Die "Kohlenwagenbabys"
Tod und Geburt, Inferno und Lebensglück - Dresden 1945 ist ein Beispiel dafür. 78 Kinder kamen in den Tagen um den 13. Februar 1945 im Johannstädter Krankenhaus in Dresden zur Welt. Die meisten verloren in jenen Nächten ihre Mütter. Seit zehn Jahren treffen sie sich am 13. Februar.
So ist es an jedem 13. Februar in Dresden. Um dreiviertel Zehn am Abend läuten die Kirchenglocken der Stadt. 20 Minuten lang. Die Kreuzkirche, die Frauenkirche, die Kathedrale. Alle. Alle Kirchenglocken der ganzen Stadt auf einmal. Es ist ein Augenblick, in dem alle still sind.
Die Rechten und die Linken und die Aufrechten und die Polizisten, die sich eben noch die ritualisierten Fehden geliefert haben. Alles verharrt an seinem Platz. Viele Menschen machen die Wohnungsfenster trotz des kalten Februarabends weit auf, gehen auf den Balkon oder vor die Haustür. Lauschen und Schweigen. Dann steht in Dresden-Johannstadt auch Irene Bäger am Fenster:
"Diese Flammen, dieser Feuersturm, diese vielen Menschen. Mit Handwagen und mit allem Möglichen. Und dann die brennende Frauenklinik. Das ist die Erinnerung, die ich immer im Kopf habe. Zumindest am 13. Februar, und wenn dann auch noch die Glocken klingen, dann ist es bei mir sehr traurig. Obwohl so viele Jahre vergangen sind. Das kommt immer wieder."
Irene Bäger war im Februar 1945 fünf Jahre alt. Sie verlor in jener Nacht ihre Mutter, die gerade in der Frauenklinik Irenes Schwester zur Welt gebracht hatte:
"Ich denke auch viele Male nicht mehr daran. Nur an dem 13. Februar. Aber eins muss ich sagen: Ich bin nicht bereit, in die Stadt zu gehe und diese Demonstration mitzumachen. Weil die, die es erlebt haben, die trauern anders. Die trauern einfach anders. Darum ist das Schöne hier: Wir haben einen Ort, wo wir hingehen können. Das ist mir sehr, sehr wichtig. Das Beste, was passieren konnte."
Ein Ort, an den man hingehen kann. Für zwei Dutzend Menschen ist das weder eine der Dresdner Kirchen noch einer der Friedhöfe der Stadt. Es ist ein Gebäude an der Pfotenhauerstraße in Dresden-Johannstadt. Heute ist es die Orthopädische Klinik des Universitätsklinikums Dresden. Früher war hier die Frauenklinik.
Ute Dittmann, die Verwaltungsleiterin der Klinik, erwartet das Grüpplein. Und führt es hinauf in den ersten Stock:
"Wir haben hier so eine kleine Historie über die orthopädische Klinik, wie das angefangen hat. Und da gibt es hier ein Foto der Ruine der ehemaligen Frauenklinik. Das ist das hier. Und in diesem Kellerbereich und in diesem Kellerbereich - hier waren die Kinder und hier waren die Mütter. Dieser Bereich wurde komplett zerstört, auch nicht so wieder aufgebaut. Die Orthopädische Klinik ist wieder aufgebaut, so, wie Sie das hier sehen können."
Petra Roschinski hat einen Brief mitgebracht:
"Lieber Willi, der Brief, den ich jetzt an Dich schreiben muss, ist wohl der schwerste in meinem Leben. Das Fernschreiben vom 13.Februar hast Du sicher noch erhalten, in dem die Geburt Deiner Tochter gemeldet wurde. Ich hatte es vormittags ins Präsidium gegeben, Da hatten wir unsere Ilse noch. In der Nacht ist sie beim Terrorangriff ein Opfer des Krieges geworden. Des Krieges, den ich verfluche."
Ein Brief, den die Großmutter an ihren Schwiegersohn schrieb, Petra Roschinskis Vater. Er war damals als Soldat in Norwegen stationiert:
"Dresden mit fast allen Vorstädten besteht nicht mehr. In Johannstadt war meine Hoffnung erloschen. Nur Rauch und Feuer. Das Haus B, in dem Ilse lag, von einem Volltreffer in der Mitte getroffen."
Bäger: "Wir sind hier vorbeigegangen – auf der Seite dort drüben, mit meinen Großeltern. Meine Schwester war an dem Tag hier geboren worden. Und als wir das hier gesehen haben – alles in Flammen. Das kann man nicht vergessen. Das ist eingebrannt."
