Die Kamera ist "so eine kleine Schutzschicht"
Kriegsfotografie ist eine Männerdomäne und Anja Niedringhaus eine der ganz wenigen Frauen, die mit ihrer Kamera aus den Krisengebieten berichtet. Hauptaugenmerk der Pulitzerpreisträgerin sind die Zivilisten, "die im Krieg leiden".
Ulrike Timm: Ein kleiner Junge fährt Karussell. Er mag vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein, er ist zurzeit mächtig am wachsen, seine Hose ist zu kurz, aber er hat kein Kindergesicht. Eine große Pistole in der Hand zielt konzentriert auf irgendwen oder irgendwas, woran er in seiner Karusselschaukel gleich vorbeifährt. Ob Ernst oder nur böses Spiel, das sagt uns das Bild nicht – und auch darin liegt eigentlich seine Stärke, denn zwei Dinge brennen sich auf den ersten Blick ein: Diese Situation ist kein Spaß, und dieser kleine Junge mit seinen zehn oder elf ist kein Kind.
Ein Foto von Anja Niedringhaus, ausgestellt zusammen mit vielen anderen eindrücklichen Aufnahmen aus Kriegs- und Krisengebieten zurzeit in der CO-Galerie in Berlin. Anja Niedringhaus ist Kriegsfotografin. Sie arbeitet für Associated Press, wurde als erste deutsche Fotografin mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, und viele ihrer Bilder haben Sie bestimmt gesehen, ohne zu wissen, dass sie von Anja Niedringhaus stammen. Jetzt ist sie unser Gast, um von ihrer Arbeit als Kriegsfotografin zu erzählen. Herzlich willkommen!
Anja Niedringhaus: Herzlichen Dank!
Timm: Wissen Sie noch, wohin der kleine Junge zielt auf dem Bild?
Niedringhaus: Ja, das war beim letzten Tag vom Eid, von den Eid-Feierlichkeiten in Kabul. Und er hat eigentlich auf andere Kinder, die anstanden, um in dieses Karussell dann zu kommen, gezielt. Die Waffe ist eine sehr, sehr identisch nachgemachte Spielzeugwaffe, aber das ganze hatte etwas bedrohliches, weil er versucht hat – also, er hat auch direkt auf andere Kinder und Menschen gezielt, um zu zeigen halt, was er dort in der Hand hat. Aber im Endeffekt kann er einem leidtun.
Timm: Für ihn war es ernst?
Niedringhaus: Für ihn war es ernst. Aber er spielt ja nur das nach, was er fast jeden Tag sieht.
Timm: Frau Niedringhaus, bei manchen Ihrer Bilder, da spürt man die Kugeln eines Krieges pfeifen und geht instinktiv in Deckung, wenn man sie sieht. Andere zeigen die Opfer des Krieges, Tote und Verletzte. Sie haben viele Tausend Bilder gemacht. Gibt es welche, an die Sie sich ein Leben lang erinnern?
Niedringhaus: Ja.
Timm: Welche Bilder sind das, die man nicht fotografiert, sondern die man erlebt?
Niedringhaus: Das sind die ruhigeren Bilder eigentlich. Ich bin ja nicht auf der Suche nach diesem Bäng-Bäng, weil ich glaube, dass andere Fotos viel mehr zeigen können – wenn man zeigen kann, wie Zivilisten jahrelang in einem Krieg weiterleben können, wie die ihr tägliches Leben halt organisieren. Und natürlich hat jeder Krieg eine militärische Seite, und die fotografiere ich auch und mache öfters Embeds, aber was mich schon mehr interessiert, sind die Zivilisten, die in dem Krieg leiden und die sich in diesem Krieg zurechtfinden müssen.
Timm: Können Sie uns ein Beispiel geben für so ein Bild, das sich der Fotografin, die es gemacht hat, eingebrannt hat?
Niedringhaus: Es sind so viele. Es sind so viele, weil in der Ausstellung wird Libyen gezeigt, Afghanistan, Irak, Gazastreifen, und ich möchte keines dieser Fotos missen und auch keines abgeben, und ich hoffe, dass sie stellvertretend stehen für viele andere Fotos. Ich möchte mir nie eines rauspicken. Das ist, wie wenn man Kinder hat und sagt: Das älteste ist das hübscheste, und der …
Timm: Sie sind ja mitten drin. Sie berichten auf fotografisch von der Front.
