"Die Jesus-Erinnerung der Evangelien"
Schon seit Jahrhunderten versuchen Wissenschaftler, mehr über Jesus herauszufinden. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. "Es sind auch gegenwärtige Interessen, die dazu führen, dass man überhaupt nach dem Jesus der Geschichte fragt", sagt der Theologe Gerd Häfner.
Anne Françoise Weber: In Leipzig findet dieser Tage wieder die Buchmesse statt und unter den Tausenden ausgestellten Büchern findet sich auch eins mit zwei in christlichen Kreisen sehr prominenten Namen darauf: Hans Küng als Verfasser und Jesus als Titel. Erschienen ist es am vergangenen Montag im Piper Verlag. Das ist jetzt nur das Neuste in einer langen Reihe von Büchern über Jesus von Nazareth, in die sich ja auch schon Papst Benedikt XVI. in den vergangenen Jahren eingereiht hat.
Ganz so neu ist das Buch von Hans Küng allerdings dann doch nicht, denn es ist im Grund eine überarbeitete Neuauflage von Teilen seines 1974 erschienenen Buches "Christ sein". Warum nun diese Neuauflage und warum schreibt man eigentlich immer noch Bücher über diesen Menschen, von dem Christen glauben, er sei Gottes Sohn? Gerd Häfner ist Professor für Biblische Einleitung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München und er ist Verfasser des Blogs "Lectio brevior", in dem er Fragen neutestamentlicher Forschung diskutiert. Ich habe vor der Sendung mit Gerd Häfner gesprochen und habe ihn zunächst gefragt, ob es denn überhaupt Sinn macht, das neue Buch von Hans Küng heute zu lesen, wo doch die Jesus-Forschung seit 1974 sicherlich einige neue Kenntnisse gewonnen hat?
Gerd Häfner: Es ist sicher richtig, dass die Forschung weitergeschritten ist. Allerdings ist es jetzt auch nicht so, dass alles, was jetzt neuer ist, auch unbedingt besser ist als das, was früher erschienen ist. Also, der Zugang von Hans Küng ist ein klassisch-historisch-kritischer Zugang, der meines Erachtens auch nach wie vor sein Recht hat. Was natürlich fehlt in diesem Buch, sind die Berücksichtigung neuerer Entwicklungen in der historischen Jesus-Forschung, da hat er nur sehr am Rande etwas aufgegriffen. Ich denke, aus der Sicht eines Dogmatikers oder aus der Sicht der dogmatischen Theologie ist einfach das Interessante an diesem Buch, dass ein Dogmatiker überhaupt in so starkem Maße historische Jesus-Forschung rezipiert. Und das ist, denke ich, ein Signal, das auch heute wichtig werden kann.
Weber: Da klingt schon an, es gibt also zwei Arten von Theologen, die sich mit Jesus-Forschung beschäftigen, nämlich die Dogmatiker und die Neutestamentler, die dann mehr am Text vielleicht arbeiten. Was sind denn da die Unterschiede, die man so grob benennen kann? Oder sind die Unterschiede dann zwischen Personen? Also, ich meine, Küng ist Dogmatiker und Ratzinger ist auch Dogmatiker und da gibt es auch eine große Spannweite!
Häfner: Ja, die haben natürlich einen sehr unterschiedlichen Zugang zum Jesus der Geschichte oder auch zu den Traditionen des Neuen Testaments. Der grundlegende Unterschied ist zunächst einmal der, dass die Neutestamentler von Texten ausgehen und versuchen, diese Texte zu verstehen. Und zwar aus den historischen Gegebenheiten heraus, aus den Bedingungen der Zeit, in der sie entstanden und überliefert wurden.
Der Dogmatiker hat als erste Aufgabe das Bedenken des Glaubensbekenntnisses, und dabei hat er auch die kirchliche Tradition, wie sie sich in den Konzilien, den dogmatischen Entscheidungen, über die Jahrhunderte hin ausformuliert hat, zu berücksichtigen. Und die Frage ist, wie sich in eine solche Sicht Ergebnisse der historischen Jesus-Forschung integrieren lassen. Hans Küng hat es versucht, meine ich, und eine durchaus im Ansatz überzeugende Antwort gefunden.