Roschinksi: "Ich hab ja eben ganz kurz aus dem Brief meiner Großmutter vorgelesen. Die sind jeden Tag hierher gegangen und haben gehofft, dass sie meine Mutter finden. Mein Vater hat dann in Norwegen einen Urlaubsschein bekommen. Und hat dann hier ausgegraben und hat sie am 11. April geborgen. Er hat eben diese ganze Zeit ausgegraben. Und ich denke, die waren alle traumatisiert. Wer das gemacht hat, hat darüber nicht gesprochen die Jahre. Ich durfte als Kind ihn gar nicht ansprechen, das war ein Tabu-Thema."
Petra Roschinski und mit ihr 50 andere in den Bombennächsten von Dresden Geborene verdanken ihr Überleben allein der Tatsache, dass die Säuglinge und die Mütter in getrennten Kellern untergebracht waren. Der Keller der Frauenklinik wurde im Gegensatz zu dem der Kinderklinik fast vollständig zerstört. So kommt es, dass fast alle Kinder überlebten und fast alle Mütter starben. Die Überlebenden sind gekommen, um dort zu sein, wo ihre Mütter ums Leben kamen. Jedes Jahr kommen sie hierher. Jedes Jahr fahren sie hinunter in diesen Keller.
In diesen Minuten im Keller mag keiner viel reden. Sie sind dankbar, dass Ute Dittmann das übernimmt.
Gedanken, die durch den Kopf jagen: Was wäre gewesen wenn? Lothar Weber muss immer wieder daran denken. Seine Familie war mit dem Flüchtlingstreck im Winter 1945 in der Nähe von Dresden gelandet:
"Mutter war ja bei weitläufigen Verwandten in Mockritz. Und dann ist sie am 12. oder 11. Februar mit der letzten Straßenbahn reingefahren. Und da haben die gesagt: Ach, wart doch noch ein bissel! Nee, sagt sie, die war auch erst 20. Nee, ich fahr‘ rein. Und in Mockritz ist nicht eine Bombe runtergekommen."
Wieder ein langes Schweigen. Und noch eine Was-wäre-wenn-Geschichte: Irene Bägers Mutter wollte ursprünglich in eine andere kleinere Klinik zur Entbindung:
"Auf der Anton-Graf-Straße. Aber der hatte kein Rotes Kreuz auf dem Dach. Und dann ist sie hierher gegangen. Das Haus von dort ist stehen geblieben und hier ist es kaputt gegangen … Lüftung …"
Auf das Rote Kreuz auf dem Krankenhausdach hatten sich die Frauen damals verlassen. Es bedeutete Schutz. So sicher wie in einem Krankenhaus war man in der Stadt nirgends. Glaubte man.
Bräger: "Ich habe aber doch ein schönes Erlebnis gehabt, das war dann 1995. Da hatte das ZDF einen Film gedreht. Und alle, die daran beteiligt waren, wurden ins Hilton eingeladen in Dresden. Und da haben sie zwei Bomberpiloten eingeladen aus England. Die beiden Männer waren über 80. Und die gingen dann zu jedem Tisch und haben sich entschuldigt.
Das ist denen genauso schwer gefallen. Sie wollten eben Verzeihung haben dafür. Das waren ja auch junge Leute, die haben auch nach Befehl gehandelt. Und die sagten eben, es ist ein Versehen gewesen, dass diese Bombe auf das Krankenhaus niedergefallen ist. / Herr Weber: Wer will da noch rechten und richten? Es war die Zeit. Und wo die Bombe runtergegangen ist – ich sag mal, er hat sich entschuldigt – aber das war in dem Kriegsgewirr, die sind runtergekommen, egal, was da unten stand. Das ist meine Auffassung."
Petra Roschinski war in dem Keller ganz still. Wieder oben angekommen, atmet sie durch:
"Wenn ich hier unten bin – ich selber habe Angst, mich darauf einzulassen, auf das Gefühl, das meine Mutter hier unten gehabt haben muss. Diese Angst. Ich hab für mich selber Angst. Da block‘ ich ab."
Als sie aus dem Haus treten und ein Rettungshubschrauber über ihnen brummt, zuckt Lothar Weber zusammen. Später wird er erzählen, dass er bis heute Angst vor Flugzeugen hat. Und Irene Bäger verkriecht sich schon ihr ganzes Leben lang, wenn es draußen blitzt und donnert.
Die Verwaltungsleiterin macht darauf aufmerksam, dass vor der Tür ein Metallstück in die Erde eingelassen wurde: Ein sogenanntes Mahndepot. Dieses trägt die Nr. 59 und erinnert an die Zerstörung der Frauenklinik, ein Text dazu ist im Internet hinterlegt. Neben der Eingangstür an der Wand ist eine Gedenktafel angebracht. Jedes Jahr am 13. Februar treffen sich hier die überlebenden Kinder und legen Blumen nieder.