Niedringhaus: Ja.
Timm: Die Situation vor dem afghanischen Karussell war also eine vergleichsweise harmlose – trotzdem ist das ein schreckliches Bild. was ist eigentlich ihr Anliegen?
Niedringhaus: Mein Anliegen ist eigentlich, die Menschen in diesen Ländern zu zeigen. Es geht mir nicht um die Militärmaschinerie, oder wie groß die Waffen sind, wie schnell der Panzer ist, sondern was eigentlich danach passiert, nachdem geschossen wird. Und deswegen ist es meistens so, dass an der Frontlinie für mich der uninteressanteste Punkt ist. Der interessanteste Punkt ist, was ist eigentlich da, wo es einschlägt?
Timm: Und dann sind Sie ganz vorne, und die Kugeln, die auf manchen Bildern einschlagen, die haben Sie auch gehört, und die Schuss– …
Niedringhaus: Die habe ich auch selbst am eigenen – also ich bin ja auch verletzt worden letztes Jahr im September, am 11. September. Das passiert, wenn man jahrelang also sich in diesen Gebieten bewegt, muss man damit rechnen, dass auch mal was passiert. Und ich habe immer bisher sehr viel Glück gehabt und hoffe auch, dass ich das weiterhin habe, aber …
Timm: Gehört Angst zur Professionalität?
Niedringhaus: Ich finde, Angst ist sehr wichtig. Eine gewisse Angst, eine Angst, die ich einschätzen kann. Ich möchte ja nicht ein Rambo sein und sagen: Ich kenne keine Angst. Natürlich habe ich Angst. Vielleicht weniger als derjenige, diejenige, die die Situation nicht kennt. Ich habe mich ja über die letzten 20 Jahre sehr gut kennengelernt. Also, ich weiß, wie ich in gefährlichen Situationen reagiere. Ich werde nicht hysterisch, ich werde eher sehr, sehr ruhig. Und ich finde, Angst, eine gewisse Grund-Angst, ist lebenserhaltend.
Timm: Es gibt ja ganz unterschiedliche Fotos: Solche, die etwas belegen – Sie waren zum Beispiel in Libyen in einem Leichenschauhaus und haben tote Soldaten von Gaddafis Milizen gesehen und mit Ihren Fotos eigentlich die Aussagen von Rebellen erhärtet, dass viele von Gaddafis Soldaten Söldner aus anderen afrikanischen Staaten seien. Das sind ja politische Beweisfotos. Andere zeigen menschliche Tragödien. Wie viel wissen Sie eigentlich von den Menschen, bevor sie auf den Auslöser drücken?
Niedringhaus: Wenig. Ich glaube, die Gabe eines guten Fotografen oder einer guten Fotografin ist, schnell auch zu reagieren und Zusammenhänge ganz schnell zu erfassen. Es ist ja nichts vorausplanbar. Ich kann Ihnen manchmal gar nicht sagen, was ich in der nächsten Stunde mache – das ist ja auch das Interessante –, sondern ich taste mich weiter ran an die Geschichte, weiter ran, und lasse es auf mich zukommen und berichte eigentlich darüber, was ich sehe. Was ich sehr, sehr schade finde, dass man, selbst wenn man die Menschen nur kurze Zeit gesehen hat, die man fotografiert hat, sei es nur Minuten oder Sekunden, dass man schon irgendwo eine Beziehung aufgebaut hat. Also, ich versuche das – traurig ist, dass man die wahrscheinlich nie wieder sieht.
Timm: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit der Fotografin Anja Niedringhaus, die in Kriegs- und Krisengebieten arbeitet. Frau Niedringhaus, die Kamera soll ja ganz nah sein, sorgt aber gleichzeitig für Distanz. Sie steht ja zwischen Ihnen und den Menschen. Wie geht das, einen Konflikt zu dokumentieren, ohne sich reinziehen zu lassen?
