"Die Jugend ist politisiert worden"
Schon jetzt haben die Proteste in der Türkei große Veränderungen hervorgerufen, sagt die türkischstämmige Theatermacherin Shermin Langhoff. Noch vor wenigen Wochen habe sich niemand vorstellen können, dass so viele verschiedene Gruppen gemeinsam auf die Straße gehen.
Britta Bürger: Plötzlich kocht in der Türkei etwas auf, was anscheinend schon lange brodelte, die Unzufriedenheit von ganz verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit den Alleinherrscherallüren von Ministerpräsident Erdogan. Und die hat er heute früh erneut massiv zum Einsatz gebracht, indem er die Sicherheitskräfte ausschickte, um das Protestcamp auf dem Taksim-Platz räumen zu lassen. In Istanbul erreichen wir jetzt den Korrespondenten des Berliner "Tagesspiegels", Thomas Seibert. Herr Seibert, wie ist die Lage in diesen Minuten?
Thomas Seibert: Die Lage auf dem Taksim ist gespannt. In einer Ecke des Platzes geht die Polizei gegen eine Gruppe von Steine werfenden Demonstranten vor. Die Polizei macht immer wieder Lautsprecherdurchsagen, mit denen sie die Leute im Gezi-Park selbst, also im Park neben dem Taksim-Platz, beruhigt, immer wieder sagt: Nein, wir greifen euch nicht an, es geht einzig und allein darum, den Taksim-Platz zu öffnen. Bis jetzt richtet sich der Einsatz der Polizei auch tatsächlich lediglich gegen diese Gruppe, die am Rand des Platzes immer wieder Molotow-Cocktails wirft auf die Polizeifahrzeuge. Bisher hält sich die Polizei allerdings auch in der Bekämpfung dieser Gruppe für türkische Verhältnisse jedenfalls zurück. Es gibt einen Wasserwerfereinsatz, auch Tränengas wird eingesetzt, aber nichts im Vergleich zu dem, was wir in den letzten Wochen hier von der türkischen Polizei gesehen haben.
Ganz offenbar sind die Behörden bemüht, dieses doch sehr angekratzte Image der Sicherheitskräfte etwas aufzuhellen, indem man sich hier zurückhält. Die Behörden wissen natürlich, dass alle Fernsehsender hier in der Türkei im Moment live übertragen, das ganze Land schaut zu hier heute Morgen. Es gibt auch die ersten Gerüchte hier, die in Kreisen der Demonstranten getweetet werden, dass es sich bei diesen Steinewerfern in Wirklichkeit um Zivilpolizisten handelt, dass die ganze Aktion einfach nur ein Theater sei, um die Protestbewegung anzuschwärzen. Das sind Gerüchte, da gibt es im Moment keinen Hinweis darauf, dass das stimmen könnte, aber insgesamt ist die Lage gespannt auf dem Taksim-Platz, allerdings, wie gesagt, das konzentriert sich alles auf eine Ecke.
Bürger: Mit diesem Einsatz hatte aber kaum einer gerechnet, schließlich waren ja für morgen erste Vermittlungsgespräche mit Vertretern der Demonstranten angekündigt. Wie wird jetzt dieser Einsatz heute morgen begründet?
Seibert: Der wird damit begründet, die Polizei sagt, die Zufahrtsstraßen zum Taksim, da standen bis heute Morgen noch die Straßensperren, die Barrikaden der Demonstranten, die Straßen müssten allmählich wieder geräumt werden und für den Verkehr wieder freigegeben werden. Außerdem hat die Polizei gesagt, sie wolle das Atatürk-Denkmal, das Republikdenkmal auf dem Taksim, von den ganzen Plakaten befreien, die sich dort in den letzten Tagen angesammelt haben. Das ist inzwischen geschehen, auch das Atatürk-Kulturzentrum am Rande des Taksim-Platz war über und über bedeckt mit Fahnen und Plakaten. Auch diese sind inzwischen abgehängt worden, da hängt jetzt nur noch die türkische Fahne und ein Bild von Atatürk. Das war die Begründung des Einsatzes, der tatsächlich sehr überraschend kam heute Morgen. Die Behörden bemühen sich, die Lage zu beruhigen, sagen: Nein, wir haben nicht vor, das Protestcamp zu räumen, nein, es geht nicht um die Leute im Gezi-Park. Aber das Misstrauen der Demonstranten ist natürlich groß.