Während die Mütter begraben wurden, viele in namenlosen Gräbern, wussten die Verwandten nicht, wo die Kinder hingekommen waren. Keiner ahnte ihre Odyssee: Im Chaos der brennenden Stadt, zwischen den beiden großen Angriffen, wurden die Neugeborenen auf einen Kohlenwagen gepackt und erst nach Blasewitz in eine Schule gebracht, später dann weiter verteilt auf Sanatorien und Kliniken außerhalb Dresdens.
Manche Kinder, wie Lothar Weber, wurden erst nach einem halben Jahr von ihren Verwandten gefunden. Einige der 50 Neugeborenen waren da schon an Rauchvergiftung oder Unterernährung gestorben. Lothar Weber wog als halbjähriges Kind sieben Pfund – gerade mal so viel wie ein Neugeborenes. Petra Roschinski hatte mehr Glück: Ihre Großmutter fand sie wenige Tage nach ihrer Geburt – und berichtete das in einem Brief dem Vater des Kindes:
"In Blasewitz fanden wir Petra. Sie war still und sah mich so verständig an, als wollte sie sagen: Na endlich holt ihr mich!"
Auch Irene Bäger hatte sich, als Fünfjährige, mit ihren Großeltern auf die Suche nach ihrer Schwester Helga gemacht. Sie fanden sie in Kreischa, einem Sanatorium in der Sächsischen Schweiz:
"Und da lagen die Babys – ich hab immer gesagt: Wie auf Förderbändern. Wie Zeilensemmeln lagen die dort! Und ich weiß noch ganz genau: Ich hatte mir ein Baby rausgesucht - ich war ganz dunkel - was auch dunkle Haare hatte. Aber das war sie nicht. Die war blond mit ganz dünnen Haaren. Und die wollte ich absolut nicht mitnehmen. Aber das Bändchen am Arm hat es ja bewiesen."
Das Bändchen am Arm als Ausweis. Genauso wie das kleine rosafarbene Geburtskärtchen – Beweise der Identität. Um die die überlebenden Kinder oft ein Leben lang ringen. Manchmal, wenn sich Petra Roschinski mit ihrem Vater gestritten hatte, sagte er: Die haben dich doch in Dresden vertauscht. Du bist nicht meine Tochter. Irene Bägers Schwester Helga, die heute nichts mehr von der ganzen Geschichte hören will, musste gar mit einem ungeheuerlichen Vorwurf ihres Vaters leben.
Bäger: "Dass sie geboren wurde, wo der Angriff war. Dass er durch sie seine wirklich geliebte Frau verloren hat."
Roschinski: "Dieses Schuldgefühl habe ich auch: Wenn ich nicht gerade dann geboren worden wäre, wäre es anders gewesen. Ich hab das aber realisieren können für mich, dass ich sage: An solchen Geschichten habe ich keine Schuld und nehme sie nicht für mich an. Wer aber da in einer ganz anderen Tiefe getroffen wird, der kann das nicht verarbeiten. Der leidet unendlich und der bleibt leidend."
Immer verhinderte der Vater der Hamburgerin, dass sie nach Dresden fuhr. Erst als 20jährige bekam sie das Geburtskärtchen von ihrer Dresdner Großmutter, als sie sie endlich besuchen durfte.
Roschinski: "Da hab ich gedacht: Ich bin’s – lacht. Ich habe auch den Tick gehabt, dass ich diese Geburtskarte bei meinen Papieren aufbewahrt habe und immer bei mir getragen habe. Weil es für mich eine Zeit lang sehr wichtig war, zu wissen: Ich bin ich."
Sich seiner selbst versichern. Ein Leben lang. Noch Jahrzehnte später, als sie in Dresden die Hebamme traf, die sie entbunden hatte, nahm sie ihr Geburtskärtchen mit und zeigte es ihr. Die 88-jährige Frau konnte sich jedoch nach fast 70 Jahren nicht mehr an sie erinnern.
Roschinski: "Aber sie hat all das, was ich gehört habe von meiner Großmutter, bestätigt in ihrem Bericht. Das hat mich sehr berührt. Und es war für mich persönlich auch so ein Abschluss in dieser Geschichte. Die ist jetzt rund."