Niedringhaus: Ja, dass man nicht aufgefressen wird, das ist das, worüber ich immer dankbar bin, oder meiner Kamera sehr dankbar bin. Ich glaube, wenn ich ein schreibender Journalist wäre und würde diese ganzen Dinge sehen, hätte ich ein größeres Problem. Durch die Kamera konzentriere ich mich auf Bildaufbau und bin so eins mit der Kamera und habe so ein bisschen dann zwischen mir und dem was passiert ist, so eine kleine Schutzschicht.
Timm: Heißt das, in dem Moment, wo vor Ihnen jemand stirbt, fragen Sie sich, wie sieht das aus?
Niedringhaus: Nein. Nein, das lasse ich auf mich zukommen. Nein, nein. Nein, das wäre ja eine Inszenierung. Oh Gott, das wäre ja schrecklich.
Timm: Das ist ja in gewisser Weise auch ein Dilemma, wenn Sie in einem Kriegsgebiet inmitten eines Kugelhagels stehen sollten und eindrucksvolle Bilder schießen – so nennt man das ja schrecklicherweise –, dann ist das ein eindringliches Bild aus allernächster Nähe, und ist wahr. Ein objektives Bild der Lage ist und kann es nicht sein, denn die kann ja ein paar Kilometer weiter schon ganz anders sein, und trotzdem beurteilt man politische Zusammenhänge nach solchen Bildern. Ist das manchmal auch ein Dilemma, gefährlich?
Niedringhaus: Das ist manchmal ein Dilemma, weil es kann zu falschen Aussagen führen. Denn die Frontlinie zum Beispiel in Libyen hat sich innerhalb von Minuten verändert. Wenn ich gerade an einer Stelle bin und darüber berichte und auch – wir haben ja auch einen irren Druck zum Teil als Agenturfotografen, dass ich nicht sage, ich fotografiere den ganzen Tag und dann setze ich mich abends in mein Hotelzimmer und dann gucke ich mal, was ich gemacht habe. Sondern, wie das nun ist in Libyen ganz stark – und ich finde, das ist auch eine Riesengefahr –, dass wir diesen Druck haben, aktuell zu sein. Das heißt, ich fotografiere und baue mein Satellitentelefon auf und schicke was und gehe mit der Frontlinie mit. Das gab es früher nicht in Sarajevo. Da haben wir gesagt, bis um drei oder vier sind wir draußen – war auch Absprache mit Kollegen, weil es wurde ja immer gefährlicher oder grade in der Dunkelheit mit den Scharfschützen –, und heute ist es so, wir wollen alles instant haben, wir wollen alles schnell haben, und man muss sehen, dass man sich in der ganzen Sache nicht verhaspelt.
Timm: Geben Sie solche Warnungen manchmal an Ihren Auftraggeber weiter, …
Niedringhaus: Natürlich!
Timm: … dass Sie sagen: Moment, das habe ich jetzt gesehen, das ist mein Bild und dieses Bild ist wahr und ehrlich, aber einen Kilometer weiter kann die Lage völlig anders sein, bitte schreibt das mit?
Niedringhaus: Natürlich. Und ich liefere ja auch eine Bildunterschrift dazu, die wir Captions nennen, und versuche das dann auch so ausführlich wie möglich zu schreiben. Meistens versuchen wir auch, in einer Gruppe – also, dass ein AP-Kollege, ein Schreiber noch mitkommt – ich kann nur darüber berichten, wo ich gerade bin. Ich kann sagen: Es wird mir gesagt, 30 Kilometer weiter sieht es so aus. Aber das kann ich auch nur als Gerücht wahrnehmen, denn ich kann es auch nur bestätigen – und das ist ja auch die Regel des richtigen Journalismus –, wenn ich es gesehen habe.
Timm: Wie stehen Sie dazu, dass Fotografen draufhalten und Bilder schießen?
Niedringhaus: Ganz schlimm. Draufhalten heißt von den Menschen was wegnehmen. Schießen heißt, sie erschießen, das ist ein Gewehr. Aber ich habe kein Gewehr. Ich habe eine Kamera, ich habe einen Fotoapparat, und mit dem fotografiere ich. Aber das Wort schießen, da ziehen sich bei mir die Nackenhaare hoch, das ist ganz schrecklich.