Weber: Und Sie schweigen sich vornehm aus darüber, wie das mit den Büchern von Herrn Ratzinger oder Papst Benedikt XVI. …
Häfner: … nein, da kann ich auch was dazu sagen, so ist es nicht! Aber hier sehe ich einfach, dass ein wirklich historisches Denken nicht aufgenommen ist. Das gibt er in gewissem Sinne auch am Anfang zu, wenn er sagt, in dem ersten Band des Jesus-Buches, dass der Konstruktionspunkt seines Buches der Jesus der Evangelien sei, den er einmal als historischen Jesus im eigentlichen Sinne verstehen will. Und in diesem Satz ist "historisch" in Anführungszeichen gesetzt. Und das, glaube ich, zeigt die Unklarheit dieses Begriffs des Historischen an in den beiden Bänden des Papstes.
Er arbeitet eigentlich da stellenweise durchaus historisch, aber nicht vom Ansatz seines Buches her. Denn er hat einen Jesus der Evangelien, den er allerdings auch so zusammenbindet, wie es seinen Vorlieben entspricht. Also, es ist extrem schwierig bis eigentlich unmöglich, den Jesus der Evangelien in einem solchen Buch zu präsentieren. Es ist immer eine Auswahl, die der Autor trifft, und auch der Papst hat hier eine Auswahl getroffen. Bestimmte Aspekte des Jesus der Evangelien kommen nicht vor. Der Jesus, der Wunder wirkt, der Jesus, der Gemeinschaft mit Sündern hält, der in Streitgespräche verwickelt ist. Das kommt alles nicht oder nur am Rande vor.
Weber: Das muss man jetzt nicht nur dem Papst zum Vorwurf machen, denn es ist ja wirklich so, dass die Quellenlage einfach sehr unterschiedlich ist und wir jetzt vier Evangelien haben, die alle sozusagen eine ähnliche Autorität haben – immerhin wurden sie in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen –, sie sind aber aus unterschiedlicher Zeit und keines vermutlich von einem Augenzeugen geschrieben. Das wird immer ein Gerangel sein, welchem man da den Vorrang gibt und welches Gut, Sondergut des einzelnen Evangeliums man jetzt höher bewertet oder nicht, oder?
Häfner: Ja, aber es gibt schon Tendenzen der Forschung, die sich durchgesetzt haben. Also etwa, dass, wenn wir uns um die Verkündigung Jesu bemühen, die Rekonstruktion seiner Botschaft, dass wir uns an die synoptischen Evangelien halten müssen, Markus, Matthäus und Lukas, während das Johannesevangelium ein entwickelteres Stadium der Jesus-Verkündigung insofern bietet, als hier schon das ganze christliche Bekenntnis im Mund Jesu erscheint. Also, da gibt es schon Linien, die sich klar durchgesetzt haben. Und historische Jesus-Forschung würde ja nun funktionieren, dass man die Evangelien als Quelle nimmt und fragt, wie kann ich begründet von diesen verschiedenen Jesus-Darstellungen nach dem Jesus der Geschichte zurückfragen? Aber nicht sozusagen jetzt zu versuchen, ein Einheitsbild aus diesen vier Evangelien zu schaffen.
Weber: In einem Text von Ihnen, einer Sammelbesprechung über Jesus-Bücher, habe ich den Ausdruck gefunden: die Jesus-Erinnerung der Evangelien. Ist da vielleicht so ein Knackpunkt drin, dass das eben eine Erinnerung ist und eine Erinnerung ja immer durch die Zeitumstände und alles Mögliche bestimmt ist und eben nicht nur ein Faktenbericht dessen, was da wirklich vorgefallen ist?