Die Hebamme hatte Petra Roschinski mit Hilfe der Sächsischen Zeitung in Dresden gefunden. Nachdem sie in den 90er-Jahren vergeblich versucht hatte, mit Schreiben an die Klinik und an Stadtteil-Bürgermeister weitere überlebende Kinder zu finden, half eine Artikelserie in der Zeitung. Außerdem bastelte die Hamburgerin schon 2002 eine frühe Internetseite: überlebendekinderdresden.de
Im Lauf der Jahre meldeten sich 17 Kinder, die in den Bombennächsten im Johannstädter Krankenhaus geboren wurden und sieben weitere, die als Angehörige – wie Irene Bäger – oder als kleine Patienten der Kinderklinik das Inferno miterlebten. Als ihre Internetseite von den neuen Nazis zur Propaganda benutzt wurde, indem sie Teile der Lebensgeschichten auf ihre Seiten kopierten, war Petra Roschinski empört. Keiner hat das Recht, unsere Geschichte für seine Zwecke zu missbrauchen, meinte sie und zeigte den Vorfall bei der Polizei an. Dort wurde sie enttäuscht. Die Polizei unternahm nichts. Das Argument:
"Dass Teile davon auf ideologischen Seiten verwendet wurden, ist kein Grund, um polizeiliche Ermittlungen einzuleiten. Es wird von einer bestimmten Klientel missbraucht, und das ist etwas, was von meiner Seite nicht gewollt, nicht gewünscht war. Aber ich kann nichts dagegen unternehmen. Das macht hilflos. Es wird ja heute um jede Zahl gekämpft. 350 000 sagte man zu DDR-Zeiten, heute sind es 35 000. Es ist jeder Tote einer zu viel. Und wenn wir diese Geschichte heute so ausbreiten, dann ist für mich das Anliegen daran: Es passiert jeden Tag genau dieses auf der ganzen Welt! Das böse Wort Kollateralschaden wird heute für diese Geschichten benutzt."
Zur Gruppe der überlebenden Kinder gehört auch Monika Hänke. Sie ist ein Sonderfall: Denn ihre Mutter Mathilde Schrage hat das Inferno überlebt. Die 90-jährige ist zu gebrechlich, um heute noch in den Keller der ehemaligen Frauenklinik zu gehen: Jenen Ort, an dem sie am 13. Februar 1945 ein Martyrium erlebte. Weil sie sich vor ihrer Entbindung das Bein gebrochen hatte, war sie im benachbarten Keller der Orthopädie untergebracht. Sie konnte wegen ihres Gipsbeins nicht laufen. Mit einer anderen bettlägerigen Frau war sie in einen Kellerraum geschoben worden. Ringsherum waren schon die Heizungsrohre geplatzt.
Hänke: "Und da stieg das Wasser immer höher. Aber wir waren noch glücklich, dass das lauwarm war. Das waren heiße Rohre. Und da die geplatzt waren und das Wasser zu uns kam, war das Wasser lauwarm, das war ein Glück. Und da wurden wir aber aus den Betten rausgefledert durch den Druck.- Tochter Hänke: Und die Frau, die dort bettlägerig war, die wär ertrunken? - Mutter: Nee, die ist nicht ertrunken aber die wär ertrunken, wenn’s nicht geklopft hätte. Klopfrufe. Von außen. Und da haben wir geschrien. Da haben die uns dann freigeschaufelt.
So ein Durchbruch, wo sie uns rausziehen konnten. – Tochter: Und wo war ich? - Mutter: Und du? Das wusste ich überhaupt nicht, wo du warst!"
Auch Monika Bäger, geborene Schrage, machte die Kohlenwagenodyssee durch: Acht Wochen später erst wurde sie von ihrer Tante in Kreischa gefunden. Ihre Mutter, die damals 22 war, erlebte unterdessen ihre eigene Odyssee: Vom zerbombten Johannstädter Krankenhaus wurde sie in die Frauenklinik des Friedrichstädter Krankenhauses gebracht. Dort lag sie nun ohne ihr Baby.
Schrage: "Die jammerten, die Kinder, die schrien nun alle, die Säuglinge. Die Mütter hatten keine Milch mehr, die jammerten auch. Und da kam ein Doktor, und ich hatte so viel Milch. Und da kam der Doktor zu mir, ob ich nicht einen Säugling mit stillen würde. Weil ich ja meine Tochter nicht hatte. Und ich dachte: Wirst ja sagen, denn dann erhältst du deine Milch für deine Tochter. Ich wusste ja nun nicht, wann ich sie wieder und ob ich sie wieder kriege. Und dann hab ich zehn Kinder am Tage gestillt. Zehn Kinder."
So wurde Mathilde Schrage eine Lebensretterin. Als sie wieder laufen konnte, ging sie mit einer anderen jungen Mutter in deren sicheres Zuhause am Stadtrand und stillte dort mehrere Wochen deren neugeborenen Sohn. Die Zwillingsschwester des Jungen hatte den Angriff in einem Keller im Zentrum Dresdens nicht überlebt. Als Mathilde Schrage dann nach acht Wochen endlich ihre eigene, unterernährte Tochter wiederbekam, konnte sie ihr Glück kaum fassen.
Schrage: "Das war ein Glück. Die hat gekuschelt, ach, die hat gekuschelt! Die hat rausgebrochen, aber gleich wieder los! Die hat weiter gemacht! Das war ein Glück. Sonst hätte ich sie vielleicht nicht mehr retten können."
Die Glocken von Dresden. Auch von ihnen hat kaum eine den Krieg überlebt. Sie wurden neu gegossen. Die der Frauenkirche erst 58 Jahre nach dem Inferno.
