"Wer Versöhnung will, muss sie praktizieren"
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In Bremen erforschen Fans des SV Werder Bremen die jüdischen Geschichte ihre Vereins. Vor allem Alfred Ries weckte ihr Interesse. Er war mehrmals Präsident, wurde von den Nazis verfolgt – und führte den Club zum ersten Meistertitel.
Eine ruhige, fast ländliche Straße in Bremen-Hastedt. In den Gärten tschilpen die Spatzen und Hähne krähen. Vera und Dirk Harms haben den letzten Parkplatz erwischt. Zwischen zwei Grundstücken ein großes, schmiedeeisernes Tor: Der Eingang zum alten jüdischen Friedhof der Hansestadt Bremen.
"Sie sehen, es ist ganz schön weit von uns", sagt Vera Harms. "Deshalb bin ich auch nicht so oft hier. Aber ich bin ganz gern hier, es ist so klein". Und Dirk Harms: "Wollen wir erst zu deinen Eltern gehen?"
Vera Harms hat eine Blumenschale mitgebracht. "Das ist unser Grab hier. Ich mach da nichts, ich stelle nur diese Schale hin."
Am Grab von Alfred Ries vorbeigelaufen
Ein Grabstein mit der Aufschrift: Margarete und Heinrich Rimpel. Vera Harms: "Ich bin geboren Rimplowa."
Rimplowa ist die tschechische Endung für Rimpel. Vera Harms holt ein paar Steinchen aus ihrer Tasche und legt sie auf den Grabstein ihrer Eltern. So ist es Brauch. Und noch etwas ist Brauch hier.
"Es ist eine Tradition auf jüdischen Friedhöfen, nicht denselben Weg zurückzugehen, den man hergekommen ist. Deshalb sind wir auch immer am Grab von Ries vorbeigegangen", erklärt Harms.
Das Grab von Ries. Alfred Ries. Eine große, steinerne Platte an der Friedhofsmauer. Zufällig entdeckt von Vera und Dirk Harms. "Ich stamme aus Prag und lebe seit 1969 in Deutschland. Wir sind eine jüdische Familie. Mein Eltern sind hier begraben. Meine Großmutter mütterlicherseits ist in Theresienstadt gestorben, die Großeltern väterlicherseits sind in Auschwitz vergast worden", sagt Vera Harms.
Dreimal Präsident des SV Werder Bremen
Das Schicksal ihrer Familien verbindet Vera Harms und Alfred Ries. Dessen Eltern wurden von Bremen nach Theresienstadt deportiert und kamen dort ums Leben. Doch all das erfuhr die Prager Ärztin erst später.
"Mir sagte der Name nichts. Ich bin ja keine Bremerin und auch keine Fußballbegeisterte. Aber mein Mann hat mir erzählt: Weißt du, wer hier liegt? Das ist eine bekannte Persönlichkeit, Präsident von Werder Bremen, Alfred Ries. Und wir haben immer gesagt: Es ist schade, dass sich niemand um das Grab kümmert. Und da meinte mein Mann, eigentlich müsste sich Werder Bremen, der Klub, um dieses Grab kümmern."
Das war jedoch nicht geschehen. Obwohl Alfred Ries nicht nur einmal, sondern gleich drei Mal zu verschiedenen Zeiten als Präsident die Geschicke des Sportvereins Werder lenkte.
"Und einmal habe ich Thomas Hafke, der im Fanklub Werder Bremen gearbeitet hat, getroffen bei einer Veranstaltung der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft. Ein paar Tage später haben wir uns mit ihm und einem anderen aus dem Fanklub getroffen und ihm das Grab gezeigt. So kam das", erläutert Harms.
Junge Fans wollten mehr zur Geschichte wissen
Thomas Hafke ist Sozialpädagoge und arbeitete 30 Jahre lang hauptamtlich beim Fanprojekt von Werder Bremen. Dort engagieren sich vor allem junge Leute. Die schickte er in die Spur.
"Man wusste nicht wirklich was über Ries. Außer so ein paar Kleinigkeiten. Das wollten wir ändern. Niemand wusste beispielsweise, dass er Botschafter der Bundesrepublik Deutschland war. Wir haben uns nur gewundert, was wir alles über Alfred Ries rausgefunden haben: Was, das war auch? Und das auch? Das gibt’s ja gar nicht! Keiner wusste das so richtig in Bremen! Man wusste nur: Er war Jude, er wurde verfolgt, er war Präsident. Das war das, was man grob von Ries wusste", sagt Hafke.