Häfner: Ja, das ist jetzt natürlich ein Begriff, der auch in der neueren Diskussion eine Rolle spielt, also, inwiefern wir auch bei der historischen Rückfrage die Texte als Erinnerung wahrnehmen müssen und im Prinzip nur solche Erinnerungen haben und nicht hinter die Texte zurückgehen können. Allerdings kommen auch diese Autoren nicht umhin zu unterscheiden zwischen verschiedenen Arten und Weisen der Bezugnahme auf die Geschichte. Also, ich kann natürlich etwa die Bergpredigt oder die Stoffe der Bergpredigt nicht unbedingt im selben Maße in die Geschichte Jesu zurückführen wie jetzt die Geschichte vom Gang über das Wasser.
Weber: Warum nicht?
Häfner: Das geben die auch zu. Also, die klassische Exegese oder historische Jesus-Forschung würde sagen: Es drückt sich in diesen Geschichten wie die vom Seewandel Jesu das Bekenntnis der christlichen Gemeinde aus. Es lässt sich viel leichter ein solcher Text erklären, wenn man schon den Glauben an den Auferweckten, Erhöhten, in Göttlicher Macht Eingesetzten voraussetzt, ein Glaube, der dann erzählerisch umgesetzt wird in eine Geschichte, in der Jesus genau in dieser göttlichen Macht handelt, indem er etwas tut, was eigentlich den Menschen unmöglich ist, nämlich über das Wasser zu gehen.
Aber da hat man eben eine bestimmte Überlegensweise, bestimmte Methoden, Kriterien, nach denen man solche Texte unterschiedlich einstuft, in ihrer Bezugnahme auf historische Ereignisse. Der Begriff der Erinnerung ist da etwas vage, denn Erinnerung kann ich natürlich auch die Geschichte für sich nehmen. Ob tatsächlich die Erinnerung sich auf ein Ereignis bezieht, das wäre noch mal die eigene Frage. Und ich sehe bis jetzt noch kein methodisches Instrumentarium, um genau diese Unterscheidung zu begründen: Wann gehe ich davon aus, dass eine Erinnerung auf ein Geschehen sich bezieht, und wann kann ich darauf oder muss ich darauf verzichten?
Weber: Diese Leben-Jesu-Forschung ist ja eigentlich was ziemlich Altes. Also, spätestens im 19. Jahrhundert ging das so richtig los und man spricht mittlerweile von einem Third Quest, also einer dritten Suche nach Jesus. Warum denn jetzt eigentlich die dritte Suche?
Häfner: Ja, die erste, das war die des 19. Jahrhunderts, die sogenannte liberale Leben-Jesu-Forschung, die beendet wurde durch das Buch von Albert Schweitzer, "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". Danach war erst einmal … ja, zwar nicht unbedingt Ruhe, aber dann wurde diese Frage zurückgedrängt, ehe sie dann wieder neu aufbrach in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Und manche meinen nun, wir hätten einen Einschnitt in dieser Jesus-Forschung etwa ab Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
Man kann allerdings darüber streiten, ob es diese dritte Runde wirklich als eigene Forschungsphase gibt. Man könnte auch sagen, es haben sich bestimmte Methoden verfeinert, man hat sicher neue Erkenntnisse gewonnen, aber dass man methodisch oder im Rückgriff auf die Quellen eine wirklich neue Situation erreicht hätte, die sich unterscheidet von der vorherigen Forschung, das kann man durchaus unterschiedlich sehen. Also, ich bin da etwas zurückhaltend mit diesem Etikett, dritte Runde der Rückfrage. Aber es ist weit verbreitet.
Weber: Vom Ende der ersten Runde sprachen Sie gerade mit dem Buch von Albert Schweitzer, der schrieb in seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" 1913, ich zitiere das mal etwas verkürzt: "Die Leben-Jesu-Forschung zog aus, um den historischen Jesus zu finden. Sie freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück." Das ist wahrscheinlich bis heute das Grundproblem, oder, dieser Spagat: Man hat wenige historische Fakten, die man da irgendwie ausgraben kann, und dann diese Frage, was bedeutet das eigentlich für heute, was hat das mit unserer Zeit zu tun? Und da kommt dann die Dogmatik ins Spiel, oder?