Bäger: "Es sind ja auch bald 70 Jahre. Und andere Städte sind auch zerstört worden. Ich hab meinen Frieden mit dem Ganzen gemacht. Es lässt sich ja nicht ändern. Aber eins weiß ich: Unser aller Leben wär anders gewesen, wenn dieser Angriff nicht gewesen wäre."
Die Rechten und die Linken und die Aufrechten und die Polizisten, die sich eben noch die ritualisierten Fehden geliefert haben. Alles verharrt an seinem Platz. Viele Menschen machen die Wohnungsfenster trotz des kalten Februarabends weit auf, gehen auf den Balkon oder vor die Haustür. Lauschen und Schweigen. Dann steht in Dresden-Johannstadt auch Irene Bäger am Fenster:
"Diese Flammen, dieser Feuersturm, diese vielen Menschen. Mit Handwagen und mit allem Möglichen. Und dann die brennende Frauenklinik. Das ist die Erinnerung, die ich immer im Kopf habe. Zumindest am 13. Februar, und wenn dann auch noch die Glocken klingen, dann ist es bei mir sehr traurig. Obwohl so viele Jahre vergangen sind. Das kommt immer wieder."
Irene Bäger war im Februar 1945 fünf Jahre alt. Sie verlor in jener Nacht ihre Mutter, die gerade in der Frauenklinik Irenes Schwester zur Welt gebracht hatte:
"Ich denke auch viele Male nicht mehr daran. Nur an dem 13. Februar. Aber eins muss ich sagen: Ich bin nicht bereit, in die Stadt zu gehe und diese Demonstration mitzumachen. Weil die, die es erlebt haben, die trauern anders. Die trauern einfach anders. Darum ist das Schöne hier: Wir haben einen Ort, wo wir hingehen können. Das ist mir sehr, sehr wichtig. Das Beste, was passieren konnte."
Ein Ort, an den man hingehen kann. Für zwei Dutzend Menschen ist das weder eine der Dresdner Kirchen noch einer der Friedhöfe der Stadt. Es ist ein Gebäude an der Pfotenhauerstraße in Dresden-Johannstadt. Heute ist es die Orthopädische Klinik des Universitätsklinikums Dresden. Früher war hier die Frauenklinik.
Ute Dittmann, die Verwaltungsleiterin der Klinik, erwartet das Grüpplein. Und führt es hinauf in den ersten Stock:
"Wir haben hier so eine kleine Historie über die orthopädische Klinik, wie das angefangen hat. Und da gibt es hier ein Foto der Ruine der ehemaligen Frauenklinik. Das ist das hier. Und in diesem Kellerbereich und in diesem Kellerbereich - hier waren die Kinder und hier waren die Mütter. Dieser Bereich wurde komplett zerstört, auch nicht so wieder aufgebaut. Die Orthopädische Klinik ist wieder aufgebaut, so, wie Sie das hier sehen können."
Petra Roschinski hat einen Brief mitgebracht:
"Lieber Willi, der Brief, den ich jetzt an Dich schreiben muss, ist wohl der schwerste in meinem Leben. Das Fernschreiben vom 13.Februar hast Du sicher noch erhalten, in dem die Geburt Deiner Tochter gemeldet wurde. Ich hatte es vormittags ins Präsidium gegeben, Da hatten wir unsere Ilse noch. In der Nacht ist sie beim Terrorangriff ein Opfer des Krieges geworden. Des Krieges, den ich verfluche."
Ein Brief, den die Großmutter an ihren Schwiegersohn schrieb, Petra Roschinskis Vater. Er war damals als Soldat in Norwegen stationiert:
"Dresden mit fast allen Vorstädten besteht nicht mehr. In Johannstadt war meine Hoffnung erloschen. Nur Rauch und Feuer. Das Haus B, in dem Ilse lag, von einem Volltreffer in der Mitte getroffen."
Bäger: "Wir sind hier vorbeigegangen – auf der Seite dort drüben, mit meinen Großeltern. Meine Schwester war an dem Tag hier geboren worden. Und als wir das hier gesehen haben – alles in Flammen. Das kann man nicht vergessen. Das ist eingebrannt."
Roschinksi: "Ich hab ja eben ganz kurz aus dem Brief meiner Großmutter vorgelesen. Die sind jeden Tag hierher gegangen und haben gehofft, dass sie meine Mutter finden. Mein Vater hat dann in Norwegen einen Urlaubsschein bekommen. Und hat dann hier ausgegraben und hat sie am 11. April geborgen. Er hat eben diese ganze Zeit ausgegraben. Und ich denke, die waren alle traumatisiert. Wer das gemacht hat, hat darüber nicht gesprochen die Jahre. Ich durfte als Kind ihn gar nicht ansprechen, das war ein Tabu-Thema."
