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Übungen für Überflieger
Für Musiker sind Etüden so ähnlich wie das Zähneputzen: es macht keinen Spaß, muss aber sein. Für die Klavieretüden von György Ligeti gilt dagegen: sie müssen nicht sein, machen aber Spaß.
Diese Stücke sind nur für die geeignet, die schon alles können. Und mehr noch: die das Klavier ebenso wie ihren eigenen Kopf und die eigenen motorischen Fähigkeiten perfekt beherrschen. György Ligetis Etüden sind Übungen für Überflieger. Sie gehören zu den schwierigsten Klavierstücken, die je komponiert worden sind.
Trotz allem gibt es eine beachtliche Reihe von Pianistinnen und Pianisten quer durch die Generationen, die sich der Herausforderung dieser aberwitzig komplexen Musik gestellt haben – von Erika Haase über Idil Biret und Pierre-Laurent Aimard bis zu Yuja Wang.
Verwandlung von Schwäche in Stärke
Das Thema Schwierigkeit stand auch am Anfang des Kompositionsprozesses: Aus dem Bedauern über seine eigene pianistische Unvollkommenheit machte Ligeti ein improvisatorisches Spiel an den Tasten und erschloss sich so das Komponieren für Klavier. Und natürlich sind seine insgesamt 18 Klavieretüden, die zwischen 1985 und 2001 entstanden, auch eine kreative Auseinandersetzung mit der Tradition, mit den Klavierwerken von Chopin, Liszt und Debussy.
Gast im Studio ist die kanadische Musikwissenschaftlerin Louise Duchesneau, die einst die Assistentin Ligetis war und eine entsprechend intime Kennerin von Persönlichkeit und Werk des 2006 verstorbenen Komponisten ist. Das Gespräch wird von Eckhard Roelcke moderiert, der mit Ligeti viele Interviews geführt und diese auch in Buchform veröffentlicht hat.
Jazz, Mechanik, Exotik
So unterschiedlich Ligetis Etüden sind, so vielfältig sind die damit verbundenen Aspekte: Neben Ligetis Beziehung zur klassischen Musik ist auch nach seinem Verhältnis zum Jazz zu fragen – der Pianist Bill Evans war eines seiner Idole –, nach seiner Beschäftigung mit der mechanischen Musik Conlon Nancarrows und nach dem Einfluss, den die musikethnologischen Studien von Simha Arom auf sein Denken ausgeübt haben. Überhaupt scheint es so gut wie nichts gegeben zu haben, das Ligeti nicht interessiert und herausgefordert hätte.
So schwer, ja unmöglich Ligetis Etüden zu spielen sind, so unterhaltsam sind sie übrigens für das Publikum, auch – oder gerade weil – Ligeti nicht nur virtuose Musik schrieb, sondern mit Hörerwartungen und physiologischen Hörfähigkeiten virtuos spielen konnte. Von diesem Komponisten lässt man sich gern aufs ästhetische Glatteis führen!