertrauensverlusten führten? Ich würde sagen, das Erste wäre ein sehr konsequentes Visitationsverfahren, in dem Amtsträger und Einrichtungen sehr intensiv überprüft worden sind von neutralen Kommissionen. Mit solchen Ergebnissen muss man offen und dann vor allen Dingen sehr konsequent umgehen, Bildung, Schulung, Training sind dann wichtige Konsequenzen in der Kirchengeschichte immer schon gewesen und müssten es im Grunde dann für Amtsträger neu auch wieder werden. Und dazu würde für mich natürlich auch gehören, sich ganz entschieden von denen zu trennen, die die eigentlich klaren ethischen Standards nicht einhalten.
Scholl: Und sozusagen ein Konzil wäre dann der nächste Schritt?
Holzem: Der nächste Schritt, würde ich sagen, wäre eher die Synode. Die Synode ist sozusagen das Konzil einer Teilkirche. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sowohl die irische als auch die deutsche Kirche eine solche Synode sehr gut gebrauchen könnte, um in neuer Weise klarzuwerden, von welchen Kernen und von welcher Mitte man denn eigentlich lebt. Und dann wäre die Frage zu stellen, wie man das in neuer Weise in Bildung, in Jugenderziehung und in ähnliche Dinge übersetzen will. Nur wenn man von der Mitte her argumentiert und nicht immer apologetisch von den Rändern her und sich gegen überzogene und vermeintlich überzogene Vorwürfe zu verteidigen versucht, nur dann kann man überhaupt Vertrauen zurückgewinnen.
Scholl: Wie soll und wie kann die Kirche dieses Vertrauen zurückgewinnen? Das war Andreas Holzem, er ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Holzem!
Holzem: Bitte schön. Wiederhören!
Die heilige Inquisition war ein innerkirchliches juristisches Verfahren, das ab dem 12. Jahrhundert eingesetzt wurde, um Abweichler vom rechten Glauben, Ketzer, zu verfolgen. Bis heute wird die Inquisition verknüpft mit Willkür, sogenannter peinlicher Befragung, Folter und Scheiterhaufen. Die Nachfolgerin der Inquisition ist die seit 1965 sogenannte Glaubenskongregation des Vatikans. Diese Kongregation wurde 24 Jahre lang von Kardinal Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt, geleitet. Nun, in düsterster Zeit der Missbrauchsskandale, werden Stimmen laut, die eine neue Inquisition fordern als Reinigungsinstrument der katholischen Kirche. Am Telefon begrüße ich jetzt Andreas Holzem, er ist Professor für mittlere und neuere Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Guten Tag, Herr Holzem!
Andreas Holzem: Guten Morgen!
Scholl: Braucht die katholische Kirche wirklich eine neue Inquisition?
Holzem: Nein, das glaube ich nicht. Die Inquisition ist mit Sicherheit das falsche Instrument. Wir haben, anders als im Mittelalter, anders als am Beginn der frühen Neuzeit, keine Situation, in der irgendwelche zentralen Glaubenslehren bestritten würden oder die Kirche um ihre Glaubenseinheit kämpfen müsste. Wir haben stattdessen, teils länger zurückliegend, teils noch erschreckend nah am Heute, extreme ethische Verfehlungen von Geistlichen gegenüber Schutzbefohlenen. Und wir haben eine Diskussion darüber, ob die heute Verantwortlichen, insbesondere natürlich die deutschen Bischöfe, konsequent genug klarmachen, dass es ihnen in erster Linie um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern und nicht um die Verteidigung der Institution geht. Aber die Verurteilung dieser Taten und der ethische Standpunkt der Kirche gegenüber sexuellem Missbrauch ist völlig eindeutig. Man braucht keine Inquisition, um das zu untersuchen.
Scholl: Ich meine, bei allem furchtbarem Ruf, den die Inquisition historisch erlangt hat, war sie ja zunächst ein durchaus fortschrittliches juristisches Verfahren?