Petra Roschinski und mit ihr 50 andere in den Bombennächsten von Dresden Geborene verdanken ihr Überleben allein der Tatsache, dass die Säuglinge und die Mütter in getrennten Kellern untergebracht waren. Der Keller der Frauenklinik wurde im Gegensatz zu dem der Kinderklinik fast vollständig zerstört. So kommt es, dass fast alle Kinder überlebten und fast alle Mütter starben. Die Überlebenden sind gekommen, um dort zu sein, wo ihre Mütter ums Leben kamen. Jedes Jahr kommen sie hierher. Jedes Jahr fahren sie hinunter in diesen Keller.
In diesen Minuten im Keller mag keiner viel reden. Sie sind dankbar, dass Ute Dittmann das übernimmt.
Gedanken, die durch den Kopf jagen: Was wäre gewesen wenn? Lothar Weber muss immer wieder daran denken. Seine Familie war mit dem Flüchtlingstreck im Winter 1945 in der Nähe von Dresden gelandet:
"Mutter war ja bei weitläufigen Verwandten in Mockritz. Und dann ist sie am 12. oder 11. Februar mit der letzten Straßenbahn reingefahren. Und da haben die gesagt: Ach, wart doch noch ein bissel! Nee, sagt sie, die war auch erst 20. Nee, ich fahr‘ rein. Und in Mockritz ist nicht eine Bombe runtergekommen."
Wieder ein langes Schweigen. Und noch eine Was-wäre-wenn-Geschichte: Irene Bägers Mutter wollte ursprünglich in eine andere kleinere Klinik zur Entbindung:
"Auf der Anton-Graf-Straße. Aber der hatte kein Rotes Kreuz auf dem Dach. Und dann ist sie hierher gegangen. Das Haus von dort ist stehen geblieben und hier ist es kaputt gegangen … Lüftung …"
Auf das Rote Kreuz auf dem Krankenhausdach hatten sich die Frauen damals verlassen. Es bedeutete Schutz. So sicher wie in einem Krankenhaus war man in der Stadt nirgends. Glaubte man.
Bräger: "Ich habe aber doch ein schönes Erlebnis gehabt, das war dann 1995. Da hatte das ZDF einen Film gedreht. Und alle, die daran beteiligt waren, wurden ins Hilton eingeladen in Dresden. Und da haben sie zwei Bomberpiloten eingeladen aus England. Die beiden Männer waren über 80. Und die gingen dann zu jedem Tisch und haben sich entschuldigt.
Das ist denen genauso schwer gefallen. Sie wollten eben Verzeihung haben dafür. Das waren ja auch junge Leute, die haben auch nach Befehl gehandelt. Und die sagten eben, es ist ein Versehen gewesen, dass diese Bombe auf das Krankenhaus niedergefallen ist. / Herr Weber: Wer will da noch rechten und richten? Es war die Zeit. Und wo die Bombe runtergegangen ist – ich sag mal, er hat sich entschuldigt – aber das war in dem Kriegsgewirr, die sind runtergekommen, egal, was da unten stand. Das ist meine Auffassung."
Petra Roschinski war in dem Keller ganz still. Wieder oben angekommen, atmet sie durch:
"Wenn ich hier unten bin – ich selber habe Angst, mich darauf einzulassen, auf das Gefühl, das meine Mutter hier unten gehabt haben muss. Diese Angst. Ich hab für mich selber Angst. Da block‘ ich ab."
Als sie aus dem Haus treten und ein Rettungshubschrauber über ihnen brummt, zuckt Lothar Weber zusammen. Später wird er erzählen, dass er bis heute Angst vor Flugzeugen hat. Und Irene Bäger verkriecht sich schon ihr ganzes Leben lang, wenn es draußen blitzt und donnert.
Die Verwaltungsleiterin macht darauf aufmerksam, dass vor der Tür ein Metallstück in die Erde eingelassen wurde: Ein sogenanntes Mahndepot. Dieses trägt die Nr. 59 und erinnert an die Zerstörung der Frauenklinik, ein Text dazu ist im Internet hinterlegt. Neben der Eingangstür an der Wand ist eine Gedenktafel angebracht. Jedes Jahr am 13. Februar treffen sich hier die überlebenden Kinder und legen Blumen nieder.
Während die Mütter begraben wurden, viele in namenlosen Gräbern, wussten die Verwandten nicht, wo die Kinder hingekommen waren. Keiner ahnte ihre Odyssee: Im Chaos der brennenden Stadt, zwischen den beiden großen Angriffen, wurden die Neugeborenen auf einen Kohlenwagen gepackt und erst nach Blasewitz in eine Schule gebracht, später dann weiter verteilt auf Sanatorien und Kliniken außerhalb Dresdens.
