Die Kirchen in der Novemberrevolution 1918

Bangen um die Privilegien

Soldaten und bewaffnete Personen in einer Straße in Berlin. Auf einem Plakat steht "Brüder! Nicht schießen!".
Soldaten und bewaffnete Personen in Berlin während der Novemberrevolution 1918, die nicht nur die Monarchie im deutschen Reich beendet, sondern auch die Macht der Kirchen beschnitten hat. © imago / United Archives
Manfred Gailus im Gespräch mit Anne Françoise Weber |
Die Revolution von 1918 brachte auch für die Kirchen einen großen Einschnitt, nämlich die Trennung von Staat und Religion. Doch letztlich konnten sie viele ihrer Privilegien in die Weimarer Republik retten, erklärt der Historiker Manfred Gailus.
Anne Françoise Weber: Am 9. November 1918 wurde die deutsche Republik gleich zweimal ausgerufen. Was bedeutete das Ende des Kaiserreichs mit seiner Allianz von Thron und Altar für die Kirchen? Wie gingen sie mit der neuen Zeit und ihren Akteuren um? Fragen, die Manfred Gailus beantworten kann, Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Herr Gailus, weiß man denn, wie sich ganz konkret Pfarrer zu den Revolutionären, zu den meuternden Matrosen und den streikenden Arbeitern verhalten haben? Es gab ja immerhin kirchliche Sozialverbände, die sich genau um diese Arbeiterschaft kümmern sollten, oder?
Gailus: Ja, das war aber nicht vorstellbar. Nach meinem Eindruck haben die Kirchen sich um den 9. November eigentlich stark zurückgezogen. Sie haben sich in das Innerste der Kirche zurückgezogen, weil sie die ganze Situation als sehr bedrohlich empfanden. Bedrohlich wohl zu Recht, denn immerhin, es war der Beginn einer Revolution. Man konnte nach Russland schauen, wo 1917 die Oktoberrevolution geschah, mit verheerenden Folgen für die Kirchen in Russland. Und wer sehr pessimistisch dreinblickte, konnte befürchten, dass nun Ähnliches in Deutschland bevorstehen würde. Das waren reale Ängste im Kirchenbereich. Kirche hieß ja konservatives Milieu. Protestanten, Katholiken, das war im weitesten Sinne deutsch-national, und hier hatte man also vor einem Umsturz die allergrößten Befürchtungen.

Landeskirchen verloren ihre Oberhäupter

Weber: Waren die Befürchtungen auf protestantischer Seite besonders groß? Denn da ging es ja auch darum, dass die Herren, die oberste Spitze der Landeskirchen, damit auch verloren gingen. Allein Kaiser Wilhelm II. hinterließ ja mit seinem Thronverzicht sieben Landeskirchen kopflos. Hatte man da besondere Angst?
Gailus: Ja, es ist richtig. Die Protestanten waren von der Revolution stärker betroffen als die Katholiken. Sie verloren gewissermaßen ihre Oberhäupter. Die gekrönten Häupter, das waren die Fürsten, die Könige, waren zugleich die obersten Kirchenherren bis zum Ende des Kaiserreiches. Hier, also für Berlin, für Preußen war es eben der preußische König. Er war weltlicher Herrscher und geistlicher Oberherrscher zugleich. Und diese Doppelherrschaft endete mit der Revolution. Also, es war das Ende von Thron und Altar, von der engen Beziehung, von der Verknüpfung, von der Verschränkung von politischer Herrschaft und Kirchen. Das betraf aber eben nur die Protestanten.
Die Katholiken hatten ihren Oberherrn bekanntlich in Rom. Das war der Papst, der einer Weltkirche, der katholischen Kirche vorstand, und daran änderte sich ja für die Katholiken nicht viel. Man muss sogar sagen, wenn man dann auf die Anfänge der Weimarer Republik schaut: Die Protestanten fühlten sich schwer geschädigt und waren bestürzt. Die Katholiken waren vergleichsweise besser dran, denn im Kaiserreich waren die Katholiken die Außenseiter. Das deutsche Kaiserreich war ein protestantisches Reich.
Porträt von Manfred Gailus.
"Die Kirchen haben sich mit der ersten deutschen Demokratie nicht anfreunden können", sagt der Historiker Manfred Gailus.© privat
Ich würde sagen, niemals ging es den deutschen Protestanten so gut wie in der Zeit um 1900. Das bedeutete gleichzeitig, dass die Katholiken sich zurückgesetzt fühlten. Es gab den Kulturkampf in den 70er-, 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Katholiken fühlten sich in vieler Hinsicht benachteiligt, zurückgedrängt. Es gab Konflikte, es wurden manche Priester inhaftiert und so weiter, also eine Auseinandersetzung zwischen Bismarck letztlich und dem Papst. Eine Auseinandersetzung, von der die deutschen Katholiken doch erheblich betroffen waren. Nun mit der Weimarer Republik änderte sich das. Den einen ging es schlechter, und man kann sagen, wenn es den einen schlechter ging, ging es den anderen, der anderen Konfession automatisch besser. Und so war der Wechsel praktisch in der Weimarer Zeit da.

Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis

Weber: Aber letztlich ging es beiden Konfessionen auch in der Weimarer Zeit noch erstaunlich gut. Es trat eben nicht diese vollständige Trennung ein oder dieser Laizismus, wie man vielleicht ihn auch aus Frankreich hätte übernehmen können, sondern die Kirchen haben noch ganz schön viel gerettet. Wie haben sie das denn angestellt?
Gailus: Ja, das ist richtig. Die Befürchtungen waren groß, aber im Endeffekt verloren die Kirchen – das heißt jetzt im Wesentlichen sprechen wir immer von den evangelischen Kirchen – nur einen Teil ihrer Privilegien. In der Grundsubstanz konnten sie ihre Positionen erhalten. In der Weimarer Verfassung sind das die Artikel 135 bis 141, die legen also die Verhältnisse für Kirchen, für Religionsgesellschaften fest. Unter diesen Artikeln sind wesentlich einige Bestimmungen, zum Beispiel der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis, das steht jetzt in der Verfassung. Das war eine wesentliche Veränderung gegenüber dem Kaiserreich. Im Kaiserreich konnten Katholiken Nachteile haben bei Bewerbungen im Staatsdienst, und vor allen Dingen natürlich Juden. Sie mussten das Bekenntnis angeben, und das konnte bedeuten, dass in der Bürokratie, in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen und so weiter durchaus auch auf Konfession geschaut wurde.
Weber: Also man wurde jetzt weltanschaulich neutral. Das ist auf jeden Fall festzuhalten.
Gailus: So ist es. Das ist ja das große Stichwort für die Weimarer Republik. Der Staat ist weltanschaulich neutral und favorisiert keine der Religionsgesellschaften, keine Konfession. Der Staat steht sozusagen über den Konfessionen. Unter den Bestimmungen in Artikel 137 heißt es: "Es besteht keine Staatskirche". Das ist eine Negativformulierung.

Nur eine hinkende Trennung von Staat und Kirche

Positiv gewendet heißt das, bis zu dem Zeitpunkt hatte eine Staatskirche bestanden, jedenfalls in den überwiegend protestantischen Ländern mit den protestantischen Oberhäuptern. Die Staatskirche ist beendet. Ein ganz wesentlicher Satz in den Artikeln der Weimarer Verfassung ist dann das Recht der Kirchen, als Körperschaften des Öffentlichen Rechts weiterhin Steuern erheben zu können. Das war ganz wesentlich für die Finanzgrundlage der Kirchen.
Weber: Ist es bis heute.
Gailus: Bis heute, absolut. Und an dieser Festlegung sieht man, dass eben die Trennung von Staat und Kirche nicht vollständig war. Man hat unter Rechtshistorikern auch von der "hinkenden Trennung" gesprochen, also eine Trennung, die eben nur teilweise vollzogen wurde.
Weber: Und die auch den Religionsunterricht an den Schulen behalten hat, den wir ja auch bis heute haben.
Gailus: Richtig. Der Religionsunterricht wurde weiterhin zugestanden. Auch die Seelsorge im Militär, in Krankenhäusern – wo das erwünscht ist.
Weber: Wie ist das denn gelungen? Die Stimmung in SPD und USPD war doch wirklich antiklerikal, antikirchlich. Man hatte ein Erfurter Programm, das wollte wirklich Religion zur Privatsache machen. Man hatte erst mal einen Kultusminister, Adolph Hoffmann, der da auch ganz stark durchgreifen wollte. Und trotzdem sind wir bei einer Weimarer Verfassung gelandet, die genau diese Privilegien behalten hat. Haben die Kirchen da wirklich gute Lobbyarbeit gemacht?
Gailus: Ja, das haben sie. Sie haben Einfluss genommen auf die Verfassungsberatungen im Lauf des ersten Halbjahrs 1919. Sie haben dort Experten hingeschickt. Soweit ich erinnere, dürfte auch Adolf von Harnack beteiligt gewesen sein. Das waren natürlich prominente Leute, die dort Einfluss nehmen konnten. Und alle radikalen Forderungen konnten dort weitgehend entschärft oder sogar ganz abgeschafft werden. Man kann sagen, nach ein, zwei Jahren der Unruhe hatte sich der Sturm gelegt, für die Kirchen jedenfalls. Was aber festzustellen ist, ist, dass die kirchliche Stimmung dauerhaft viel schlechter war als die kirchliche Lage. Das gilt für die gesamte Weimarer Republik. Die Kirchen haben sich, ich möchte sagen, bedauerlicherweise, niemals anfreunden können mit der ersten deutschen Demokratie. Das lag auch daran, dass die Kirchen, das heißt auch, die Theologen, kein Verhältnis zur Demokratie hatten.