Holzem: Ja, die jüngere Inquisitionsforschung hat den furchtbaren Ruf der Inquisition in einem hohen Maß als schwarze Legende entlarven können, die in den Konfessionskämpfen der Frühen Neuzeit als Teil der ideologischen Auseinandersetzung in die Welt gesetzt wurde. Damit das jetzt nicht so apologetisch klingt, muss der katholische Kirchenhistoriker wahrscheinlich darauf hinweisen, dass ein Großteil dieser jüngeren Inquisitionsforschung von Kriminalitätshistorikern gemacht worden ist und nicht dazu da ist, den eigenen Laden zu verteidigen.
Scholl: Ich meine, es gibt, anders als in der evangelischen Kirche, eine eigene Justiz in der katholischen Kirche, das sogenannte kanonische Recht. Wozu ist es da?
Holzem: Vielleicht muss man noch mal kurz zur Inquisition und zu den Ergebnissen der Inquisitionsforschung zurückkommen, weil die kirchlichen Inquisitionen jedenfalls Teil des kanonischen Rechts gewesen sind. Die Inquisition selbst ist zunächst einmal ein Verfahren und damit rechtsgeschichtlich ein Fortschritt. Wenn wir sonntags abends "Tatort" gucken, was da geschieht, ist im Grunde Inquisitionsverfahren. Gegenüber den viel unsichereren und vor allen Dingen für schwächere Kläger, denen Unrecht geschah, schwierigen älteren Gerichtsverfahren, ist das Inquisitionsverfahren rechtsgeschichtlich ein enormer Fortschritt. Erst in einem zweiten Schritt wurde dieses Inquisitionsverfahren dann innerkirchlich angewandt einerseits, um Reformen anzutreiben, aber andererseits eben auch um sich mit Häresien auseinanderzusetzen.
Scholl: Also dieser Fortschritt der Inquisition besteht zum Beispiel darin, dass man also fragt, dass man das Befragte dokumentiert und dass man das Dokumentierte wiederum vergleicht mit Aussagen von anderen Zeugen, was eben früher gar nicht vorgesehen war. Aber kommen wir zu diesem kanonischen Recht, Herr Holzem ...
Holzem: Ja.
Scholl: Dieses kanonische Recht, sieht das überhaupt Verfahren oder Strafen gegen jene Form von sexuellem Missbrauch vor?
Holzem: Ja, sogar sehr drakonische. Es gibt eigene Passagen innerhalb des kanonischen Rechts, das heute im sogenannten Codex Iuris Canonici kodifiziert ist, die sich mit sexuellem Missbrauch an Schutzbefohlenen befassen, und an dieser Stelle ist das kirchliche Recht besonders streng, reicht also bis zu Amtsverlust, bis zu völliger Suspension und so weiter.
Scholl: Warum wurde das kanonische Recht dann aber in dieser Form so selten angewandt? Man wirft ja der Glaubenskongregation, mithin auch Kardinal Ratzinger und damit dem heutigen Papst vor, die zahlreichen Missbrauchsfälle, die schon in der Vergangenheit intern bekannt wurden, also ja mit dem Mantel des Schweigens umhüllt zu haben. Ich meine, dann hat das kanonische Recht diese Praxis doch nicht bedeckt, oder?
Holzem: Genau. Also ich glaube nicht, dass das kanonische Recht an dieser Stelle versagt hat, sondern die Kirche als Institution, sprich die konkret zuständigen Amtsträger. Das ist was, wovon ich sagen würde, das sollte natürlich auch die kirchliche Zeitgeschichte interessieren, also in welchem Klima der 50er-, 60er- und auch noch 70er-, teilweise sogar frühen 80er-Jahre entsteht eine Situation, in der man glaubt, solche Missbrauchsfälle in einem Schweigekartell verschwinden lassen zu können.
Scholl: Die katholische Kirche und der Vorschlag einer neuen Inquisition, im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Kirchenhistoriker Andreas Holzem. Herr Holzem, welche internen Möglichkeiten hat denn nun die katholische Kirche hier, gewissermaßen aufzuräumen und das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen?