Viel mehr wusste damals auch Dirk Harms nicht. Der pensionierte Richter, 74 Jahre alt, Werder-Fan von Kindheit an, ließ sich jedoch von den jüngeren Fans anstecken. Eine Publikation entstand, in der zum ersten Mal überhaupt ausführlich das Leben von Alfred Ries gewürdigt wurde.
"Ich war so der Elder Statesman, da waren noch andere beteiligt. Auch ein älterer Herr in meinem Alter, der über den Rotary-Club bescheid wusste. Da war Alfred Ries auch ein wichtiges Mitglied. Er hat den Rotary-Club in Bremen, einen der ältesten in Deutschland, wiederbegründet und war da ein wichtiger Funktionär. Genau so, wie er es im Sport war. Aber im Wesentlichen waren das die jungen Leute, die sind dann ausgeschwärmt.
Wenn Auswärtsspiel in Berlin war, sind sie ins Bundesarchiv und haben gesucht und in Militärarchiven. Sie haben bei Kaffee HAG, wo Alfred Ries auch war, nachgeforscht und haben alles ausgegraben. Was dann dazu geführt hat, das ist auch die Idee dieses Fanclubs gewesen, dass man diese Broschüre gemacht hat. Ich bin als alter Pensionär unheimlich beeindruckt gewesen, mit welcher Begeisterung die jungen Leute dabei waren. Wie sie auch zugehört haben, wenn ich ihnen als Alter mal gesagt habe: Auf dem Foto ist das und das", erzählt Harms.
Eine Persönlichkeit in der alten Bundesrepublik
Wer Fotos mit Alfred Ries anschaut, hat das Who is Who der Nachkriegszeit vor sich. Namen, die Jüngere noch kennen mögen, aber nicht das Gesicht dazu. Alfred Ries mit den Bundespräsidenten Theodor Heuss und Heinrich Lübke, mit der jungen englischen Königin Elisabeth II. in Liberia, mit Bundeskanzler Willy Brandt in Kalkutta, dem jugoslawischen Präsidenten Josip Bros Tito, Fußballbundestrainer Sepp Herberger und DFB-Präsident Pico Bauwens, mit Box- und Fußballlegenden.
Alfred Ries, ein mittelgroßer Mann in guten Anzügen, Schnauzbart, die Haare sorgsam zurückgekämmt. Ein Mann vollendeter Formen. Das Foto mit Elisabeth II. zeigt ihn beim Handkuss. "Bisschen so ein Hansdampf in allen Gassen. Umso erstaunlicher, dass ihn in Bremen kaum jemand kannte!"
Wer war Alfred Ries? 1897 ist er in Bremen geboren – ein Jahr vor der Gründung des Fußballvereins Werder. Sein Vater war Kaufmann, der Sohn trat in seine Fußstapfen. Mit 15 tritt er dem Fußballverein Werder bei. Damals gab es 112 Mitglieder – heute 40 000. Er war Fußballer, Leichtathlet, Schwimmer und Tennisspieler. Wird noch als Jugendlicher Schriftführer im Verein.
Mit 23 Jahren, wiedergekehrt aus dem Ersten Weltkrieg, mit Kriegsauszeichnungen dekoriert, wird Ries zum ersten Mal Präsident seines Vereins. Arbeitet als Einkäufer bei Im-und Exportfirmen und steigt auf bei
Kaffee HAG, dem Bremer Kaffeeimperium. In den 30er-Jahren wird er Geschäftsführer der Böttcherstraße, einem Projekt des Kaffee-HAG-Besitzers Ludwig Roselius.
Kunstprojekt in der Bremer Altstadt
Böttcherstraße war eine alte, verfallene Straße. In dem Teil, wo das alte Bremen war. Völlig vernachlässigt. Roselius hat diese Straße aufgekauft und hergerichtet – was sogar noch heutzutage eine der größten Touristenattraktionen ist. Alfred Ries hat dann diese Werkstätten eingerichtet und Läden, in denen diese Böttcherstraßen-Kultur verkauft wurde. So, wie das auch heute noch ist.
Roselius und Ries brachten – visionär für die damalige Zeit und bis heute aktuell – Kunst und Kommerz zusammen. Künstler, vor allem Expressionisten, und Architekten, Kunsthandwerker, Buchhändler, Galerien, Werkstätten, Gasthäuser und Kneipen agierten gemeinsam. Alfred Ries führt 1930 gut gelaunt einen Reporter durch das offenbar etwas labyrinthische Böttcherstraßen-Universum.