Timm: Kriegsfotografie ist immer nur eine Männerdomäne. Sie sind eine der ganz wenigen Frauen in diesem Job. Sie waren in Bosnien, Sie waren in Afghanistan, Sie waren jetzt in Libyen. Begegnet man Ihnen da anders in Ihrer Arbeit? Das sind muslimische Länder, ist das nochmal ein Zacken mehr, wenn man dort als Frau arbeitet, ist das noch anders?
Niedringhaus: Generell würde ich sagen, ist das nicht so. Aber es gibt immer wieder Situationen, wo ich merke, ich muss dann doch lieber ein Kopftuch tragen, was ich eigentlich in den meisten Fällen nicht mache. Aber wenn ich merke, dass die Situation das erwünscht. Ich meine, ich gehe auch nicht im Bikini in den Vatikan. Da passe ich mich natürlich an, aber es ist nicht so der Druck, dass du sagst: Du wirst nicht ernstgenommen als Frau. Das stimmt nicht. Man wird vielleicht auf den ersten Blick nicht so ernst genommen, was es einem auch erleichtert. Man steht da nicht so im Mittelpunkt. Und ich kann wesentlich leichter arbeiten, weil ich unbeobachteter bin.
Timm: Wie werden Sie damit fertig, zum Beispiel in einem Krankenhaus Schwerverletzte zu fotografieren, wenn sehr offensichtlich ist, dieses Krankenhaus hat keine Medikamente, kaum Verbandsmaterial und Sie stehen da mit Ihrer Kamera, und tun können Sie eigentlich nichts?
Niedringhaus: Ich kann schon was tun, indem ich darüber berichte. Und ich glaube, das ist die Aufgabe. Ich kann jetzt nicht direkt die Medikamente aus meiner Tasche ziehen, aus der Fototasche, und dahin legen, sondern ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten und dann zu hoffen, dass sich was ändert. Es sind in manchen Fällen, damals auch in Sarajevo sind Konvois gestartet, die kleinere Gruppen organisiert haben aufgrund von Fotos. Ich kann nur immer wieder hoffen, dass die Arbeit, die ich mache – das ist auch das, was mir die Energie gibt –, was bewegt.
Timm: Die Fotografin Anja Niedringhaus über ihre Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten. Bilder davon sind zu sehen in der Ausstellung "at War" in der CO-Galerie in Berlin bis zum 4. Dezember. Frau Niedringhaus, ich danke Ihnen für Ihren Besuch, und achten Sie gut auf sich!
Niedringhaus: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ein Foto von Anja Niedringhaus, ausgestellt zusammen mit vielen anderen eindrücklichen Aufnahmen aus Kriegs- und Krisengebieten zurzeit in der CO-Galerie in Berlin. Anja Niedringhaus ist Kriegsfotografin. Sie arbeitet für Associated Press, wurde als erste deutsche Fotografin mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, und viele ihrer Bilder haben Sie bestimmt gesehen, ohne zu wissen, dass sie von Anja Niedringhaus stammen. Jetzt ist sie unser Gast, um von ihrer Arbeit als Kriegsfotografin zu erzählen. Herzlich willkommen!
Anja Niedringhaus: Herzlichen Dank!
Timm: Wissen Sie noch, wohin der kleine Junge zielt auf dem Bild?
Niedringhaus: Ja, das war beim letzten Tag vom Eid, von den Eid-Feierlichkeiten in Kabul. Und er hat eigentlich auf andere Kinder, die anstanden, um in dieses Karussell dann zu kommen, gezielt. Die Waffe ist eine sehr, sehr identisch nachgemachte Spielzeugwaffe, aber das ganze hatte etwas bedrohliches, weil er versucht hat – also, er hat auch direkt auf andere Kinder und Menschen gezielt, um zu zeigen halt, was er dort in der Hand hat. Aber im Endeffekt kann er einem leidtun.
Timm: Für ihn war es ernst?
Niedringhaus: Für ihn war es ernst. Aber er spielt ja nur das nach, was er fast jeden Tag sieht.