Häfner: Ja, wobei die Kritik, die Albert Schweitzer formuliert hat, ist, dass diese aktualisierende Tendenz, die sich in den Jesus-Büchern gezeigt hat, eben den Jesus der Geschichte verfälscht hat. Dass jeder im Prinzip seinen Jesus gebildet hat nach den eigenen Idealen. Das wäre das Aktualisierende, das man allerdings aus der historischen Rückfrage heraushalten müsse. Ob das wirklich immer möglich ist oder bis zu welchem Grad das möglich ist, darüber kann man debattieren. Natürlich wird auch die Frage nach Jesus durchaus von der Gegenwart angestoßen, es sind auch gegenwärtige Interessen, die dazu führen, dass man überhaupt nach dem Jesus der Geschichte fragt. Aber grundsätzlich würde man sicher eine historische Rückfrage zunächst einmal versuchen, möglichst freizuhalten von aktualisierenden Fragen, sondern das wäre sozusagen dann ein zweiter Schritt, indem man fragt, was kann dieser Jesus für uns bedeuten.
Weber: Und reizt es Sie persönlich, auch mal ein Buch über Jesus zu schreiben? Oder reicht Ihnen Ihr Blog?
Häfner: Ach, ein Buchprojekt habe ich, ehrlich gesagt, nicht im Blick im Moment. Es sind auch genug geschrieben und mir ist jetzt zurzeit wichtiger, dass ich diese Fragen und Methoden vermittle im universitären Alltag den Studenten gegenüber, weil das zurzeit, glaube ich, auch ein gewisses … gut, war vielleicht schon immer ein gewisses Grundproblem, dass die Studierenden lernen zu unterscheiden zwischen verschiedenen Ebenen, dass ich Texte unterschiedlich lesen kann: Ich kann sie als historische Quellen lesen, dann muss ich bestimmte Dinge ausblenden; ich kann sie als literarische Erzeugnisse lesen, die Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses sind, und dann komme ich zu unterschiedlichen Leseweisen und Ergebnissen. Das versuche ich zu vermitteln und ich habe jetzt keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse, die es rechtfertigen würden, dass ich jetzt auch noch ein Buch schreibe darüber!
Weber: Vielen Dank, Gerd Häfner, Professor für Biblische Einleitung in München und Verfasser des Blogs "Lectio brevior". Den Link zu diesem Blog finden Sie wie immer auf unserer Homepage www.dradio.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Blog von Gerd Häfner - Lectio Brevior
Ganz so neu ist das Buch von Hans Küng allerdings dann doch nicht, denn es ist im Grund eine überarbeitete Neuauflage von Teilen seines 1974 erschienenen Buches "Christ sein". Warum nun diese Neuauflage und warum schreibt man eigentlich immer noch Bücher über diesen Menschen, von dem Christen glauben, er sei Gottes Sohn? Gerd Häfner ist Professor für Biblische Einleitung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München und er ist Verfasser des Blogs "Lectio brevior", in dem er Fragen neutestamentlicher Forschung diskutiert. Ich habe vor der Sendung mit Gerd Häfner gesprochen und habe ihn zunächst gefragt, ob es denn überhaupt Sinn macht, das neue Buch von Hans Küng heute zu lesen, wo doch die Jesus-Forschung seit 1974 sicherlich einige neue Kenntnisse gewonnen hat?
Gerd Häfner: Es ist sicher richtig, dass die Forschung weitergeschritten ist. Allerdings ist es jetzt auch nicht so, dass alles, was jetzt neuer ist, auch unbedingt besser ist als das, was früher erschienen ist. Also, der Zugang von Hans Küng ist ein klassisch-historisch-kritischer Zugang, der meines Erachtens auch nach wie vor sein Recht hat. Was natürlich fehlt in diesem Buch, sind die Berücksichtigung neuerer Entwicklungen in der historischen Jesus-Forschung, da hat er nur sehr am Rande etwas aufgegriffen. Ich denke, aus der Sicht eines Dogmatikers oder aus der Sicht der dogmatischen Theologie ist einfach das Interessante an diesem Buch, dass ein Dogmatiker überhaupt in so starkem Maße historische Jesus-Forschung rezipiert. Und das ist, denke ich, ein Signal, das auch heute wichtig werden kann.