Sichtlich beeindruckt folgt der Reporter Alfred Ries, dem Direktor der Bremer Werkschau GmbH, so der offizielle Namen des Unternehmens Böttcherstraße. Wenige Jahre später wird der Rundfunk gleichgeschaltet sein und Adolf Hitler auf dem NSDAP-Parteitag verächtlich von der, wie er sagt, "Böttcherstraßen-Kultur" sprechen und sie als Beispiel für "entartete Kunst" brandmarken.
Nicht nur die Böttcherstraße, auch der Sportverein Werder entwickelt sich in diesen Jahren rasant. Der Verein hat eine der besten Fußballmannschaften der Stadt und bezieht das Weserstadion. Ries, Mitglied der linksliberalen "Deutschen Demokratischen Partei", leitet seit 1925 auch die Fußballabteilung des Klubs und knüpft internationale Kontakte, zum Beispiel zur US-amerikanischen Olympiamannschaft.
Werder unterstellt sich den Nazis
Bis 1933 wird Alfred Ries mehrmals als Werder-Präsident wiedergewählt. Doch kurz vor der Machtergreifung Hitlers verlässt er seinen Verein und seine Stadt. Fabian Ettrich, Historiker und Mitglied des Werder-Fanklubs:
"Die Gründe sind nicht hundertprozentig klar. Was wir allerdings wissen, ist, dass es schon sehr früh Angriffe der Nazi-Presse gab auf die Böttcherstraße, wo Alfred Ries Geschäftsführer war. Und es ist auch so, dass Werder Bremen schon sehr früh die Ideen der Nationalsozialisten umgesetzt hat, indem beispielsweise ein sogenannter Vereinsführer installiert wurde und man wegging von demokratischen Wahlen im Verein."
Der Verein, schon früh gleichgeschaltet und nach dem sogenannten "Führerprinzip" umgebaut, schützt seinen langjährigen Präsidenten nicht. Er ist Jude, das reicht, alle Verdienste vergessen zu machen. 40 000 jüdische Fußballer werden 1933 aus deutschen Sportvereinen ausgeschlossen. Alfred Ries’ Arbeitgeber jedoch, Kaffee-HAG-Chef Ludwig Roselius, setzt sich, obgleich Mitglied der NSPAD, für seinen Mitarbeiter ein. Verschafft ihm Arbeit zunächst in München, dann im tschechischen Marienbad, schließlich in Jugoslawien.
"Dort ist die HAG-Niederlassung irgendwann pleitegegangen und Alfred Ries hat sich mit Handelsvertretungen über Wasser gehalten. Er wurde auch in den Jahren 1940 bis 1945 mehrfach inhaftiert. Die Umstände kennen wir heute nicht so genau. Er kam in jedem Fall 1946 über Umwege zurück nach Bremen und hat spätestens dann erfahren, dass seine Eltern im Konzentrationslager Theresienstadt umgekommen sind", sagt Historiker Fabian Ettrich.
Täter wollen sich als Opfer darstellen
Zwei Stolpersteine liegen heute für Rosa und Eduard Ries in der Schwachhauser Heerstraße in Bremen. Sie starben wenig Tage nacheinander im Winter 1942. Die Brüder von Alfred Ries konnten in die USA flüchten.
"Alfred Ries hat sehr lange darum gekämpft, eine Entschädigung, die er für angemessen hielt, zu erhalten", erläutert Ettrich. "Im Wiedergutmachungsverfahren tauchten dann irgendwann Vorwürfe auf, Ries habe mit den Nationalsozialisten kooperiert und sei als eine Art Spion nach Jugoslawien gegangen. Dafür gibt es keine Belege, der Vorwurf wurde auch später im Verfahren fallengelassen. Interessant ist allerdings, dass sich die Vorwürfe bis heute gehalten haben – ohne einzuordnen, wer diese Kronzeugen überhaupt sind, die hier gegen Alfred Ries zu Felde geführt werden."
Alfred Ries ein Kollaborateur? Kein Verfolgter, sondern ein Nutznießer des Nazi-Regimes? Dirk Harms, der pensionierte Richter, hat sich gemeinsam mit dem jungen Historiker und Werder-Fan Fabian Ettrich die Akten aus dem Wiedergutmachungsverfahren vorgenommen. Zunächst konnte der Jurist Harms viele Ungereimtheiten des Verfahrens nachweisen, das damit endete, dass Alfred Ries enttäuscht aufgab.