Großes Schweigen zu den Novemberpogromen 1938

Weber: Und dann können wir gleich weiter gucken auf die Diktatur, die danach folgte, und welche Rolle die Kirchen da spielten. Ein weites Thema. Lassen Sie uns heute nur auf den 9. November 1938, die Reichspogromnacht schauen. Wie haben da Kirchenvertreter reagiert? Standen die applaudierend bei den brennenden Synagogen?
Gailus: Nein, das wäre eine zu extreme Vorstellung. So kann man das überhaupt nicht sehen. Die überwiegende Reaktion der Kirchen, und zwar beider großen Konfessionen, ist Schweigen, sodass ich sagen würde: Das große Schweigen ist die Hauptantwort, die Hauptreaktion der Kirchen auf die Novemberpogrome. Es gibt allerdings Unterschiede zwischen den Protestanten und Katholiken.
Bei den Protestanten findet man eine Reihe von Kirchenvertretern, Pfarrern, auch Landesbischöfe, Theologieprofessoren, die sich positiv zu den Pogromen geäußert haben, die also beifällige Äußerungen machten, nicht nur im Briefwechsel oder sozusagen in nichtöffentlicher Weise, sondern auch durch Verlautbarungen. Es gibt eine Publikation des Landesbischofs Martin Sasse in Thüringen, kurz nach den Pogromen, wo er aus Luthers antijüdischen Schriften Zitate sammelt und seine Heftchen dann überschreibt: "Martin Luther und die Juden: Weg mit ihnen!". Das erscheint wenige Tage nach dem Pogrom als eine Handreichung für die Thüringer Pfarrer.

Ein renommierter Theologe begrüßte die Angriffe

Es gibt weitere Verlautbarungen. Eine extreme, die mir auch heute noch schwer im Magen liegt, muss ich sagen, ist eine briefliche Äußerung des Göttinger Theologen Emanuel Hirsch. Das war ein renommierter Theologieprofessor, Kirchenhistoriker, der in einem Briefwechsel mit einem Publizisten, Wilhelm Stapel, wenige Tage nach dem Pogrom äußerte: Das war jetzt eine Aktion, die man begrüßen müsse aus politischer Hinsicht. Und wenn das jetzt noch nicht genug gewesen sei, dann müsse noch mehr kommen, schreibt er in dem Brief. Es war eine klare politische Aktion der Nationalsozialisten. Er gibt seine Zustimmung dazu. Man muss sehen, Emanuel Hirsch war seit 1933 Mitglied der NSDAP, er war ein bekennender Christ und radikaler Nationalsozialist.
Weber: Und Wegbereiter des Holocaust damit dann auch.
Gailus: Das kann man so sehen.
Weber: Es gab auch andere Stimmen, aber es ist wichtig, auch diese zu nennen, die die Diktatur und den Antisemitismus gestützt haben.
Gailus: Ja. Ich muss das betonen. Es gab selbstverständlich auch andere Stimmen. Vielgenannt ist Helmut Gollwitzer in Dahlem, der am 16. November eine Bußtagspredigt hielt, die herausragend ist im Landesvergleich. Es gibt einen Pfarrer in Württemberg, Julius von Jan, der eine mutige Bußtagspredigt nach dem Pogrom hielt und der wenige Tage darauf von einer SA-Gruppe zusammengeschlagen wurde. Das hat es natürlich auch gegeben.
Weber: Wenige mutige Stimmen gegen den Antisemitismus. Vielen Dank, Manfred Gailus, Professor für Neuere Geschichte am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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