Helena Urán Bidegain: "Mi Vida y el Palacio"
Planeta Colombia, 2020
derzeit nur auf Spanisch erhältlich
Das Trauma in Worte fassen
05:57 Minuten
Im Jahr 1985 wurde ihr Vater in Bogotá ermordet - offenbar durch Soldaten. Die kolumbianische Autorin Helena Urán Bidegain hat dieses Trauma in ihrem Buch „Mi Vida y el Palacio“ verarbeitet. In Deutschland zu leben habe ihr dabei geholfen, sagt sie.
Helena Urán Bidegain treffe ich auf einer Café-Terrasse mit Blick auf die Spree. Nicht weit von hier, im Deutschen Bundestag, war sie einige Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt. Die Kolumbianerin kennt die Geschichte des Gebäudes, sie weiß um den Reichstagsbrand vom Februar 1933.
Dass das deutsche Parlament einst in Brand gesteckt wurde, hat Helena tief beeindruckt. Denn ebenfalls durch ein brennendes Gebäude geriet ihr eigenes Leben vor mehr als 30 Jahren aus den Fugen: 1985 überfiel in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá ein linkes Guerilla-Kommando den Justizpalast, in dem ihr Vater arbeitete.
"Wenige Minuten später kam das Militär, die haben überreagiert, mit Panzern, mit Hubschraubern und haben angefangen, überall zu schießen", berichtet sie. "Wenige Stunden später gab es auch Feuer in dem Gebäude. Dann, am Ende, sind 100 Menschen gestorben."
Tod im Kugelhagel
Helenas Vater, Carlos Urán, ein junger, progressiver Richter, gehörte zu den Opfern. Er sei im Kugelhagel zwischen den drei Dutzend Guerilla-Kämpfern und den mehr als fünftausend schwer bewaffneten Militärs getötet worden. So die offizielle Auskunft an die Familie. Insgesamt starben in dem Inferno aus Schüssen, Explosionen und Flammen elf Richter, darunter der Präsident des Höchsten Gerichts, und viele Zivilisten.
Die Autorin erinnert sich: "Ich war 10 Jahre alt, als das passiert ist. Und gleich danach mussten wir Kolumbien verlassen. Meine Mutter wurde auch bedroht. In dem Alter wegzugehen, ohne richtig zu verstehen, was passiert war, war für mich als Kind ziemlich schwierig."
In der Familie herrschte Schweigen
Heute ist Helena Urán Bidegain 46, in Berlin lebt sie seit 2012. Zuvor absolvierte sie ein Studium der Lateinamerikanistik und Medienkultur in Hamburg. In der Zeit vor dem Studieum war sie mit ihrer Mutter und ihren drei Schwestern immer wieder umgezogen: Erst nach Uruguay, dann in die USA, dann nach Spanien. Weit weg von Kolumbien, wo der Vater auf so tragische Weise gestorben war.
Über seinen Tod herrschte zuhause Schweigen. "Es war eine große Blockade. Niemand hat sich getraut, darüber zu reden. Ich war viele, viele Jahre im Schock und still. Ich wollte nichts fühlen, es war zu schmerzhaft."
In Deutschland lernte Helena andere Menschen kennen, die in ihren Heimatländern bewaffnete Konflikte oder Diktaturen erlebt hatten. Sie erkannte, dass sie mit ihrem Schmerz nicht alleine war.
"Da fing ich an, zu anerkennen, was mir passiert war. Auch ich war ein Opfer von politischer Gewalt – und ich musste endlich anfangen, darüber zu reden", sagt sie rückblickend.
Hilfe von einer couragierten Staatsanwältin
Erst redete Helena, dann begann sie zu schreiben. Bis ein Buch daraus wurde, mussten noch viele Jahre vergehen. Es waren Jahre, in denen die Autorin und ihre Familie nach und nach erkannten, dass 1985 im Justizpalast von Bogotá alles ganz anders gewesen war. Dass der Richter Carlos Urán nicht einfach im Kugelhagel gestorben war, wie die Behörden es ihnen weismachen wollten.
Eine couragierte Staatsanwältin fand Hinweise darauf, dass Helenas Vater von Militärs ermordet worden war. "Und dann beschloss sie, die Leiche meines Vaters zu exhumieren. Sie konnte beweisen, dass er gefoltert und außergerichtlich exekutiert wurde."
In der sommerlich-heiteren Atmosphäre des Berliner Cafés fällt es nicht leicht, sich ein solch brutales Verbrechen vorzustellen. Es ist schwer zu verstehen, warum kolumbianische Militärs einen Richter umbrachten – und gleichzeitig behaupteten, dass sie durch ihren Großeinsatz die Justizvertreter vor dem Angriff der Guerilla schützen wollten.
Als "unbequeme Stimme" beseitigt
Helena Urán Bidegain streicht sich die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht und blickt nachdenklich über die Spree. Dann erklärt sie, dass ihr Vater am Obersten Verwaltungsgericht arbeitete, das damals Menschenrechtsverletzungen des Militärs untersuchte. Außerdem hatte er Artikel veröffentlicht, in denen er Kolumbiens starke Militarisierung kritisierte: "Er war eine sehr unbequeme Stimme."
Der Mord an Carlos Urán ist nicht das einzige Verbrechen, das das Militär im Justizpalast von Bogotá beging. Mehrere Zivilisten, darunter Angestellte der Gerichtskantine, ließ es gewaltsam verschwinden. Im Jahr 2014 wurde der kolumbianische Staat vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen dieser Vergehen verurteilt.
Erinnerung und Wahrheitsfindung
In Kolumbien selbst gingen die verantwortlichen Militärs bisher straffrei aus. Immerhin: Die Gesellschaft weiß heute mehr über die schrecklichen Ereignisse von 1985. Helena Urán Bidegain hat mit ihrem Buch "Mi Vida y el Palacio" – zu deutsch: Mein Leben und der Palast – zur Erinnerung und Wahrheitsfindung beigetragen.
"Was mich auch beeinflusst hat, war die Tatsache, dass ich in Deutschland war. An jeder Ecke ist man hier mit der Geschichte konfrontiert, mit der Geschichte von dieser grausamen Zeit vom Nationalsozialismus", erklärt sie. "Ich weiß nicht, ob ich, wenn ich in Kolumbien geblieben wäre, auch ein Buch geschrieben hätte. Deutschland hat mir geholfen, zu dimensionieren, was mir passiert war. Und dass nichts davon normal war. Ich musste das erzählen."