Manche Kinder, wie Lothar Weber, wurden erst nach einem halben Jahr von ihren Verwandten gefunden. Einige der 50 Neugeborenen waren da schon an Rauchvergiftung oder Unterernährung gestorben. Lothar Weber wog als halbjähriges Kind sieben Pfund – gerade mal so viel wie ein Neugeborenes. Petra Roschinski hatte mehr Glück: Ihre Großmutter fand sie wenige Tage nach ihrer Geburt – und berichtete das in einem Brief dem Vater des Kindes:
"In Blasewitz fanden wir Petra. Sie war still und sah mich so verständig an, als wollte sie sagen: Na endlich holt ihr mich!"
Auch Irene Bäger hatte sich, als Fünfjährige, mit ihren Großeltern auf die Suche nach ihrer Schwester Helga gemacht. Sie fanden sie in Kreischa, einem Sanatorium in der Sächsischen Schweiz:
"Und da lagen die Babys – ich hab immer gesagt: Wie auf Förderbändern. Wie Zeilensemmeln lagen die dort! Und ich weiß noch ganz genau: Ich hatte mir ein Baby rausgesucht - ich war ganz dunkel - was auch dunkle Haare hatte. Aber das war sie nicht. Die war blond mit ganz dünnen Haaren. Und die wollte ich absolut nicht mitnehmen. Aber das Bändchen am Arm hat es ja bewiesen."
Das Bändchen am Arm als Ausweis. Genauso wie das kleine rosafarbene Geburtskärtchen – Beweise der Identität. Um die die überlebenden Kinder oft ein Leben lang ringen. Manchmal, wenn sich Petra Roschinski mit ihrem Vater gestritten hatte, sagte er: Die haben dich doch in Dresden vertauscht. Du bist nicht meine Tochter. Irene Bägers Schwester Helga, die heute nichts mehr von der ganzen Geschichte hören will, musste gar mit einem ungeheuerlichen Vorwurf ihres Vaters leben.
Bäger: "Dass sie geboren wurde, wo der Angriff war. Dass er durch sie seine wirklich geliebte Frau verloren hat."
Roschinski: "Dieses Schuldgefühl habe ich auch: Wenn ich nicht gerade dann geboren worden wäre, wäre es anders gewesen. Ich hab das aber realisieren können für mich, dass ich sage: An solchen Geschichten habe ich keine Schuld und nehme sie nicht für mich an. Wer aber da in einer ganz anderen Tiefe getroffen wird, der kann das nicht verarbeiten. Der leidet unendlich und der bleibt leidend."
Immer verhinderte der Vater der Hamburgerin, dass sie nach Dresden fuhr. Erst als 20jährige bekam sie das Geburtskärtchen von ihrer Dresdner Großmutter, als sie sie endlich besuchen durfte.
Roschinski: "Da hab ich gedacht: Ich bin’s – lacht. Ich habe auch den Tick gehabt, dass ich diese Geburtskarte bei meinen Papieren aufbewahrt habe und immer bei mir getragen habe. Weil es für mich eine Zeit lang sehr wichtig war, zu wissen: Ich bin ich."
Sich seiner selbst versichern. Ein Leben lang. Noch Jahrzehnte später, als sie in Dresden die Hebamme traf, die sie entbunden hatte, nahm sie ihr Geburtskärtchen mit und zeigte es ihr. Die 88-jährige Frau konnte sich jedoch nach fast 70 Jahren nicht mehr an sie erinnern.
Roschinski: "Aber sie hat all das, was ich gehört habe von meiner Großmutter, bestätigt in ihrem Bericht. Das hat mich sehr berührt. Und es war für mich persönlich auch so ein Abschluss in dieser Geschichte. Die ist jetzt rund."
Die Hebamme hatte Petra Roschinski mit Hilfe der Sächsischen Zeitung in Dresden gefunden. Nachdem sie in den 90er-Jahren vergeblich versucht hatte, mit Schreiben an die Klinik und an Stadtteil-Bürgermeister weitere überlebende Kinder zu finden, half eine Artikelserie in der Zeitung. Außerdem bastelte die Hamburgerin schon 2002 eine frühe Internetseite: überlebendekinderdresden.de
Im Lauf der Jahre meldeten sich 17 Kinder, die in den Bombennächsten im Johannstädter Krankenhaus geboren wurden und sieben weitere, die als Angehörige – wie Irene Bäger – oder als kleine Patienten der Kinderklinik das Inferno miterlebten. Als ihre Internetseite von den neuen Nazis zur Propaganda benutzt wurde, indem sie Teile der Lebensgeschichten auf ihre Seiten kopierten, war Petra Roschinski empört. Keiner hat das Recht, unsere Geschichte für seine Zwecke zu missbrauchen, meinte sie und zeigte den Vorfall bei der Polizei an. Dort wurde sie enttäuscht. Die Polizei unternahm nichts. Das Argument:
"Dass Teile davon auf ideologischen Seiten verwendet wurden, ist kein Grund, um polizeiliche Ermittlungen einzuleiten. Es wird von einer bestimmten Klientel missbraucht, und das ist etwas, was von meiner Seite nicht gewollt, nicht gewünscht war. Aber ich kann nichts dagegen unternehmen. Das macht hilflos. Es wird ja heute um jede Zahl gekämpft. 350 000 sagte man zu DDR-Zeiten, heute sind es 35 000. Es ist jeder Tote einer zu viel. Und wenn wir diese Geschichte heute so ausbreiten, dann ist für mich das Anliegen daran: Es passiert jeden Tag genau dieses auf der ganzen Welt! Das böse Wort Kollateralschaden wird heute für diese Geschichten benutzt."