Weber: Da klingt schon an, es gibt also zwei Arten von Theologen, die sich mit Jesus-Forschung beschäftigen, nämlich die Dogmatiker und die Neutestamentler, die dann mehr am Text vielleicht arbeiten. Was sind denn da die Unterschiede, die man so grob benennen kann? Oder sind die Unterschiede dann zwischen Personen? Also, ich meine, Küng ist Dogmatiker und Ratzinger ist auch Dogmatiker und da gibt es auch eine große Spannweite!
Häfner: Ja, die haben natürlich einen sehr unterschiedlichen Zugang zum Jesus der Geschichte oder auch zu den Traditionen des Neuen Testaments. Der grundlegende Unterschied ist zunächst einmal der, dass die Neutestamentler von Texten ausgehen und versuchen, diese Texte zu verstehen. Und zwar aus den historischen Gegebenheiten heraus, aus den Bedingungen der Zeit, in der sie entstanden und überliefert wurden.
Der Dogmatiker hat als erste Aufgabe das Bedenken des Glaubensbekenntnisses, und dabei hat er auch die kirchliche Tradition, wie sie sich in den Konzilien, den dogmatischen Entscheidungen, über die Jahrhunderte hin ausformuliert hat, zu berücksichtigen. Und die Frage ist, wie sich in eine solche Sicht Ergebnisse der historischen Jesus-Forschung integrieren lassen. Hans Küng hat es versucht, meine ich, und eine durchaus im Ansatz überzeugende Antwort gefunden.
Weber: Und Sie schweigen sich vornehm aus darüber, wie das mit den Büchern von Herrn Ratzinger oder Papst Benedikt XVI. …
Häfner: … nein, da kann ich auch was dazu sagen, so ist es nicht! Aber hier sehe ich einfach, dass ein wirklich historisches Denken nicht aufgenommen ist. Das gibt er in gewissem Sinne auch am Anfang zu, wenn er sagt, in dem ersten Band des Jesus-Buches, dass der Konstruktionspunkt seines Buches der Jesus der Evangelien sei, den er einmal als historischen Jesus im eigentlichen Sinne verstehen will. Und in diesem Satz ist "historisch" in Anführungszeichen gesetzt. Und das, glaube ich, zeigt die Unklarheit dieses Begriffs des Historischen an in den beiden Bänden des Papstes.
Er arbeitet eigentlich da stellenweise durchaus historisch, aber nicht vom Ansatz seines Buches her. Denn er hat einen Jesus der Evangelien, den er allerdings auch so zusammenbindet, wie es seinen Vorlieben entspricht. Also, es ist extrem schwierig bis eigentlich unmöglich, den Jesus der Evangelien in einem solchen Buch zu präsentieren. Es ist immer eine Auswahl, die der Autor trifft, und auch der Papst hat hier eine Auswahl getroffen. Bestimmte Aspekte des Jesus der Evangelien kommen nicht vor. Der Jesus, der Wunder wirkt, der Jesus, der Gemeinschaft mit Sündern hält, der in Streitgespräche verwickelt ist. Das kommt alles nicht oder nur am Rande vor.
Weber: Das muss man jetzt nicht nur dem Papst zum Vorwurf machen, denn es ist ja wirklich so, dass die Quellenlage einfach sehr unterschiedlich ist und wir jetzt vier Evangelien haben, die alle sozusagen eine ähnliche Autorität haben – immerhin wurden sie in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen –, sie sind aber aus unterschiedlicher Zeit und keines vermutlich von einem Augenzeugen geschrieben. Das wird immer ein Gerangel sein, welchem man da den Vorrang gibt und welches Gut, Sondergut des einzelnen Evangeliums man jetzt höher bewertet oder nicht, oder?
