"Die Kirche hat sich schuldig gemacht"
Als das Parlament von Guatemala 2009 entschied, Sexualkunde als Pflichtunterricht in Schulen einzuführen, zettelte die Bischofskonferenz eine Protestkampagne an. Doch viele Priester empfinden die Dogmen als realitätsfern und belastend.
Marina Reyes steht in ihrer Küche und formt feuchten Maisteig zu kleinen Kugeln. Neben ihr klatscht ihre Tochter den Teig mit beiden Händen zu runden Fladen. Ein gutes Dutzend haben die beiden schon übereinander gestapelt. Das reicht aber noch längst nicht für das Mittagessen, denn Marina Reyes ist stolze Mutter von 14 Söhnen und Töchtern:
"Das Mädchen, das mir hilft, die Tortillas zu machen, ist zehn Jahre alt. Der Kleinste ist zwei Jahre und vier Monate alt. Der Älteste ist 30, die zweite 29, der dritte 26, der vierte 21. Und so geht das weiter bis nach unten."
Im nächsten Augenblick wechselt Marina Reyes ihrer zehn Monate alten Enkelin Delsi die Stoffwindeln. Gleichzeitig zieht sie Hemd, Hose und Strümpfe für den vierjährigen Daniel aus einer Kommode. Einen Moment später steht sie wieder in der Küche und schimpft mit Zoila, weil sie vergessen hat, Feuerholz nachzulegen.
Marina Reyes ist vor kurzem 47 Jahre alt geworden. Ihr kleiner Körper ist drahtig, muskulös, ihre Psyche stressgestählt. Die Hütte und der Hof sind ihr Reich, in dem sie sich pausenlos um die Kinder kümmert, um ihre Nahrung, ihre Kleidung, ihre Bildung, ihre Gesundheit. Sie schenkt ihnen Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, lobt und tadelt, unterstützt und straft, auch ihre acht Enkel. Der älteste Enkel ist zwölf Jahre alt und somit zehn Jahre älter als ihr jüngster Sohn Victor.
Das Land Guatemala hat mit jährlich 2,8 Prozent ein deutlich höheres Bevölkerungswachstum als die meisten anderen Länder Lateinamerikas. In den Armenvierteln der Hauptstadt kommen besonders viele Kinder zur Welt. Die Frauen in diesen Siedlungen sind häufig Analphabetinnen. Ihr Wissen über Sexualität, Verhütung und Familienplanung stammt aus Gesprächen mit Nachbarinnen, aus den Predigten katholischer Priester und evangelikaler Pastoren oder aus nachmittäglichen Fernseh-Talk-Shows. Keine besonders zuverlässigen Informationsquellen.
Marina Reyes war mit 14 das erste Mal schwanger. Ihr damaliger Freund und heutiger Ehemann Maucelio Reyes war 21 Jahre alt. Der Bauarbeiter und die Hausfrau sind beide gläubig.
Maucelio Reyes: "Wir gehen in die katholische Kirche. Dort sagen sie, dass es verboten ist, die Kinder zu vermeiden. Gott wird schon alles richten. Das sehen wir auch so. Wieso sollten wir die Kinder vermeiden, wenn es doch Gott ist, der über diese Dinge entscheidet. So steht es in der Heiligen Schrift, in der katholischen Bibel. Mir scheint es absurd zu sein, wenn die Frauen solche Medizin nehmen. Ich weiß davon nichts und habe sowas auch nie benutzt."
Auch Marina Reyes sieht die vielen Kinder als Geschenke Gottes. Ihren Töchtern aber wünscht sie nicht, dass sie so reichlich beschenkt werden wie sie selbst:
"Oh nein. Ich habe ihnen gesagt, dass sie aufpassen sollen. Meine älteste Tochter zum Beispiel ist verheiratet. Sie hat sich nach dem zweiten Kind operieren lassen. Sie sagt: "Mama, ich möchte nicht so leiden wie Du." Man leidet, wenn die Kinder krank werden und man kein Geld hat, um sie zu heilen."
Im Norden von Guatemala-Stadt liegt das Hospital San Juan de Dios. Es ist das Krankenhaus mit der größten Geburtsabteilung Mittelamerikas. In der Mitte der Station gibt es einen Wartesaal für Schwangere. Ein Dutzend Frauen windet sich im Schmerz der Wehen. In drei der fünf alten angerosteten Betten liegen zwei Frauen zusammen. Vier weitere Gebärende müssen sich mit Pritschen begnügen, an die Wand geschoben. Niemand legt wert auf die Privatsphäre der Patientinnen. Einige der werdenden Mütter sind mit diesen Zuständen bestens vertraut. Sie waren schon öfter hier, erklärt der Kinderarzt Sergio Penado:
"Es gibt da so einen Witz unter den Krankenpflegern. Wenn eine Frau kommt, die schon sieben oder zehn Kinder hat, dann sagt ihr jemand nach der Geburt: 'Nächstes Jahr sehen wir uns wieder.' Einmal hat die Frau ganz traurig geantwortet: 'Es stimmt. Das haben sie mir schon letztes Jahr gesagt. Und wirklich: hier bin ich wieder. Ich habe nicht aufgepasst.' Das ist dann nicht mehr witzig, sondern tragisch."
