Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des Philosophie Magazins. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929".
Wie alles mit allem zusammenhängt
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Infektions-, Produktions-, Lieferketten: Corona zeigt, wie sehr alles miteinander verbunden ist und noch mehr: Welch große Bedeutung die scheinbar unteren Glieder der großen Kette des Lebens besitzen. Wohin könnte diese Einsicht führen?
Hören Sie das auch: dieses Rasseln? Jeden Tag aufs Neue, in Ihrem Kopf? Seit gut drei Monaten geht das schon so. Im Kern ein einziger fortlaufender Gedanke, tausendfach gewägt und variiert, verlagert und verdrängt, gefürchtet und gefaselt: Wie hältst du – vor allem aber die anderen – es mit dem Virus?
Die Allverbundenheit des Lebens
Wo totale Unsicherheit regiert, greifen Menschen, es macht sie aus, zunächst auf Altbewährtes zurück. Das gilt nicht zuletzt in sprachlicher Hinsicht. Zur dominanten Metapher, mit der wir uns das virale Gesamtgeschehen zu veranschaulichen suchen, ist in Zeiten der Pandemie folgerichtig die "Kette" geworden. Zunächst natürlich in Form der Ansteckungs- oder auch Infektionskette. Bald aber auch als global brüchig gewordene Liefer- und Produktionskette. Irgendwie, noch der dumpfste Lockdowngeist begriff es bereits in der zweiten Woche, hing auf einmal tatsächlich alles mit allem zusammen: die ostasiatische Fledermaus mit der norditalienischen Großmutter, die Klopapierrolle mit der Grenzkontrolle, die Türklinke mit dem Beatmungsgerät. Du und ich.
"In Ketten leben" – zunächst ein Urbild menschlicher Unfreiheit. Auf einer weiteren Bedeutungsebene aber auch kraftvoller Ausdruck einer Vision kosmischer Allverbundenheit, die das abendländische Denken von seinem Ursprung her prägte. So jedenfalls legt es der amerikanische Philosoph Arthur O. Lovejoy in seiner epochalen ideengeschichtlichen Abhandlung "The Great Chain of Beings" aus dem Jahre 1933 dar. Als deutscher Titel: "Die große Kette der Wesen".
Die Hierarchie der Ketten-Glieder
Bereits von Plato ab, so Lovejoy, regierte die Metapher der "großen Kette" unser Nachdenken über die Ordnung des Seins als Ganzem. Gemäß der großen kosmischen Kette war in Wahrheit nichts und niemand nur für sich, unverbunden, atomar isoliert, sondern in Wahrheit eingereiht in ein Kontinuum, das jedes einzelne Glied mit jedem anderen verbindet und verknüpft: vom Größten und Höchsten bis zum Kleinsten und Niedrigsten. Von Gott bis zur Mikrobe.
Zudem war dieser Ketten-Kosmos, so Lovejoy, über mehr als zwei Jahrtausende als klar hierarchisch vorgestellt. Ganz oben auf der Seinspyramide thronte machtvoll Gott, dann kamen Engel, bald das Vernunftwesen Mensch, bis hinab zu Tieren und schließlich niedersten Kleinstorganismen. Womit wir auch schon bei der viralen Pointe der jetzigen Situation wären: Was, wenn die große Seins-Kette zwar tatsächlich existierte, in Wahrheit aber ganz anders aufzufassen wäre?
Die Macht der unteren Glieder
Die eigentliche Macht über Sein und Nicht-Sein also nicht bei den geistigen und planvollen, sondern bei den geistlosen und willfährigen Wesen läge? Oder gar noch winzigeren Halbwesen zwischen Leben und Tod: wie Viren – als wahren Lenkern allen höheren Seins? Ja, was, wenn uns die große Metapher der großen Kette in Zeiten von Corona die Augen dafür öffnete, dass diese große Umkehrung auch politisch gilt. Sie also den Blick dafür frei legte, dass es gerade die bislang untersten und unsichtbarsten Glieder der Produktions- und Reproduktionskette sind, die unser Dasein eigentlich tragen. Und zudem gerade dort besonders ausbruchsstark wirken, wo sie anderen, noch einmal mutmaßlich niedrigeren Wesen jeden Tag wieder namenloses Leid zufügen – wie etwa in den Schlachthöfen auch unseres Landes.
Nicht auszudenken, was ein derart neu gewichtetes Seinsverständnis für virale Konsequenzen zeitigen könnte. Es wäre wohl, gerade in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise, nichts Geringeres als eine große, politische Kettenreaktion zu erwarten.