"Das Schlimmste aber von allem ist: Hauptbelastungszeugen im Verfahren waren zwei Polizisten der Gestapo, beide Judenschlächter. Der eine, Nette, war der Judenreferent. Der hat persönlich die Eltern von Alfred Ries zum Zug gebracht, wo sie nach Theresienstadt abtransportiert wurden. Der andere, Friedrich Linnemann, war an der Ermordung von Juden in Griechenland beteiligt. Diese beiden haben dann natürlich auch Ries belastet im Wiedergutmachungsverfahren. Das ist klar, wenn man Dreck am Stecken hat, dann will man die Leute desavouieren und in falsches Licht rücken, damit man selber seine Belastungszeugen wegkriegt, das ist klar", erläutert der pensionierte Richter Harms.
Die drei Verfolgungen von Alfred Ries
Im Wiedergutmachungsverfahren drehten die Beamten quasi den Spieß um: Aus dem Verfolgten Ries sollte der Mitschuldige werden. Eine entlastende Strategie für manche Beamten und Behörden im Nachkriegsdeutschland.
"Es gab einen hohen Polizeibeamten, der für die Abwehr gearbeitet hat, Walter Frischmuth, der Ries schon vorher kannte, vielleicht auch über den SV Werder. Der hat zum Beispiel Legitimationskaten besorgt, gefälschte. Für Alfred Ries, als der schon im Untergrund in Jugoslawien war. Und daraus haben diese Leute abgeleitet, dass er eventuell Spionage betrieben hat für die Nazis", sagt Harms.
Diese Vorwürfe konnten nicht bewiesen werden und wurden schon in den 50er-Jahren fallengelassen. Dass sie noch 2017 in einer Veröffentlichung in der Zeitschrift "Sportzeit", einem Magazin für Sport, Gesellschaft und Geschichte, wieder auftauchten, findet der Jurist unerträglich:
"Das hat mich emotional empört, weil ich gewusst habe, welche katastrophale Wirkung das hat. Ich habe es als die dritte Verfolgung von Alfred Ries bezeichnet. Nach der ersten, die die Nazis gemacht haben. Die zweite, wie schäbig man ihn in der Wiedergutmachungssache behandelt hat. Und das dritte: Dass man jetzt noch, in der dritten Generation, wo er schon mehr als 50 Jahre tot ist, dass man ihn da noch mit Dreck bewirft. Das ist eine Sache, die jetzt immer öfter stattfindet: Die sogenannte Schuldumkehr. Das ist eine Situation, die eigentlich unerträglich ist."
Fans erstellen eine Broschüre
Dagegen helfen nur Fakten. Nach der Broschüre über das Leben von Alfred Ries soll nun ein Buch veröffentlicht werden, wie Carina Kluge erklärt. Sie ist seit den 70er-Jahren Werder-Fan und trägt dazu bei, die jüdische Geschichte ihres Vereins zu erhellen.
"In dem Buchprojekt, das wir nächstes Jahr abschließen wollen, sind sechs Werder-Fans, Historiker, involviert, die zu verschiedenen Biografien etwas darstellen werden. Und auch zum strukturellen Vorgehen: Wie hat sich der Verein Werder in den 30er-Jahren verändert, zum Beispiel durch die Änderung der Satzung? Das alles ist gerade in der Erarbeitung. Ich werde mich in dem Buch einbringen mit einer Biografie über Alfred Ries und mit einer Forschung über die Familie Rosenthal. Die deshalb interessant ist, weil wir es dort nicht mit einer Einzelbiografie zu tun haben, sondern mit einem Vater und seinen drei Söhnen, die alle bei Werder engagiert sind als Sportler und auch im Vorstand. Wo der Vater, Albert Rosenthal, dann im KZ ums Leben gekommen ist, ebenso wie sein ältester Sohn Arthur."
Doch bei die Recherchen sind meist nicht so einfach, wie Kluge erzählt: "Na gut, ich bin ein bisschen fußballnerdig, was Geschichte angeht, insbesondere was die vom SV Werder angeht. Ich versuche jetzt noch an Informationen über Hansi Wolf zu kommen. Der war von den 50er-Jahren bis 1976 Geschäftsführer beim SV Werder. Galt in der Nazizeit als sogenannter Halbjude. Wir sind jetzt dabei, dass wir was Vernünftiges, Erhellendes rankriegen. Es ist schwierig, an solche Informationen heranzukommen. Jahrzehntelang war das kein Thema. Das ist schade."