Als das guatemaltekische Parlament im Jahr 2009 entschied, Sexualkunde als Pflichtunterricht in öffentlichen Schulen einzuführen, zettelte die katholische Bischofskonferenz in Guatemala eine Protestkampagne an. Der Kinderarzt Sergio Penado ist Katholik, aber in diesem Punkt kann er kein Verständnis für die Haltung seiner Kirche aufbringen:
"Ich glaube, das ist ein Bereich, in dem sich die Kirche weniger engagieren sollte. Es geht um eine sehr persönliche Entscheidung, in die sich die Kirche nicht einmischen sollte. Mir scheint, dass die kirchliche Haltung vielen Menschen schadet. Die Leute bekommen eine Botschaft zu hören, die hier in Guatemala noch sehr verbreitet ist, dieses ganze Thema, die Verhütung sei Sünde."
Auch viele Priester empfinden die katholischen Dogmen als realitätsfern und belastend. Pater Marco Tulio Recinos betreut eine Gemeinde in dem Dorf Tucurú im guatemaltekischen Hochland. Er hat schon viele kleine, ausgemergelte Kinderleichen zu Grabe getragen:
"Ich bin Priester. Ich habe keine Ehefrau. Ich habe keine Kinder. Der Papst hat auch keine Kinder, genausowenig die Bischöfe. Warum zum Teufel sollen wir uns bei einem Ehepaar einmischen, wenn es darüber entscheidet, ein Kondom zu benutzen oder nicht? Ich glaube, die Kirche hat sich schuldig gemacht, weil wir den Leuten sagen, Verhütung sei Sünde und Kinderkriegen sei ein Segen. Wir sagen: 'Je mehr Kinder du hast, desto mehr bist du von Gott gesegnet.' Das ist eine Lüge."
Noch vor 30 Jahren bekam jede Frau in Guatemala im Schnitt sechs Kinder, 2005 waren es noch 4,5. Heute sind es nur noch 3,5. Pater Marco Tulio hält diese Entwicklung für einen Segen. Mit dieser Haltung steht er nicht allein in der katholischen Kirche:
"Ich habe mit Kollegen über dieses Thema gesprochen und es gibt viele, die so denken wie ich. Wir haben eine Verantwortung für die Zukunft der Menschen. Deshalb fühle ich mich sehr frei, ihnen zu sagen, dass sie verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen sollen. Wenn ein Vater meinen Rat sucht, dann sage ich ihm: Schau mal, du hast schon zwei, drei Kinder. Du solltest Träume für sie haben. Oder möchtest du, dass sie genauso leben wie du, ausgegrenzt, ausgebeutet und in Armut?"
"Das Mädchen, das mir hilft, die Tortillas zu machen, ist zehn Jahre alt. Der Kleinste ist zwei Jahre und vier Monate alt. Der Älteste ist 30, die zweite 29, der dritte 26, der vierte 21. Und so geht das weiter bis nach unten."
Im nächsten Augenblick wechselt Marina Reyes ihrer zehn Monate alten Enkelin Delsi die Stoffwindeln. Gleichzeitig zieht sie Hemd, Hose und Strümpfe für den vierjährigen Daniel aus einer Kommode. Einen Moment später steht sie wieder in der Küche und schimpft mit Zoila, weil sie vergessen hat, Feuerholz nachzulegen.
Marina Reyes ist vor kurzem 47 Jahre alt geworden. Ihr kleiner Körper ist drahtig, muskulös, ihre Psyche stressgestählt. Die Hütte und der Hof sind ihr Reich, in dem sie sich pausenlos um die Kinder kümmert, um ihre Nahrung, ihre Kleidung, ihre Bildung, ihre Gesundheit. Sie schenkt ihnen Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, lobt und tadelt, unterstützt und straft, auch ihre acht Enkel. Der älteste Enkel ist zwölf Jahre alt und somit zehn Jahre älter als ihr jüngster Sohn Victor.
Das Land Guatemala hat mit jährlich 2,8 Prozent ein deutlich höheres Bevölkerungswachstum als die meisten anderen Länder Lateinamerikas. In den Armenvierteln der Hauptstadt kommen besonders viele Kinder zur Welt. Die Frauen in diesen Siedlungen sind häufig Analphabetinnen. Ihr Wissen über Sexualität, Verhütung und Familienplanung stammt aus Gesprächen mit Nachbarinnen, aus den Predigten katholischer Priester und evangelikaler Pastoren oder aus nachmittäglichen Fernseh-Talk-Shows. Keine besonders zuverlässigen Informationsquellen.
Marina Reyes war mit 14 das erste Mal schwanger. Ihr damaliger Freund und heutiger Ehemann Maucelio Reyes war 21 Jahre alt. Der Bauarbeiter und die Hausfrau sind beide gläubig.