Bürger: Thomas Seibert, Türkei-Korrespondent des Berliner "Tagesspiegel". Danke Ihnen für diese Informationen live aus Istanbul! Seit zehn Tagen versammelten sich auf dem Taksim-Platz und an immer mehr Orten in der gesamten Türkei religiöse und nicht religiöse Menschen, Islamisten, Kurden, Alewiten, Feministinnen mit und ohne Kopftuch, Kemalisten und Anarchisten. Was sie eint, ist der Protest gegen die Art und Weise, in der Ministerpräsident Erdogan ihre Freiheit mehr und mehr einschränkt. Die türkische Zivilgesellschaft probt den Aufstand, manche sprachen bereits von Revolution.
Im Studio begrüße ich jetzt die Theatermacherin Shermin Langhoff. Sie gehört zum künftigen Leitungsduo des Berliner Maxim Gorki Theaters und hat mit ihrem postmigrantischen Theaterkonzept zuvor sehr erfolgreich das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg geleitet. Guten Morgen, Frau Langhoff!
Shermin Langhoff: Guten Morgen, hallo!
Bürger: Auch Sie haben heute Früh getwittert und Informationen von Freunden und Bekannten, Kollegen aus der Türkei erhalten. Können Sie unserem Korrespondenten noch was hinzufügen?
Langhoff: Eigentlich nicht. Herr Seibert hat schon gesagt, es gingen die Gerüchte um, und das ist nicht sehr unwahrscheinlich, dass die Molotow-Cocktails und diese sogenannte Gruppe Provozierende durchaus nicht unbedingt Demonstranten sein müssen.
Bürger: Erstaunlich und für viele auch irritierend ist ja, dass es unter den Demonstrierenden diese Trennungslinie zwischen Nichtgläubigen und Gläubigen nicht mehr gibt. Im Gegenteil, es scheint so eine Art neuen Schulterschluss zu geben von gläubigen Muslimen und Laizisten. Wie erklären Sie sich das?
Langhoff: Ich würde Laizisten jetzt nicht als Ungläubige bezeichnen, das ist ja durchaus so, dass in der Türkei ein Austritt, sogenannter, bis vor Jahren gar nicht möglich oder sozusagen offiziell bürokratisch gar nicht möglich war, was es mittlerweile ist. Aber man pflegte in der Türkei, sage ich mal, einen Islam mit Raki-Tisch, und das war eigentlich so der türkische Islam, so, wie ich ihn kennengelernt habe in meiner Sozialisation, durchaus sozusagen einer humanistischen Idee und einem Leitbild zu folgen, aber deswegen europäisches Leben und Genießen nicht auszuschließen. Und insofern sind das nicht unbedingt Gläubige und Nichtgläubige, es sind sozusagen Praktizierende und Nichtpraktizierende, wenn man so will, die da Schulterschluss geschlossen haben.
Und natürlich ist es tatsächlich die gesamte Bevölkerung, die sich dort zu Wort meldet bis auf vielleicht die Anhänger der AKP und Tayyip Erdogans, und es ist einfach im Mai wahnsinnig viel passiert, die Woche, bevor der Gezi-Park vielleicht zum Anlass wurde für diese Bewegungen, und für diese Bewegung, davon muss man sprechen, wenn in 60 von 80 Städten Millionen Menschen auf die Straße gehen. Sie wissen, die dritte Bosporus-Brücke wurde am 29. Mai nach Sultan Selim benannt, Yavuz Sultan Selim, der verantwortlich war 1512 für das größte Massaker an den Alewiten mit mindestens 40.000 Toten damals, das ist ein Affront gewesen.
Die Tage davor ging es um das Alkoholverbot – so wird das abgekürzt, es ist natürlich kein Alkoholverbot. Aber da sprechen wir von Populationen, 25 Millionen Menschen trinken Alkohol zirka in der Türkei, 15 Millionen Menschen sind Alewiten in der Türkei. Also das heißt, es ist wirklich mit rigiden und autoritären Maßnahmen gegen ganze Bevölkerungsgruppen vorgegangen worden, und vor allem auch tatsächlich in Worten sehr beleidigend ist Erdogan mit ihnen umgegangen.
