Gesünder leben, klarer denken, mehr sehen
29:49 Minuten
Die Geschichte des Wanderns beginnt im 18. Jahrhundert - als Freizeitvergnügen des Bildungsbürgertums. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen galt es lange als spießig. Nun erlebt es einen neuen Boom. Warum aber treibt es die Menschen hinaus in die Natur?
Kuno Hottenrott, Sportwissenschaftler: "Gerade wenn man allein wandert, über viele Tage allein wandert, dann hat man ja wirklich die Möglichkeiten, über die Dinge ausgiebig nachzudenken, mit sich selber ins Klare zu kommen."
Claudia Selheim, Kuratorin der Ausstellung Wanderland: "Das Ziel vieler Wanderer ist natürlich die schöne Aussicht. Und auch das Wort Aussicht ist noch nicht immer in unserem Sprachgebrauch. Es kommt offensichtlich auch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert vermehrt auf."
Christine Thürmer, Langstreckenwanderin: "Es vergeht kein Tag, an dem ich abends nicht ein bisschen müde bin und vielleicht ein bisschen Muskelkater habe, aber wirklich glücklich in meinen Schlafsack krieche. Und vor Glück laut danke, danke schreien könnte."
Wolfgang Büscher, Schriftsteller und Wanderer: "Die Sinne und die Wahrnehmung, die werden einfach hungriger und aufmerksamer. Und die kriegen auch besseres Futter, je weiter man weg ist."
Weitwanderwege liegen im Trend
Wandern boomt. Nach einer Studie, die der Deutschen Wanderverband mit erarbeitet hat, sind rund 70 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung aktive Wanderer, eine erstaunliche Zahl. 20.000 Wegezeichner kümmern sich ehrenamtlich um rund 200.000 Kilometer Wanderwege. Wandern ist längst auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Rund acht Milliarden Euro lassen die Wanderer in den Regionen, wo sie zu Fuß unterwegs sind, in der Gastronomie, für Lebensmittel und Übernachtungen.
Ein Trend sind Weitwanderwege, von München über die Alpen nach Venedig zum Beispiel. Das Hallangerhaus liegt auf diesem Weg, im Karwendel, in Österreich, nicht weit von der bayerischen Grenze. Die Hütte auf rund 1800 Metern ist über verschiedene Zustiege erreichbar, ein einfacher Weg führt von Scharnitz aus an der Isar entlang, vorbei auch an den Quellen des Flusses, bis es dann steil bergauf geht.
"Ich gehe hier durch einen Wald, die Sonne scheint, es ist relativ steil – und ich muss schwitzen."
Der Wanderer und die Wanderin – warum gehen sie? Warum schwitzen sie freiwillig in der Sonne, werden nass im Regen? Was suchen sie? Die Natur? Ruhe? Sich selbst? Spirituelle Erlebnisse? Fliehen sie vor dem Alltag?
"Man muss sich vorstellen, dass Ende des 18. Jahrhunderts Leute, die es sich leisten konnten, vor allen Dingen mit der Kutsche gefahren sind oder auch das Pferd genutzt haben. Und auf der Straße waren Vagabunden unterwegs oder Handwerksgesellen und Soldaten. Aber die sind halt unterwegs gewesen, weil sie keine andere Möglichkeiten hatten sich fortzubewegen. Und das war eben noch nicht diese Freizeitbeschäftigung, wie wir sie heute kennen."
Sich in der Natur zu bewegen, zum Vergnügen – das ist eine relativ junge Idee, auch wenn die Menschheit schon immer mobil war, auch schon vor Jahrtausenden, erklärt Claudia Selheim, eine der Kuratorinnen der großen Ausstellung "Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns" im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
"Es ist ja auch so, dass in Grimms Wörterbuch beispielsweise der Begriff Wandern beschrieben wird. Und dort heißt es, dass das Wandern als das fröhliche Durchstreifen der Landschaft eben erst in den letzten Jahren aufgekommen ist."