Maucelio Reyes: "Wir gehen in die katholische Kirche. Dort sagen sie, dass es verboten ist, die Kinder zu vermeiden. Gott wird schon alles richten. Das sehen wir auch so. Wieso sollten wir die Kinder vermeiden, wenn es doch Gott ist, der über diese Dinge entscheidet. So steht es in der Heiligen Schrift, in der katholischen Bibel. Mir scheint es absurd zu sein, wenn die Frauen solche Medizin nehmen. Ich weiß davon nichts und habe sowas auch nie benutzt."
Auch Marina Reyes sieht die vielen Kinder als Geschenke Gottes. Ihren Töchtern aber wünscht sie nicht, dass sie so reichlich beschenkt werden wie sie selbst:
"Oh nein. Ich habe ihnen gesagt, dass sie aufpassen sollen. Meine älteste Tochter zum Beispiel ist verheiratet. Sie hat sich nach dem zweiten Kind operieren lassen. Sie sagt: "Mama, ich möchte nicht so leiden wie Du." Man leidet, wenn die Kinder krank werden und man kein Geld hat, um sie zu heilen."
Im Norden von Guatemala-Stadt liegt das Hospital San Juan de Dios. Es ist das Krankenhaus mit der größten Geburtsabteilung Mittelamerikas. In der Mitte der Station gibt es einen Wartesaal für Schwangere. Ein Dutzend Frauen windet sich im Schmerz der Wehen. In drei der fünf alten angerosteten Betten liegen zwei Frauen zusammen. Vier weitere Gebärende müssen sich mit Pritschen begnügen, an die Wand geschoben. Niemand legt wert auf die Privatsphäre der Patientinnen. Einige der werdenden Mütter sind mit diesen Zuständen bestens vertraut. Sie waren schon öfter hier, erklärt der Kinderarzt Sergio Penado:
"Es gibt da so einen Witz unter den Krankenpflegern. Wenn eine Frau kommt, die schon sieben oder zehn Kinder hat, dann sagt ihr jemand nach der Geburt: 'Nächstes Jahr sehen wir uns wieder.' Einmal hat die Frau ganz traurig geantwortet: 'Es stimmt. Das haben sie mir schon letztes Jahr gesagt. Und wirklich: hier bin ich wieder. Ich habe nicht aufgepasst.' Das ist dann nicht mehr witzig, sondern tragisch."
Als das guatemaltekische Parlament im Jahr 2009 entschied, Sexualkunde als Pflichtunterricht in öffentlichen Schulen einzuführen, zettelte die katholische Bischofskonferenz in Guatemala eine Protestkampagne an. Der Kinderarzt Sergio Penado ist Katholik, aber in diesem Punkt kann er kein Verständnis für die Haltung seiner Kirche aufbringen:
"Ich glaube, das ist ein Bereich, in dem sich die Kirche weniger engagieren sollte. Es geht um eine sehr persönliche Entscheidung, in die sich die Kirche nicht einmischen sollte. Mir scheint, dass die kirchliche Haltung vielen Menschen schadet. Die Leute bekommen eine Botschaft zu hören, die hier in Guatemala noch sehr verbreitet ist, dieses ganze Thema, die Verhütung sei Sünde."
Auch viele Priester empfinden die katholischen Dogmen als realitätsfern und belastend. Pater Marco Tulio Recinos betreut eine Gemeinde in dem Dorf Tucurú im guatemaltekischen Hochland. Er hat schon viele kleine, ausgemergelte Kinderleichen zu Grabe getragen:
"Ich bin Priester. Ich habe keine Ehefrau. Ich habe keine Kinder. Der Papst hat auch keine Kinder, genausowenig die Bischöfe. Warum zum Teufel sollen wir uns bei einem Ehepaar einmischen, wenn es darüber entscheidet, ein Kondom zu benutzen oder nicht? Ich glaube, die Kirche hat sich schuldig gemacht, weil wir den Leuten sagen, Verhütung sei Sünde und Kinderkriegen sei ein Segen. Wir sagen: 'Je mehr Kinder du hast, desto mehr bist du von Gott gesegnet.' Das ist eine Lüge."
Noch vor 30 Jahren bekam jede Frau in Guatemala im Schnitt sechs Kinder, 2005 waren es noch 4,5. Heute sind es nur noch 3,5. Pater Marco Tulio hält diese Entwicklung für einen Segen. Mit dieser Haltung steht er nicht allein in der katholischen Kirche:
"Ich habe mit Kollegen über dieses Thema gesprochen und es gibt viele, die so denken wie ich. Wir haben eine Verantwortung für die Zukunft der Menschen. Deshalb fühle ich mich sehr frei, ihnen zu sagen, dass sie verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen sollen. Wenn ein Vater meinen Rat sucht, dann sage ich ihm: Schau mal, du hast schon zwei, drei Kinder. Du solltest Träume für sie haben. Oder möchtest du, dass sie genauso leben wie du, ausgegrenzt, ausgebeutet und in Armut?"