Bürger: Heißt das, dieses Gefühl, mit seiner Wut und seiner Unzufriedenheit nicht mehr alleine zu sein, bewirkt möglicherweise eine neue Toleranz gegenüber Menschen, mit denen man vorher nicht unbedingt im selben Boot sitzen wollte?
Langhoff: Ich denke, dass es viele Prozesse gegeben hat, die geeint haben, und dass die tatsächlich zusammenhängen mit dieser großen Unzufriedenheit, mit dieser großen Wut. Es fand mittlerweile nicht nur Zensur, sondern wirklich Selbstzensur statt. Die Menschen trauten sich nicht mehr, ihre Meinung offen zu sagen, gegebenenfalls in der einen oder anderen Region der Türkei nicht mehr, kurze T-Shirts zu tragen oder dergleichen. Also ein wirklicher Einfluss auf Alltag, Leben, Möglichkeiten, und dieser Stau ist tatsächlich dann irgendwie Ende Mai, und da ist der Gezi-Park lediglich Anlass, geplatzt, und das Volk ist auf den Straßen. Und in all der von Ihnen beschriebenen Diversität, das Einzige, was Sie vergessen haben, sind die Queers, die Transvestiten, die Gays und die lesbischen Menschen.
Bürger: Warum verliert Erdogan aber auch die Zustimmung aus Teilen der besonders gläubigen Bevölkerung?
Langhoff: Weil es natürlich auch da antikapitalistische Bewegungen gibt. Eigentlich müsste das fast jeder Moslem sein, würde man dem Buch nachgehen, das ist aber beim Christentum nicht viel anders. Es gibt eine antikapitalistische Bewegung unter den Moslems, und es gibt eine feministische Bewegung unter den Moslems, das sind jetzt keine großen, starken Bewegungen, aber sie sind Teil dieser gesamten Protestbewegung.
Bürger: Eine Freundin aus Istanbul schickte mir gestern eine Mail mit den Worten, sie sei in der Revolution aktiv. Haben diese Proteste Ihrer Ansicht nach tatsächlich revolutionäres Potenzial?
Langhoff: Sie haben auf jeden Fall schon große Veränderungen hervorgerufen. Keiner hat sich vorstellen können, noch bis vor wenigen Wochen – also, am Ende kommt das alles überraschend, auch wenn man sich im Nachhinein bestimmte Prozesse erklären kann –, dass erst mal so viele Millionen Menschen auf die Straße gehen in der Türkei, das ist wirklich was Besonderes, und sehr, sehr lange, seit den 80ern nicht mehr üblich gewesen, und auch damals gar nicht in dieser Stärke und in dieser Dimension, und auch eben in dieser Diversität und in dieser Verschiedenheit, weil die 80er-Jahre waren bestimmt von den Grabenkämpfen zwischen Linken, von den Grabenkämpfen zwischen der Opposition, und das ist überhaupt nicht mehr gegeben.
Natürlich darf man sich nichts vormachen, es gibt nach wie vor ideologische Unterschiede zwischen Kurden, die auf diesem Taksim-Platz stehen und seit Jahrzehnten Staatsrepressionen erdulden müssen, zuletzt Roboski, und nationalistischen Türken, Kemalisten, Neonationalisten, die auf diesem Platz stehen und für die Absetzung von Tayyip Erdogan sind, weil sie befürchten, einen religiösen Staat erdulden zu müssen. Es gibt Unterschiede zwischen diesen Menschen, aber im Moment gibt es sehr viel mehr, was sie eint, und ein gemeinsames Gesuch, das sich natürlich nicht nur auf die Erhaltung dieses Parks bezieht, sondern tatsächlich auf die Grundwerte, wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
Bürger: Was meinen Sie, wie das jetzt weitergeht? Welches Szenario sehen Sie vor Ihrem inneren Auge?
Langhoff: Das ist sehr spekulativ, ich würde immer sozusagen wirklich das, was schon geschafft ist, nämlich, dass die Autorität, die Unbesiegbarkeit, dass dieses Image von Tayyip Erdogan angekratzt worden ist, dass es klar ist, der ist auch nur ein Mensch, macht Fehler, wird von seinen Landsleuten, von seinen Mitbürgern dafür kritisiert – das ist schon wirklich ein großer Schritt. Das mag irgendwie für unsere Verhältnisse nicht so klingen, aber ich glaube, das hat erst mal eine Jugend politisiert. Meine Schwester, die sehr viel jünger ist, und als Wissenschaftlerin sich vor allem mit Chemie und Physik beschäftigt und bisher wenig, wenn auch kritisch war, aber vor allem innerfamiliär, ist auf den Straßen, malt Plakate. Und so geht es wirklich einer großen, großen Bewegung, die vor allem von Jugend bestimmt ist und von Frauen, und wie Sie wissen, haben wir in der Türkei 70 Prozent unter 30 Jahren, und diese Jugend ist politisiert worden, diese Jugend denkt nach über sich und die Zukunft, und das ist eine große Revolution.