Der Berg wird zum Sehnsuchtsort
Im 18. Jahrhundert hatte sich der Blick auf die Natur verändert. Sie wird nun, im Zeitalter von Aufklärung und Romantik, nicht mehr wie bis dahin vor allem als Bedrohung wahrgenommen, sondern weckt Forschergeist und Neugier. Aber lange gilt: Wer draußen unterwegs ist, um fröhlich die Landschaft zu durchstreifen, muss es sich leisten können, muss die Muße haben und frei sein von den Zwängen des Alltags. Also den gehobenen Schichten angehören, dem Adel oder dem vermögenden Bürgertum.
"Man sucht die Natur, es sind viele Künstler unterwegs, man denke an Caspar David Friedrich. Jeder kennt heute den 'Wanderer über dem Nebelmeer', auch dieses Blatt ist von Caspar David Friedrich. Da ist er in der Sächsischen Schweiz unterwegs. Die Bergkuppe ist der Sehnsuchtsort des Wanderers. Und das ist ja eben auch eine neue Entwicklung, dass der Berg zum Sehnsuchtsort wird."
Was auch mit dem Schweizer Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller zu tun hat, der schon 1729 ein schwärmerisches Gedicht über die Alpen schreibt, die bald zum Ziel für Reisende und Wanderer aus ganz Europa werden.
Wenn Titans erster Strahl der Gipfel Schnee vergüldet
Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt,
So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet,
Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt;
Und sein verklärter Blick die Nebel unterdrückt,
So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet,
Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt;
Zurück zur Natur - ein anderer einflussreicher Wegbereiter der romantischen Fußreise ist Philosoph Jean-Jacques Rousseau.
"Ein umherwanderndes Leben ist für mich ein Bedürfnis. Eine Fußreise bei schönem Wetter, und in einer schönen Gegend zu machen, ohne Eile zu haben und an deren Ziele meiner etwas Angenehmes wartet, ist von allen Arten zu leben am meisten nach meinem Geschmack", schreibt er in seinen autobiografischen "Bekenntnissen".
Berg-, Genuss- und Weitwanderer
"Jetzt bin ich zehn Minuten vor der Hütte und jetzt fängt es leicht an zu Regnen, ich geh mal etwas schneller, weil auch Gewitter angesagt sind."
Oben angekommen, beim Hallangerhaus, hat man einen weiten Blick ins Tal, rechts und links die Gipfel des Karwendels.
"Das Hallangerhaus gibt es seit 1901, das ist die zweite Hütte, 1914, 1915 erbaut, 1924 eingeweiht. Wir haben insgesamt 76 Schlafplätze."
Seit neun Jahren ist Hüttenwirt Thomas Lehner im Sommer mit seiner Frau hier oben am Fuß der Speckkarspitze. Weil es inzwischen so viele Wanderer und Wanderinnen in die Berge zieht, ist es sinnvoll zu reservieren, wenn man übernachten möchte. Besonders bei Hütten wie dieser, die auf dem Weitwanderweg München-Venedig liegen. Voll ist es, weil auch die jungen Leute wieder das Bergwandern entdeckt haben, erklärt der Hüttenwirt, für den es verschiedene Typen von Wanderern gibt:
"Es gibt natürlich den Bergsteiger, den Bergwanderer, der sehr erfahren ist und schon viel Bergerfahrung gesammelt hat auf seinen Wegen. Es gibt die Weitwanderer, die meist am Jakobsweg angefangen haben, sich dann über die Alpen versuchen, auf den verschiedenen Weitwanderwegen, die es halt mittlerweile gibt. Und es gibt einfach die Genusswanderer, die einfach mittlerweile das Wandern genießen, die Natur genießen und die uns einfach besuchen, weil es halt einfach ein schöner Freizeitausgleich ist."
Günter aus Peine, 66 Jahre alt, ist so ein Genusswanderer.
"Es gibt da sehr viele schöne Momente, die Hütten, das Flair auf den Hütten ist was ganz Besonderes, was ich sehr schätze. Man kommt da mit Leuten zusammen, mit denen man normalerweise nicht zusammenkommt. Die Leute sind auch irgendwie alle anders, als wenn man sie wahrscheinlich in der Stadt treffen würde, alle viel offener. Man wird gleich aufgenommen, man findet leicht Kontakt, das ist schon was besonderes, finde ich."
