Die Jagd nach den Jägern

Ein bizarres Buch. Aberwitzig gut und verstörend zugleich. Aber was ist es? Ein Kriminalroman? Das Psychogramm eines allmählich überschnappenden Einzelgängers? Eine literarische Anleitung zum Verständnis von Amokläufern?
Julius Winsome, der 51-jährige Protagonist des Deutschlanddebüts von Gerard Donovan, führt ein ideales Leben im Sinne des großen amerikanischen Denkers und Grantlers Henry David Thoreau. Wie dieser bewohnt er ein Haus mitten in den endlosen Wäldern im äußersten Norden der USA. Die Mutter hat er nie kennen gelernt, der Vater ist vor 20 Jahren gestorben, und seither lebt Winsome allein und schlägt sich mit diversen Gelegenheitsjobs durch.

Bis eines Tages Claire auftaucht, eine rätselhafte Frau aus der nahe gelegenen Stadt, die eine kurze Liebesbeziehung mit ihm eingeht, um ihn dann ebenso unverhofft wieder zu verlassen, wie sie zu ihm gekommen ist. Immerhin legt sich Winsome auf ihr Betreiben hin einen Hund zu, einen Pitbullterrier, der ihm nach Claires Meinung gegen die Einsamkeit helfen wird.

Doch einsam ist Winsome gar nicht. Das Haus, in dem er wohnt, steckt voller Bücher; tausende sind es, alle vom Vater angeschafft, ausnahmslos gelesen und sorgsam katalogisiert, darunter kostbare Erstausgaben. Sie säumen sämtliche Wände des Hauses und dienen zugleich als Isolationsmaterial gegen die bittere Kälte des nördlichen Winters. Doch in den Räumen zwischen den Büchern, aus denen Winsome seine ganze Bildung bezogen hat, geistern noch andere Geschichten um, Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, die einst der Vater erzählte, aber auch Kriegsgeschichten des Großvaters, der aus dem Ersten Weltkrieg ein Lee Enfield mitbrachte, das Präzisionsgewehr eines englischen Scharfschützen.

Als kurz vor Wintereinbruch der innig geliebte Hund ganz in der Nähe des Hauses von einem Jäger erschossen wird und Winsome vor Schmerz zu vergehen meint, gewinnen diese alten Geschichten allmählich die Oberhand. Denn, wie es im Buch heißt, Winsome holt das alte Gewehr heraus und geht auf die Jagd nach Jägern.

Ein Thema, das schon mehrfach für diverse Romane von eher fragwürdiger Qualität herhalten musste. Was Gerard Donovans Roman davon unterscheidet und so herausragend macht, ist weniger die Handlung als vielmehr die Art und Weise, wie er die Entwicklung dieses stoischen, selbstgenügsamen und eigentlich grundgütigen Mannes zum eiskalten Killer schildert, der sich wider die Gewissensbisse mit Shakespeare’schen Worterfindungen wappnet und sie den sterbenden Opfern immer hektischer ins Gesicht schleudert.

Schnörkellos ist dieses Buch geschrieben, karg wie die Winter in Maine, aber gerade dadurch gibt es dem Leser Raum, sich einzufühlen in die Abgründe, die zwischen den Sätzen lauern, sich auf die Suche nach den Ursachen zu begeben, nach Erklärungen für das scheinbar so unerklärliche Verhalten des Protagonisten. Und so lernt man den Mörder allmählich begreifen, findet ihn unwillkürlich immer sympathischer, zumal er sich die Gnade nicht gänzlich ausgetrieben hat. Dies ist das eigentliche Wunder an diesem wunderbaren Buch.

Besprochen von Georg Schmidt

Gerard Donovan: Winter in Maine
Übersetzt von Thomas Gunkel
Luchterhand Literaturverlag
208 Seiten, 17,95 Euro