Holzem: Ich glaube, dass eines der zentralen Probleme damit zu tun hat, dass man im Grunde versucht hat, innerhalb der Kirche mehr oder minder unter Ausschluss der Öffentlichkeit, der kirchlichen wie der gesamten Öffentlichkeit, die Konsequenzen intern in den Griff zu bekommen. Ich glaube, dass man gerade in den 60er-Jahren viel zu optimistisch gewesen ist, was die Therapierbarkeit von Pädophilie angeht. Eine gewisse auch psychologische Machbarkeitsgläubigkeit scheint mir innerhalb des zeitgeschichtlichen Spektrums der frühen 60er-Jahre da eine große Rolle gespielt zu haben. Die Kirchenleitungen sind da, so scheint es, viel weniger konsequent vorgegangen, als das kanonische Recht es ermöglicht hätte. Und vor allen Dingen haben sie nicht mit den staatlichen Ermittlungs- und Justizbehörden zusammengearbeitet. Da gab es, sagt wiederum der Kirchenhistoriker, einen wohl aus dem 19. Jahrhundert überkommenen falschen Anspruch auf Eigenständigkeit.
Scholl: Ich meine, die Kirche beruft sich ja auf den Passus im Kirchenrecht, wonach sie nicht zur Anzeige verpflichtet ist. Ich meine, gerade diese Praxis des Nicht-anzeigen-Müssens hat ja die größte Kritik und den größten Unmut erzeugt. Muss sich die Kirche hier nicht klar und eindeutig zum weltlichen Recht bekennen?
Holzem: Ich würde sagen, das muss sie aus zwei Gründen. Einerseits, weil sie in den Strukturen der Bundesrepublik einen gewissermaßen privilegierten Status hat, wie andere Religionsgemeinschaften auch, das nötigt im Grunde dazu, diese staatlichen Strukturen, weil es rechtsstaatliche, demokratische, öffentliche Strukturen sind, zu akzeptieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das hat aber viel auch mit dem veränderten Selbstverständnis der Kirche zu tun. Vor dem Zweiten Vatikanum hat der Katholizismus vielfach geglaubt, sich in eine Art Frontstellung gegen die moderne Welt und die moderne Gesellschaft stellen zu müssen; diesen Standpunkt hat man in den 60er-Jahren explizit aufgegeben und das im Zweiten Vatikanischen Konzil auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
Scholl: Wäre denn ein neues Konzil, das sich diesen Fragen offensiv widmet, vielleicht eine Lösung?
Holzem: Da Sie mich als Kirchenhistoriker fragen, springe ich sozusagen in mein Professionelles und frage, was hat die Kirche bislang gemacht in Situationen, in denen schwere Missstände zu Vertrauensverlusten führten? Ich würde sagen, das Erste wäre ein sehr konsequentes Visitationsverfahren, in dem Amtsträger und Einrichtungen sehr intensiv überprüft worden sind von neutralen Kommissionen. Mit solchen Ergebnissen muss man offen und dann vor allen Dingen sehr konsequent umgehen, Bildung, Schulung, Training sind dann wichtige Konsequenzen in der Kirchengeschichte immer schon gewesen und müssten es im Grunde dann für Amtsträger neu auch wieder werden. Und dazu würde für mich natürlich auch gehören, sich ganz entschieden von denen zu trennen, die die eigentlich klaren ethischen Standards nicht einhalten.
Scholl: Und sozusagen ein Konzil wäre dann der nächste Schritt?
Holzem: Der nächste Schritt, würde ich sagen, wäre eher die Synode. Die Synode ist sozusagen das Konzil einer Teilkirche. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sowohl die irische als auch die deutsche Kirche eine solche Synode sehr gut gebrauchen könnte, um in neuer Weise klarzuwerden, von welchen Kernen und von welcher Mitte man denn eigentlich lebt. Und dann wäre die Frage zu stellen, wie man das in neuer Weise in Bildung, in Jugenderziehung und in ähnliche Dinge übersetzen will. Nur wenn man von der Mitte her argumentiert und nicht immer apologetisch von den Rändern her und sich gegen überzogene und vermeintlich überzogene Vorwürfe zu verteidigen versucht, nur dann kann man überhaupt Vertrauen zurückgewinnen.
Scholl: Wie soll und wie kann die Kirche dieses Vertrauen zurückgewinnen? Das war Andreas Holzem, er ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Holzem!
Holzem: Bitte schön. Wiederhören!