Häfner: Ja, aber es gibt schon Tendenzen der Forschung, die sich durchgesetzt haben. Also etwa, dass, wenn wir uns um die Verkündigung Jesu bemühen, die Rekonstruktion seiner Botschaft, dass wir uns an die synoptischen Evangelien halten müssen, Markus, Matthäus und Lukas, während das Johannesevangelium ein entwickelteres Stadium der Jesus-Verkündigung insofern bietet, als hier schon das ganze christliche Bekenntnis im Mund Jesu erscheint. Also, da gibt es schon Linien, die sich klar durchgesetzt haben. Und historische Jesus-Forschung würde ja nun funktionieren, dass man die Evangelien als Quelle nimmt und fragt, wie kann ich begründet von diesen verschiedenen Jesus-Darstellungen nach dem Jesus der Geschichte zurückfragen? Aber nicht sozusagen jetzt zu versuchen, ein Einheitsbild aus diesen vier Evangelien zu schaffen.
Weber: In einem Text von Ihnen, einer Sammelbesprechung über Jesus-Bücher, habe ich den Ausdruck gefunden: die Jesus-Erinnerung der Evangelien. Ist da vielleicht so ein Knackpunkt drin, dass das eben eine Erinnerung ist und eine Erinnerung ja immer durch die Zeitumstände und alles Mögliche bestimmt ist und eben nicht nur ein Faktenbericht dessen, was da wirklich vorgefallen ist?
Häfner: Ja, das ist jetzt natürlich ein Begriff, der auch in der neueren Diskussion eine Rolle spielt, also, inwiefern wir auch bei der historischen Rückfrage die Texte als Erinnerung wahrnehmen müssen und im Prinzip nur solche Erinnerungen haben und nicht hinter die Texte zurückgehen können. Allerdings kommen auch diese Autoren nicht umhin zu unterscheiden zwischen verschiedenen Arten und Weisen der Bezugnahme auf die Geschichte. Also, ich kann natürlich etwa die Bergpredigt oder die Stoffe der Bergpredigt nicht unbedingt im selben Maße in die Geschichte Jesu zurückführen wie jetzt die Geschichte vom Gang über das Wasser.
Weber: Warum nicht?
Häfner: Das geben die auch zu. Also, die klassische Exegese oder historische Jesus-Forschung würde sagen: Es drückt sich in diesen Geschichten wie die vom Seewandel Jesu das Bekenntnis der christlichen Gemeinde aus. Es lässt sich viel leichter ein solcher Text erklären, wenn man schon den Glauben an den Auferweckten, Erhöhten, in Göttlicher Macht Eingesetzten voraussetzt, ein Glaube, der dann erzählerisch umgesetzt wird in eine Geschichte, in der Jesus genau in dieser göttlichen Macht handelt, indem er etwas tut, was eigentlich den Menschen unmöglich ist, nämlich über das Wasser zu gehen.
Aber da hat man eben eine bestimmte Überlegensweise, bestimmte Methoden, Kriterien, nach denen man solche Texte unterschiedlich einstuft, in ihrer Bezugnahme auf historische Ereignisse. Der Begriff der Erinnerung ist da etwas vage, denn Erinnerung kann ich natürlich auch die Geschichte für sich nehmen. Ob tatsächlich die Erinnerung sich auf ein Ereignis bezieht, das wäre noch mal die eigene Frage. Und ich sehe bis jetzt noch kein methodisches Instrumentarium, um genau diese Unterscheidung zu begründen: Wann gehe ich davon aus, dass eine Erinnerung auf ein Geschehen sich bezieht, und wann kann ich darauf oder muss ich darauf verzichten?
Weber: Diese Leben-Jesu-Forschung ist ja eigentlich was ziemlich Altes. Also, spätestens im 19. Jahrhundert ging das so richtig los und man spricht mittlerweile von einem Third Quest, also einer dritten Suche nach Jesus. Warum denn jetzt eigentlich die dritte Suche?