Timm: Frau Niedringhaus, bei manchen Ihrer Bilder, da spürt man die Kugeln eines Krieges pfeifen und geht instinktiv in Deckung, wenn man sie sieht. Andere zeigen die Opfer des Krieges, Tote und Verletzte. Sie haben viele Tausend Bilder gemacht. Gibt es welche, an die Sie sich ein Leben lang erinnern?
Niedringhaus: Ja.
Timm: Welche Bilder sind das, die man nicht fotografiert, sondern die man erlebt?
Niedringhaus: Das sind die ruhigeren Bilder eigentlich. Ich bin ja nicht auf der Suche nach diesem Bäng-Bäng, weil ich glaube, dass andere Fotos viel mehr zeigen können – wenn man zeigen kann, wie Zivilisten jahrelang in einem Krieg weiterleben können, wie die ihr tägliches Leben halt organisieren. Und natürlich hat jeder Krieg eine militärische Seite, und die fotografiere ich auch und mache öfters Embeds, aber was mich schon mehr interessiert, sind die Zivilisten, die in dem Krieg leiden und die sich in diesem Krieg zurechtfinden müssen.
Timm: Können Sie uns ein Beispiel geben für so ein Bild, das sich der Fotografin, die es gemacht hat, eingebrannt hat?
Niedringhaus: Es sind so viele. Es sind so viele, weil in der Ausstellung wird Libyen gezeigt, Afghanistan, Irak, Gazastreifen, und ich möchte keines dieser Fotos missen und auch keines abgeben, und ich hoffe, dass sie stellvertretend stehen für viele andere Fotos. Ich möchte mir nie eines rauspicken. Das ist, wie wenn man Kinder hat und sagt: Das älteste ist das hübscheste, und der …
Timm: Sie sind ja mitten drin. Sie berichten auf fotografisch von der Front.
Niedringhaus: Ja.
Timm: Die Situation vor dem afghanischen Karussell war also eine vergleichsweise harmlose – trotzdem ist das ein schreckliches Bild. was ist eigentlich ihr Anliegen?
Niedringhaus: Mein Anliegen ist eigentlich, die Menschen in diesen Ländern zu zeigen. Es geht mir nicht um die Militärmaschinerie, oder wie groß die Waffen sind, wie schnell der Panzer ist, sondern was eigentlich danach passiert, nachdem geschossen wird. Und deswegen ist es meistens so, dass an der Frontlinie für mich der uninteressanteste Punkt ist. Der interessanteste Punkt ist, was ist eigentlich da, wo es einschlägt?
Timm: Und dann sind Sie ganz vorne, und die Kugeln, die auf manchen Bildern einschlagen, die haben Sie auch gehört, und die Schuss– …
Niedringhaus: Die habe ich auch selbst am eigenen – also ich bin ja auch verletzt worden letztes Jahr im September, am 11. September. Das passiert, wenn man jahrelang also sich in diesen Gebieten bewegt, muss man damit rechnen, dass auch mal was passiert. Und ich habe immer bisher sehr viel Glück gehabt und hoffe auch, dass ich das weiterhin habe, aber …
Timm: Gehört Angst zur Professionalität?
Niedringhaus: Ich finde, Angst ist sehr wichtig. Eine gewisse Angst, eine Angst, die ich einschätzen kann. Ich möchte ja nicht ein Rambo sein und sagen: Ich kenne keine Angst. Natürlich habe ich Angst. Vielleicht weniger als derjenige, diejenige, die die Situation nicht kennt. Ich habe mich ja über die letzten 20 Jahre sehr gut kennengelernt. Also, ich weiß, wie ich in gefährlichen Situationen reagiere. Ich werde nicht hysterisch, ich werde eher sehr, sehr ruhig. Und ich finde, Angst, eine gewisse Grund-Angst, ist lebenserhaltend.
Timm: Es gibt ja ganz unterschiedliche Fotos: Solche, die etwas belegen – Sie waren zum Beispiel in Libyen in einem Leichenschauhaus und haben tote Soldaten von Gaddafis Milizen gesehen und mit Ihren Fotos eigentlich die Aussagen von Rebellen erhärtet, dass viele von Gaddafis Soldaten Söldner aus anderen afrikanischen Staaten seien. Das sind ja politische Beweisfotos. Andere zeigen menschliche Tragödien. Wie viel wissen Sie eigentlich von den Menschen, bevor sie auf den Auslöser drücken?