Zur Gruppe der überlebenden Kinder gehört auch Monika Hänke. Sie ist ein Sonderfall: Denn ihre Mutter Mathilde Schrage hat das Inferno überlebt. Die 90-jährige ist zu gebrechlich, um heute noch in den Keller der ehemaligen Frauenklinik zu gehen: Jenen Ort, an dem sie am 13. Februar 1945 ein Martyrium erlebte. Weil sie sich vor ihrer Entbindung das Bein gebrochen hatte, war sie im benachbarten Keller der Orthopädie untergebracht. Sie konnte wegen ihres Gipsbeins nicht laufen. Mit einer anderen bettlägerigen Frau war sie in einen Kellerraum geschoben worden. Ringsherum waren schon die Heizungsrohre geplatzt.
Hänke: "Und da stieg das Wasser immer höher. Aber wir waren noch glücklich, dass das lauwarm war. Das waren heiße Rohre. Und da die geplatzt waren und das Wasser zu uns kam, war das Wasser lauwarm, das war ein Glück. Und da wurden wir aber aus den Betten rausgefledert durch den Druck.- Tochter Hänke: Und die Frau, die dort bettlägerig war, die wär ertrunken? - Mutter: Nee, die ist nicht ertrunken aber die wär ertrunken, wenn’s nicht geklopft hätte. Klopfrufe. Von außen. Und da haben wir geschrien. Da haben die uns dann freigeschaufelt.
So ein Durchbruch, wo sie uns rausziehen konnten. – Tochter: Und wo war ich? - Mutter: Und du? Das wusste ich überhaupt nicht, wo du warst!"
Auch Monika Bäger, geborene Schrage, machte die Kohlenwagenodyssee durch: Acht Wochen später erst wurde sie von ihrer Tante in Kreischa gefunden. Ihre Mutter, die damals 22 war, erlebte unterdessen ihre eigene Odyssee: Vom zerbombten Johannstädter Krankenhaus wurde sie in die Frauenklinik des Friedrichstädter Krankenhauses gebracht. Dort lag sie nun ohne ihr Baby.
Schrage: "Die jammerten, die Kinder, die schrien nun alle, die Säuglinge. Die Mütter hatten keine Milch mehr, die jammerten auch. Und da kam ein Doktor, und ich hatte so viel Milch. Und da kam der Doktor zu mir, ob ich nicht einen Säugling mit stillen würde. Weil ich ja meine Tochter nicht hatte. Und ich dachte: Wirst ja sagen, denn dann erhältst du deine Milch für deine Tochter. Ich wusste ja nun nicht, wann ich sie wieder und ob ich sie wieder kriege. Und dann hab ich zehn Kinder am Tage gestillt. Zehn Kinder."
So wurde Mathilde Schrage eine Lebensretterin. Als sie wieder laufen konnte, ging sie mit einer anderen jungen Mutter in deren sicheres Zuhause am Stadtrand und stillte dort mehrere Wochen deren neugeborenen Sohn. Die Zwillingsschwester des Jungen hatte den Angriff in einem Keller im Zentrum Dresdens nicht überlebt. Als Mathilde Schrage dann nach acht Wochen endlich ihre eigene, unterernährte Tochter wiederbekam, konnte sie ihr Glück kaum fassen.
Schrage: "Das war ein Glück. Die hat gekuschelt, ach, die hat gekuschelt! Die hat rausgebrochen, aber gleich wieder los! Die hat weiter gemacht! Das war ein Glück. Sonst hätte ich sie vielleicht nicht mehr retten können."
Die Glocken von Dresden. Auch von ihnen hat kaum eine den Krieg überlebt. Sie wurden neu gegossen. Die der Frauenkirche erst 58 Jahre nach dem Inferno.
Bäger: "Es sind ja auch bald 70 Jahre. Und andere Städte sind auch zerstört worden. Ich hab meinen Frieden mit dem Ganzen gemacht. Es lässt sich ja nicht ändern. Aber eins weiß ich: Unser aller Leben wär anders gewesen, wenn dieser Angriff nicht gewesen wäre."