Häfner: Ja, die erste, das war die des 19. Jahrhunderts, die sogenannte liberale Leben-Jesu-Forschung, die beendet wurde durch das Buch von Albert Schweitzer, "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung". Danach war erst einmal … ja, zwar nicht unbedingt Ruhe, aber dann wurde diese Frage zurückgedrängt, ehe sie dann wieder neu aufbrach in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Und manche meinen nun, wir hätten einen Einschnitt in dieser Jesus-Forschung etwa ab Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
Man kann allerdings darüber streiten, ob es diese dritte Runde wirklich als eigene Forschungsphase gibt. Man könnte auch sagen, es haben sich bestimmte Methoden verfeinert, man hat sicher neue Erkenntnisse gewonnen, aber dass man methodisch oder im Rückgriff auf die Quellen eine wirklich neue Situation erreicht hätte, die sich unterscheidet von der vorherigen Forschung, das kann man durchaus unterschiedlich sehen. Also, ich bin da etwas zurückhaltend mit diesem Etikett, dritte Runde der Rückfrage. Aber es ist weit verbreitet.
Weber: Vom Ende der ersten Runde sprachen Sie gerade mit dem Buch von Albert Schweitzer, der schrieb in seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" 1913, ich zitiere das mal etwas verkürzt: "Die Leben-Jesu-Forschung zog aus, um den historischen Jesus zu finden. Sie freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück." Das ist wahrscheinlich bis heute das Grundproblem, oder, dieser Spagat: Man hat wenige historische Fakten, die man da irgendwie ausgraben kann, und dann diese Frage, was bedeutet das eigentlich für heute, was hat das mit unserer Zeit zu tun? Und da kommt dann die Dogmatik ins Spiel, oder?
Häfner: Ja, wobei die Kritik, die Albert Schweitzer formuliert hat, ist, dass diese aktualisierende Tendenz, die sich in den Jesus-Büchern gezeigt hat, eben den Jesus der Geschichte verfälscht hat. Dass jeder im Prinzip seinen Jesus gebildet hat nach den eigenen Idealen. Das wäre das Aktualisierende, das man allerdings aus der historischen Rückfrage heraushalten müsse. Ob das wirklich immer möglich ist oder bis zu welchem Grad das möglich ist, darüber kann man debattieren. Natürlich wird auch die Frage nach Jesus durchaus von der Gegenwart angestoßen, es sind auch gegenwärtige Interessen, die dazu führen, dass man überhaupt nach dem Jesus der Geschichte fragt. Aber grundsätzlich würde man sicher eine historische Rückfrage zunächst einmal versuchen, möglichst freizuhalten von aktualisierenden Fragen, sondern das wäre sozusagen dann ein zweiter Schritt, indem man fragt, was kann dieser Jesus für uns bedeuten.
Weber: Und reizt es Sie persönlich, auch mal ein Buch über Jesus zu schreiben? Oder reicht Ihnen Ihr Blog?
Häfner: Ach, ein Buchprojekt habe ich, ehrlich gesagt, nicht im Blick im Moment. Es sind auch genug geschrieben und mir ist jetzt zurzeit wichtiger, dass ich diese Fragen und Methoden vermittle im universitären Alltag den Studenten gegenüber, weil das zurzeit, glaube ich, auch ein gewisses … gut, war vielleicht schon immer ein gewisses Grundproblem, dass die Studierenden lernen zu unterscheiden zwischen verschiedenen Ebenen, dass ich Texte unterschiedlich lesen kann: Ich kann sie als historische Quellen lesen, dann muss ich bestimmte Dinge ausblenden; ich kann sie als literarische Erzeugnisse lesen, die Ausdruck eines Glaubensbekenntnisses sind, und dann komme ich zu unterschiedlichen Leseweisen und Ergebnissen. Das versuche ich zu vermitteln und ich habe jetzt keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse, die es rechtfertigen würden, dass ich jetzt auch noch ein Buch schreibe darüber!
Weber: Vielen Dank, Gerd Häfner, Professor für Biblische Einleitung in München und Verfasser des Blogs "Lectio brevior". Den Link zu diesem Blog finden Sie wie immer auf unserer Homepage www.dradio.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Blog von Gerd Häfner - Lectio Brevior