Die Kluft zwischen Wissen und täglichem Handeln

Plötzlich und unerwartet sieht sich der Arzt und Familienvater Gabor in seiner Lebensroutine gestört. In seinem Urlaub war er einem illegalen Flüchtling begegnet, von dem er sich - zurück an seinem Arbeitsplatz und in seinem Alltag - verfolgt fühlt. Andreas Schäfer beschreibt in "Gesichter" unseren Umgang mit dem Unausgesprochenen und den Egoismus des Einzelnen.
Der Neurologe Gabor Lorenz, ein Spezialist auf seinem Gebiet, lebt ein wohlsituiertes Leben mit seiner Frau und seinen beiden Kindern: Nele, 14 Jahre, und Malte im Kita-Alter. Das beruhigend Normale bricht auf der Rückfahrt von den Ferien auf einer griechischen Insel auf. Gabor beobachtet, wie sich ein Mann, offenbar ein Flüchtling, auf das Fährschiff schmuggelt und in einem Lkw versteckt.

Das Gesicht des Mannes lässt ihm keine Ruhe, er schleicht zu dem Lkw und wirft seinen Proviantbeutel auf den Anhänger. Dass in dem Beutel die von ihm geschriebenen und an seine Frau adressierten Ansichtskarten lagen, die er in den folgenden Wochen von zu Hause abschicken wollte, damit die Ferien nicht in Vergessenheit geraten, merkt Lorenz als die erste Karte zu Hause ankommt. Eine Ahnung, eine Angst vor dem Fremden ergreift von ihm Besitz, und sein geordnetes Leben gerät in Unordnung.

Lorenz reagiert gereizt seiner Frau und seinen Kollegen gegenüber und ist, als die nächsten Postkarten aus unterschiedlichen und Berlin näher rückenden Orten eintreffen, immer weniger er selbst, verrät aber niemandem den Grund für seine steigende Nervosität. Andreas Schäfer beschreibt den Einbruch des Schreckens und der Unsicherheit in ein geordnetes Leben und zeigt, wie wenig Lorenz seine berufliche Professionalität und seine Kenntnis von den Aspekten der Wahrnehmung beim Erkennen seiner eigenen Probleme weiterhelfen und wie weit Wissen und tägliches Handeln auseinanderklaffen.

Als Nele, die sich seit den Ferien und einer ersten Inselliebe in teenagerhafte Verschlossenheit zurückgezogen hatte, eines Tages nicht nach Hause kommt, entdecken Lorenz und seine Frau, dass, unbemerkt von der Alltagsroutine, ihr Vertrauensverhältnis zueinander geschwunden ist. In der Panik um die vermisste Tochter scheint alles auseinanderzubrechen. Andreas Schäfer beschreibt das Anschwellen der Angst, steigert dramaturgisch raffiniert die Spannung, um das Ungesagte im Verhältnis zweier Menschen aufzudecken und er umstellt seine Hauptfigur mit Wahnvorstellungen.

Gegen die benennbare Angst um die Tochter mischen sich die Gedanken an den fremden Flüchtling und einen Vortrag, der über sein berufliches Weiterkommen entscheiden sollte und den er wie in Trance gehalten hat und glaubt, dabei versagt zu haben. Eine wohlsituierte, wohlanständige Familie ist kurz davor, an Sprachlosigkeit und Schuldzuweisung kaputt zu gehen.

Und ein weiteres Thema durchzieht den Roman: das Thema des Fremden. Weitere Flüchtlinge, die auf der griechischen Insel gestrandet sind, versetzen die Inselbewohner dort in Schrecken. Sie fürchten weniger um ihr Leben, oder um das der Flüchtlinge, sie sorgen sich um den Immobilienwert ihrer Häuser. Es geht in diesem Roman um das unvorhergesehene Ereignis und um unseren Umgang mit den Notleidenden. Andreas Schäfers Themen sind der Egoismus des Einzelnen und das Unausgesprochene, das unser Leben mitbestimmt. Ein psychologisch genauer, dramaturgisch gut gearbeiteter, nachdenklicher, leicht und unverkrampft geschriebener Roman.

Besprochen von Verena Auffermann

Andreas Schäfer: Gesichter
DuMont; Köln 2013
253 Seiten, 19,99 Euro


Links auf dradio.de:

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