Niedringhaus: Wenig. Ich glaube, die Gabe eines guten Fotografen oder einer guten Fotografin ist, schnell auch zu reagieren und Zusammenhänge ganz schnell zu erfassen. Es ist ja nichts vorausplanbar. Ich kann Ihnen manchmal gar nicht sagen, was ich in der nächsten Stunde mache – das ist ja auch das Interessante –, sondern ich taste mich weiter ran an die Geschichte, weiter ran, und lasse es auf mich zukommen und berichte eigentlich darüber, was ich sehe. Was ich sehr, sehr schade finde, dass man, selbst wenn man die Menschen nur kurze Zeit gesehen hat, die man fotografiert hat, sei es nur Minuten oder Sekunden, dass man schon irgendwo eine Beziehung aufgebaut hat. Also, ich versuche das – traurig ist, dass man die wahrscheinlich nie wieder sieht.
Timm: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit der Fotografin Anja Niedringhaus, die in Kriegs- und Krisengebieten arbeitet. Frau Niedringhaus, die Kamera soll ja ganz nah sein, sorgt aber gleichzeitig für Distanz. Sie steht ja zwischen Ihnen und den Menschen. Wie geht das, einen Konflikt zu dokumentieren, ohne sich reinziehen zu lassen?
Niedringhaus: Ja, dass man nicht aufgefressen wird, das ist das, worüber ich immer dankbar bin, oder meiner Kamera sehr dankbar bin. Ich glaube, wenn ich ein schreibender Journalist wäre und würde diese ganzen Dinge sehen, hätte ich ein größeres Problem. Durch die Kamera konzentriere ich mich auf Bildaufbau und bin so eins mit der Kamera und habe so ein bisschen dann zwischen mir und dem was passiert ist, so eine kleine Schutzschicht.
Timm: Heißt das, in dem Moment, wo vor Ihnen jemand stirbt, fragen Sie sich, wie sieht das aus?
Niedringhaus: Nein. Nein, das lasse ich auf mich zukommen. Nein, nein. Nein, das wäre ja eine Inszenierung. Oh Gott, das wäre ja schrecklich.
Timm: Das ist ja in gewisser Weise auch ein Dilemma, wenn Sie in einem Kriegsgebiet inmitten eines Kugelhagels stehen sollten und eindrucksvolle Bilder schießen – so nennt man das ja schrecklicherweise –, dann ist das ein eindringliches Bild aus allernächster Nähe, und ist wahr. Ein objektives Bild der Lage ist und kann es nicht sein, denn die kann ja ein paar Kilometer weiter schon ganz anders sein, und trotzdem beurteilt man politische Zusammenhänge nach solchen Bildern. Ist das manchmal auch ein Dilemma, gefährlich?
Niedringhaus: Das ist manchmal ein Dilemma, weil es kann zu falschen Aussagen führen. Denn die Frontlinie zum Beispiel in Libyen hat sich innerhalb von Minuten verändert. Wenn ich gerade an einer Stelle bin und darüber berichte und auch – wir haben ja auch einen irren Druck zum Teil als Agenturfotografen, dass ich nicht sage, ich fotografiere den ganzen Tag und dann setze ich mich abends in mein Hotelzimmer und dann gucke ich mal, was ich gemacht habe. Sondern, wie das nun ist in Libyen ganz stark – und ich finde, das ist auch eine Riesengefahr –, dass wir diesen Druck haben, aktuell zu sein. Das heißt, ich fotografiere und baue mein Satellitentelefon auf und schicke was und gehe mit der Frontlinie mit. Das gab es früher nicht in Sarajevo. Da haben wir gesagt, bis um drei oder vier sind wir draußen – war auch Absprache mit Kollegen, weil es wurde ja immer gefährlicher oder grade in der Dunkelheit mit den Scharfschützen –, und heute ist es so, wir wollen alles instant haben, wir wollen alles schnell haben, und man muss sehen, dass man sich in der ganzen Sache nicht verhaspelt.