Bürger: Neue Allianzen in einem zerrissenen Land. Die Theatermacherin Shermin Langhoff über die Protestbewegung in der Türkei, die heute morgen am Istanbuler Taksim-Platz erneut die Gewalt der Sicherheitskräfte zu spüren bekommt. Ich danke Ihnen sehr, Frau Langhoff, für das Gespräch!
Langhoff: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Hintergrund: Gemeinsam gegen Erdogans Allmacht - Die Unruhen in der Türkei
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Ganz offenbar sind die Behörden bemüht, dieses doch sehr angekratzte Image der Sicherheitskräfte etwas aufzuhellen, indem man sich hier zurückhält. Die Behörden wissen natürlich, dass alle Fernsehsender hier in der Türkei im Moment live übertragen, das ganze Land schaut zu hier heute Morgen. Es gibt auch die ersten Gerüchte hier, die in Kreisen der Demonstranten getweetet werden, dass es sich bei diesen Steinewerfern in Wirklichkeit um Zivilpolizisten handelt, dass die ganze Aktion einfach nur ein Theater sei, um die Protestbewegung anzuschwärzen. Das sind Gerüchte, da gibt es im Moment keinen Hinweis darauf, dass das stimmen könnte, aber insgesamt ist die Lage gespannt auf dem Taksim-Platz, allerdings, wie gesagt, das konzentriert sich alles auf eine Ecke.
Bürger: Mit diesem Einsatz hatte aber kaum einer gerechnet, schließlich waren ja für morgen erste Vermittlungsgespräche mit Vertretern der Demonstranten angekündigt. Wie wird jetzt dieser Einsatz heute morgen begründet?
Seibert: Der wird damit begründet, die Polizei sagt, die Zufahrtsstraßen zum Taksim, da standen bis heute Morgen noch die Straßensperren, die Barrikaden der Demonstranten, die Straßen müssten allmählich wieder geräumt werden und für den Verkehr wieder freigegeben werden. Außerdem hat die Polizei gesagt, sie wolle das Atatürk-Denkmal, das Republikdenkmal auf dem Taksim, von den ganzen Plakaten befreien, die sich dort in den letzten Tagen angesammelt haben. Das ist inzwischen geschehen, auch das Atatürk-Kulturzentrum am Rande des Taksim-Platz war über und über bedeckt mit Fahnen und Plakaten. Auch diese sind inzwischen abgehängt worden, da hängt jetzt nur noch die türkische Fahne und ein Bild von Atatürk. Das war die Begründung des Einsatzes, der tatsächlich sehr überraschend kam heute Morgen. Die Behörden bemühen sich, die Lage zu beruhigen, sagen: Nein, wir haben nicht vor, das Protestcamp zu räumen, nein, es geht nicht um die Leute im Gezi-Park. Aber das Misstrauen der Demonstranten ist natürlich groß.
Bürger: Thomas Seibert, Türkei-Korrespondent des Berliner "Tagesspiegel". Danke Ihnen für diese Informationen live aus Istanbul! Seit zehn Tagen versammelten sich auf dem Taksim-Platz und an immer mehr Orten in der gesamten Türkei religiöse und nicht religiöse Menschen, Islamisten, Kurden, Alewiten, Feministinnen mit und ohne Kopftuch, Kemalisten und Anarchisten. Was sie eint, ist der Protest gegen die Art und Weise, in der Ministerpräsident Erdogan ihre Freiheit mehr und mehr einschränkt. Die türkische Zivilgesellschaft probt den Aufstand, manche sprachen bereits von Revolution.
Im Studio begrüße ich jetzt die Theatermacherin Shermin Langhoff. Sie gehört zum künftigen Leitungsduo des Berliner Maxim Gorki Theaters und hat mit ihrem postmigrantischen Theaterkonzept zuvor sehr erfolgreich das Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg geleitet. Guten Morgen, Frau Langhoff!