Auseinandersetzung mit der Vereinsgeschichte
Es ist noch ein relativ neues Phänomen, dass sich die Fans – noch vor ihren Klubs – mit der jüdischen Geschichte ihres Vereins beschäftigen. Den Anfang machte vor zehn Jahren die "Schickeria München", die Ultra-Gruppierung des FC Bayern. Sie erforschten das Leben von Kurt Landauer, dem jüdischen Bayern-Präsidenten, der ein ähnliches Schicksal wie Alfred Ries hatte: Präsident bis 1933, Verfolgung und Flucht, Rückkehr nach dem Krieg und erneute Präsidentschaft.
"Das haben sie in die Wege geleitet und haben daraufhin so viele Informationen zusammen getragen, dass daraus sogar ein Film gemacht werden konnte", sagt Kluge. "So beginnt die mündige Fanszene, sich auch für solche Sachen zu interessieren. Wo noch irgendwas verdeckt geblieben ist, was man über den eigenen Herzensverein nicht gewusst hat."
Nicht nur im Verein, sondern auch in Bremen übernimmt Alfred Ries nach dem Krieg wichtige Ämter. Er, der Fachmann für Im- und Export, baut das Staatliche Außenhandelskontor der Hansestadt auf und leitet es bis 1953. Dann tritt er in den diplomatischen Dienst ein, für den ihn sein Parteifreund aus der Weimarer Republik, Bundespräsident Theodor Heuss, gewinnt. Jugoslawien, Indien und Liberia sind die Stationen seiner diplomatischen Karriere. 1963 kehrt er nach Bremen zurück und wird zum dritten Mal Präsident beim SV Werder. Im selben Jahr erlebt er den Beginn der Fußballbundesliga und 1965 den großen Triumph: Werder wird deutscher Meister.
"Ich freu mich für ihn persönlich, dass er dann noch tatsächlich die erste deutsche Meisterschaft miterleben konnte. Das stelle ich mir immer so vor, wenn so ein Mensch, fast aus den Pioniertagen des Vereins, dann sehen kann, was aus seinem Verein geworden ist – das stelle ich mir toll vor!", sagt Kluge.
Alfred Ries als Vorbild für junge Menschen
Wer Versöhnung will, muss sie praktizieren hat Alfred Ries einmal gesagt, als er gefragt wurde, warum ausgerechnet er, ein Verfolgter, für den deutschen Staat als Diplomat arbeiten will. Sein Vaterland, seine Vaterstadt, seinen Verein – dies alles schloss dieser Mann in seine große Geste der Versöhnung mit ein – und erlangt damit heute großen Respekt. Auch bei dem 20-jährigen Nick Heilenkötter vom Fanclub, Mathematikstudent aus Bremen:
"Das ist super beeindruckend, wie man als Opfer des Nationalsozialismus und Opfer von Deutschland nachher diese Größe besitzen kann zu sagen: Ich komme wieder zurück. Ich helfe beim Wiederaufbau in Bremen. Da haben natürlich viele Freunde und Bekannte gesagt: Warum machst du das? Diese Leute haben deinen Eltern umgebracht! Er hätte allen Grund gehabt, das nicht zu machen. Dass er trotzdem sagt, er will diese Versöhnung leben, das finde ich beeindruckend."
Ein Stück Versöhnung hat auch das Fanprojekt Bremen unter Thomas Hafke schon praktiziert: Den Fanaustausch Bremen-Israel, eine Reise zu Kultur- und Bildungsstätten, in Stadien und Fußballklubs in Israel. Daraus haben sich private Kontakte und Freundschaften entwickelt, man besucht sich weiterhin gegenseitig. Die Werder-Fans dokumentierten ihre Erlebnisse einer Broschüre. Auch Steffen Schumann war mit in Israel. Von Alfred Ries hatte er, obwohl er Geschichte studiert, bis dahin noch nichts gehört. Das änderte sich durch das Fan-Projekt.
"Alfred Ries ist eine große Persönlichkeit, weil er verzeihen konnte", sagt Schumann. "Das ist glaube ich etwas, was man Menschen mitgeben kann: Er konnte verzeihen, obwohl er etwas erlebt hat, was man eigentlich nicht verzeihen kann. Das finde ich charakterlich sehr stark. Ich weiß nicht, ob ich so was könnte. Er hat es auf jeden Fall gezeigt. Und das ist ein Symbol, das man allen Menschen, auch über den Fußball hinaus, bringen kann."