Timm: Geben Sie solche Warnungen manchmal an Ihren Auftraggeber weiter, …
Niedringhaus: Natürlich!
Timm: … dass Sie sagen: Moment, das habe ich jetzt gesehen, das ist mein Bild und dieses Bild ist wahr und ehrlich, aber einen Kilometer weiter kann die Lage völlig anders sein, bitte schreibt das mit?
Niedringhaus: Natürlich. Und ich liefere ja auch eine Bildunterschrift dazu, die wir Captions nennen, und versuche das dann auch so ausführlich wie möglich zu schreiben. Meistens versuchen wir auch, in einer Gruppe – also, dass ein AP-Kollege, ein Schreiber noch mitkommt – ich kann nur darüber berichten, wo ich gerade bin. Ich kann sagen: Es wird mir gesagt, 30 Kilometer weiter sieht es so aus. Aber das kann ich auch nur als Gerücht wahrnehmen, denn ich kann es auch nur bestätigen – und das ist ja auch die Regel des richtigen Journalismus –, wenn ich es gesehen habe.
Timm: Wie stehen Sie dazu, dass Fotografen draufhalten und Bilder schießen?
Niedringhaus: Ganz schlimm. Draufhalten heißt von den Menschen was wegnehmen. Schießen heißt, sie erschießen, das ist ein Gewehr. Aber ich habe kein Gewehr. Ich habe eine Kamera, ich habe einen Fotoapparat, und mit dem fotografiere ich. Aber das Wort schießen, da ziehen sich bei mir die Nackenhaare hoch, das ist ganz schrecklich.
Timm: Kriegsfotografie ist immer nur eine Männerdomäne. Sie sind eine der ganz wenigen Frauen in diesem Job. Sie waren in Bosnien, Sie waren in Afghanistan, Sie waren jetzt in Libyen. Begegnet man Ihnen da anders in Ihrer Arbeit? Das sind muslimische Länder, ist das nochmal ein Zacken mehr, wenn man dort als Frau arbeitet, ist das noch anders?
Niedringhaus: Generell würde ich sagen, ist das nicht so. Aber es gibt immer wieder Situationen, wo ich merke, ich muss dann doch lieber ein Kopftuch tragen, was ich eigentlich in den meisten Fällen nicht mache. Aber wenn ich merke, dass die Situation das erwünscht. Ich meine, ich gehe auch nicht im Bikini in den Vatikan. Da passe ich mich natürlich an, aber es ist nicht so der Druck, dass du sagst: Du wirst nicht ernstgenommen als Frau. Das stimmt nicht. Man wird vielleicht auf den ersten Blick nicht so ernst genommen, was es einem auch erleichtert. Man steht da nicht so im Mittelpunkt. Und ich kann wesentlich leichter arbeiten, weil ich unbeobachteter bin.
Timm: Wie werden Sie damit fertig, zum Beispiel in einem Krankenhaus Schwerverletzte zu fotografieren, wenn sehr offensichtlich ist, dieses Krankenhaus hat keine Medikamente, kaum Verbandsmaterial und Sie stehen da mit Ihrer Kamera, und tun können Sie eigentlich nichts?
Niedringhaus: Ich kann schon was tun, indem ich darüber berichte. Und ich glaube, das ist die Aufgabe. Ich kann jetzt nicht direkt die Medikamente aus meiner Tasche ziehen, aus der Fototasche, und dahin legen, sondern ich habe die Aufgabe, darüber zu berichten und dann zu hoffen, dass sich was ändert. Es sind in manchen Fällen, damals auch in Sarajevo sind Konvois gestartet, die kleinere Gruppen organisiert haben aufgrund von Fotos. Ich kann nur immer wieder hoffen, dass die Arbeit, die ich mache – das ist auch das, was mir die Energie gibt –, was bewegt.
Timm: Die Fotografin Anja Niedringhaus über ihre Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten. Bilder davon sind zu sehen in der Ausstellung "at War" in der CO-Galerie in Berlin bis zum 4. Dezember. Frau Niedringhaus, ich danke Ihnen für Ihren Besuch, und achten Sie gut auf sich!
Niedringhaus: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.