Shermin Langhoff: Guten Morgen, hallo!
Bürger: Auch Sie haben heute Früh getwittert und Informationen von Freunden und Bekannten, Kollegen aus der Türkei erhalten. Können Sie unserem Korrespondenten noch was hinzufügen?
Langhoff: Eigentlich nicht. Herr Seibert hat schon gesagt, es gingen die Gerüchte um, und das ist nicht sehr unwahrscheinlich, dass die Molotow-Cocktails und diese sogenannte Gruppe Provozierende durchaus nicht unbedingt Demonstranten sein müssen.
Bürger: Erstaunlich und für viele auch irritierend ist ja, dass es unter den Demonstrierenden diese Trennungslinie zwischen Nichtgläubigen und Gläubigen nicht mehr gibt. Im Gegenteil, es scheint so eine Art neuen Schulterschluss zu geben von gläubigen Muslimen und Laizisten. Wie erklären Sie sich das?
Langhoff: Ich würde Laizisten jetzt nicht als Ungläubige bezeichnen, das ist ja durchaus so, dass in der Türkei ein Austritt, sogenannter, bis vor Jahren gar nicht möglich oder sozusagen offiziell bürokratisch gar nicht möglich war, was es mittlerweile ist. Aber man pflegte in der Türkei, sage ich mal, einen Islam mit Raki-Tisch, und das war eigentlich so der türkische Islam, so, wie ich ihn kennengelernt habe in meiner Sozialisation, durchaus sozusagen einer humanistischen Idee und einem Leitbild zu folgen, aber deswegen europäisches Leben und Genießen nicht auszuschließen. Und insofern sind das nicht unbedingt Gläubige und Nichtgläubige, es sind sozusagen Praktizierende und Nichtpraktizierende, wenn man so will, die da Schulterschluss geschlossen haben.
Und natürlich ist es tatsächlich die gesamte Bevölkerung, die sich dort zu Wort meldet bis auf vielleicht die Anhänger der AKP und Tayyip Erdogans, und es ist einfach im Mai wahnsinnig viel passiert, die Woche, bevor der Gezi-Park vielleicht zum Anlass wurde für diese Bewegungen, und für diese Bewegung, davon muss man sprechen, wenn in 60 von 80 Städten Millionen Menschen auf die Straße gehen. Sie wissen, die dritte Bosporus-Brücke wurde am 29. Mai nach Sultan Selim benannt, Yavuz Sultan Selim, der verantwortlich war 1512 für das größte Massaker an den Alewiten mit mindestens 40.000 Toten damals, das ist ein Affront gewesen.
Die Tage davor ging es um das Alkoholverbot – so wird das abgekürzt, es ist natürlich kein Alkoholverbot. Aber da sprechen wir von Populationen, 25 Millionen Menschen trinken Alkohol zirka in der Türkei, 15 Millionen Menschen sind Alewiten in der Türkei. Also das heißt, es ist wirklich mit rigiden und autoritären Maßnahmen gegen ganze Bevölkerungsgruppen vorgegangen worden, und vor allem auch tatsächlich in Worten sehr beleidigend ist Erdogan mit ihnen umgegangen.
Bürger: Heißt das, dieses Gefühl, mit seiner Wut und seiner Unzufriedenheit nicht mehr alleine zu sein, bewirkt möglicherweise eine neue Toleranz gegenüber Menschen, mit denen man vorher nicht unbedingt im selben Boot sitzen wollte?
Langhoff: Ich denke, dass es viele Prozesse gegeben hat, die geeint haben, und dass die tatsächlich zusammenhängen mit dieser großen Unzufriedenheit, mit dieser großen Wut. Es fand mittlerweile nicht nur Zensur, sondern wirklich Selbstzensur statt. Die Menschen trauten sich nicht mehr, ihre Meinung offen zu sagen, gegebenenfalls in der einen oder anderen Region der Türkei nicht mehr, kurze T-Shirts zu tragen oder dergleichen. Also ein wirklicher Einfluss auf Alltag, Leben, Möglichkeiten, und dieser Stau ist tatsächlich dann irgendwie Ende Mai, und da ist der Gezi-Park lediglich Anlass, geplatzt, und das Volk ist auf den Straßen. Und in all der von Ihnen beschriebenen Diversität, das Einzige, was Sie vergessen haben, sind die Queers, die Transvestiten, die Gays und die lesbischen Menschen.