Späte Ehrung für ehemaligen Präsidenten
Dass große und finanzkräftige Vereine wie München oder Bremen nicht längst und aus eigenem Antrieb ihre Vereinsgeschichte aufgearbeitet haben, sieht der 22-Jährige kritisch.
"Es musste erst der Druck von unten kommen, von der Fanbasis, damit das gemacht wird. Das ist schade, denn fast jeder Verein hat in dieser Zeit eine braune, und somit schwarze, dunkle Geschichte. Es ist also nicht nur ein Verein, der böse dasteht, sondern alle stehen da und alle haben eine kollektive Verantwortung. Das ist nicht nur moralisch und politisch notwendig, sondern es bringt auch was. Und es ist gerade ein pädagogischer Effekt für die neuen, jungen Leute, die zum Fußball kommen. Die sehen: Da waren welche dabei, die haben diesen Verein großgemacht. Die wurden dann trotzdem verfolgt – das darf nie wieder passieren."
Das Grab von Alfred Ries wieder in Ordnung zu bringen – der Anstoß kam von den Fans. Bei der Feierstunde am Grab sprach der Bremer Bürgermeister, jedoch kein Vertreter des SV Werder. Das änderte sich, als – ebenfalls auf Betreiben des Fanklubs – der bisher namenlose Platz vor der Westkurve des Weserstadions als "Alfred-Ries-Platz" eingeweiht wurde. Jene drei, die alles angeschoben haben – Thomas Hafke, Vera und Dirk Harms – stehen unter dem neuen Straßenschild und erinnern sich an die Feier im August 2018.
Dirk Harms: "Da waren viele Leute unterwegs, die sonst nichts mit der Geschichte von Werder im Sinn hatten. - Ja, war toll. - Und der Bürgermeister und der Werder-Präsident, die haben tolle Reden gehalten. Sogar aus dem Stegreif! Werder hat sich dieser Geschichte gestellt und dann auch gemerkt, wie befreiend das ist."
Thomas Hafke: "Genau, wie gut das ist. Und dass man das positiv sehen kann und nicht nur negativ."
Aktivität gegen Antisemitismus zeigt Wirkung
Am Anfang fühlten sich die Fans wenig unterstützt von ihrem Verein. Später dann schrieb Marco Bode, ehemals Fußballer und heute Aufsichtsratsvorsitzender des SV Werder, ein begeistertes Vorwort für die Broschüre über Alfred Ries. Man hatte erkannt: Die engagierten Fans wollten Licht ins das dunkelste Kapitel in der Geschichte ihres Vereins bringen – und ihn nicht schlecht machen.
"Das war gar nicht der Sinn der Sache. Wir wollten Alfred Ries hervorheben mit all dem, was er geschaffen hat, und gleichzeitig über die Folgen von Antisemitismus informieren. Und wenn Fans sich mit ihrem Verein identifizieren, dann identifizieren sie sich natürlich auch mit ihrem Präsidenten. Dann glaube ich, ist die Gefahr, dass hier Antisemitismus wächst, nicht so hoch. Und ich meine auch festgestellt zu haben, im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen der Gesellschaft, wo der Antisemitismus angewachsen ist, dass hier geradezu das Gegenteil der Fall ist. Dass hier so etwas schwer möglich ist", sagt Thomas Hafke.
Ein Stein auf das Grab von Ries gelegt
Auf dem Friedhof in Bremen Hastedt hat Vera Harms eine Flasche Metallpolitur und einen Lappen aus ihrer Tasche geholt. Sie putzt die Metallplatte mit den biografischen Daten von Alfred Ries.
"Mit Anlaufschutz für Silber und Ziermetalle! Aber nein, das geht nicht. Das ist Sidol, aber es gibt so Pasten. Ich hab da in Prag was, weil ich da den Stolperstein für die Oma saubermache."
Den Text für die Gedenktafel mit den Lebensstationen von Alfred Ries haben sich die "Rieslinge" ausgedacht - so nennt sich die Fangruppe selbst. Vera Harms ist nicht ganz zufrieden mit dem Putzergebnis.
"Habe ich das verschlimmbessert? Nein, das ist nicht verschlimmbessert! Wir sind froh, dass es diese Tafel gibt. Die ist einzigartig auf dem ganzen Friedhof."
Zum Schluss noch die Steinchen. Jeder legt eins auf das Grab von Alfred Ries.