Bürger: Warum verliert Erdogan aber auch die Zustimmung aus Teilen der besonders gläubigen Bevölkerung?
Langhoff: Weil es natürlich auch da antikapitalistische Bewegungen gibt. Eigentlich müsste das fast jeder Moslem sein, würde man dem Buch nachgehen, das ist aber beim Christentum nicht viel anders. Es gibt eine antikapitalistische Bewegung unter den Moslems, und es gibt eine feministische Bewegung unter den Moslems, das sind jetzt keine großen, starken Bewegungen, aber sie sind Teil dieser gesamten Protestbewegung.
Bürger: Eine Freundin aus Istanbul schickte mir gestern eine Mail mit den Worten, sie sei in der Revolution aktiv. Haben diese Proteste Ihrer Ansicht nach tatsächlich revolutionäres Potenzial?
Langhoff: Sie haben auf jeden Fall schon große Veränderungen hervorgerufen. Keiner hat sich vorstellen können, noch bis vor wenigen Wochen – also, am Ende kommt das alles überraschend, auch wenn man sich im Nachhinein bestimmte Prozesse erklären kann –, dass erst mal so viele Millionen Menschen auf die Straße gehen in der Türkei, das ist wirklich was Besonderes, und sehr, sehr lange, seit den 80ern nicht mehr üblich gewesen, und auch damals gar nicht in dieser Stärke und in dieser Dimension, und auch eben in dieser Diversität und in dieser Verschiedenheit, weil die 80er-Jahre waren bestimmt von den Grabenkämpfen zwischen Linken, von den Grabenkämpfen zwischen der Opposition, und das ist überhaupt nicht mehr gegeben.
Natürlich darf man sich nichts vormachen, es gibt nach wie vor ideologische Unterschiede zwischen Kurden, die auf diesem Taksim-Platz stehen und seit Jahrzehnten Staatsrepressionen erdulden müssen, zuletzt Roboski, und nationalistischen Türken, Kemalisten, Neonationalisten, die auf diesem Platz stehen und für die Absetzung von Tayyip Erdogan sind, weil sie befürchten, einen religiösen Staat erdulden zu müssen. Es gibt Unterschiede zwischen diesen Menschen, aber im Moment gibt es sehr viel mehr, was sie eint, und ein gemeinsames Gesuch, das sich natürlich nicht nur auf die Erhaltung dieses Parks bezieht, sondern tatsächlich auf die Grundwerte, wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit.
Bürger: Was meinen Sie, wie das jetzt weitergeht? Welches Szenario sehen Sie vor Ihrem inneren Auge?
Langhoff: Das ist sehr spekulativ, ich würde immer sozusagen wirklich das, was schon geschafft ist, nämlich, dass die Autorität, die Unbesiegbarkeit, dass dieses Image von Tayyip Erdogan angekratzt worden ist, dass es klar ist, der ist auch nur ein Mensch, macht Fehler, wird von seinen Landsleuten, von seinen Mitbürgern dafür kritisiert – das ist schon wirklich ein großer Schritt. Das mag irgendwie für unsere Verhältnisse nicht so klingen, aber ich glaube, das hat erst mal eine Jugend politisiert. Meine Schwester, die sehr viel jünger ist, und als Wissenschaftlerin sich vor allem mit Chemie und Physik beschäftigt und bisher wenig, wenn auch kritisch war, aber vor allem innerfamiliär, ist auf den Straßen, malt Plakate. Und so geht es wirklich einer großen, großen Bewegung, die vor allem von Jugend bestimmt ist und von Frauen, und wie Sie wissen, haben wir in der Türkei 70 Prozent unter 30 Jahren, und diese Jugend ist politisiert worden, diese Jugend denkt nach über sich und die Zukunft, und das ist eine große Revolution.
Bürger: Neue Allianzen in einem zerrissenen Land. Die Theatermacherin Shermin Langhoff über die Protestbewegung in der Türkei, die heute morgen am Istanbuler Taksim-Platz erneut die Gewalt der Sicherheitskräfte zu spüren bekommt. Ich danke Ihnen sehr, Frau Langhoff, für das Gespräch!
Langhoff: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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