Mehr Eisenbahnnetz, mehr Wanderer
Das Hallangerhaus gehört zum Deutschen Alpenverein, der 1869 gegründet wurde, vor 150 Jahren, mit dem Ziel, die Bergwelt zu erschließen. "Die Berge und wir" heißt eine Ausstellung im "Alpinen Museum" in München, kuratiert von Friederike Kaiser vom Deutschen Alpenverein. Zur ersten Generalversammlung 1870 hielt der Münchner Schriftsteller Max Haushofer eine Festrede und zählte die Gründe auf, wieso man an den Alpen interessiert sei.
"Einmal ist es das Ästhetische, das Erleben der Schönheit. Dann ist es: die Berge zu erforschen. Dann ist es der Kitzel, sich in die Gefahr zu begeben, damals schon. Und dann ist es der Ruhm, damit angeben zu können. Das Spannende ist, dass diese Menschen, die so verschiedene Motive hatten, sich auf gemeinsame Zielsetzungen verständigten und die sind ganz pragmatisch. Es soll ein Wege- und Hüttennetz gebaut werden, damit man Unterkünfte hat und überhaupt Wege finden kann, wie man jetzt zu der Hütte und dann auf den Gipfel kommt. Schon im Jahr 1872, 1873 wird der Beschluss gefasst, fünf neue Hütten zu bauen und dann geht es wirklich Schlag auf Schlag. Um die Jahrhundertwende um 1900 stehen bereits 300 Hütten."
Wandern erfreut sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer größerer Beliebtheit. Ein wichtiger Faktor: der Ausbau des Eisenbahnnetzes. Erklärt Claudia Selheim vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.
"1914 ist das Netz der Bahn am dichtesten und war natürlich am besten auch für die Wanderer, da sind auch alle Nebenstrecken erschlossen. Ende des 19. Jahrhunderts gibt es dann schon die sogenannten Sonntagsrückfahrkarte, also verbilligte Fahrkarten um Arbeiterfamilien auch am Wochenende mal einen Ausflug aufs Land zu ermöglichen. Doch richtig geworben wurde dafür noch nicht. Die Bahn bewirbt bewusst Wanderer eigentlich in der Zwischenkriegszeit und das ist natürlich auch verständlich, weil nach 1918 dann auch Arbeitern ein regelmäßiger Urlaub zusteht und tatsächlich jetzt breitere Bevölkerungsschichten freie Zeit haben."
"Und erst ab da ist überhaupt zu merken, dass Arbeiter verstärkt in die Berge gehen und dann auch Mitglied im Alpenverein werden."
Die Wandervogel-Bewegung
Etwas früher, schon um die Jahrhundertwende, kommt in vielen Teilen Deutschlands die Wandervogel-Bewegung auf, eine frühe Jugendbewegung:
"Das waren Schüler, meistens Gymnasiasten, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollten, vor allen Dingen raus aus diesem bürgerlichen Ambiente ihrer Elternhäuser und es war eben eine Möglichkeit, rauszukommen aus den Städten, die natürlich schon auch von der Industrie belastet waren. Die Schlote qualmten."
Die Jugend entdeckt die Natur als Freiraum und Rückzugsort: Wanderungen und mehrtägige Ausflüge, Übernachtungen auf dem Land, in Gasthöfen oder bei Bauern in der Scheune. Eine heile Welt – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Gruppen verlieren an Mitgliedern. Gleichzeitig bilden die idyllischen Naturerlebnisse auch in den Kriegsjahren eine Gegenwelt zu den Todesnachrichten von der Front. Und:
"Viele der Wandervögel sind Lehrer geworden und haben dann auch das Wandern weiter popularisiert."
Das Wandern wurde in seiner Geschichte immer wieder auch politisch instrumentalisiert. Schon Turnvater Jahn unternahm 1810 Wanderungen mit gymnastischen Übungen. Die Jugend sollte so die Heimat kennenlernen und vorbereitet werden auf einen möglichen Krieg gegen Frankreich. Die Ertüchtigung der Jugend – darum ging es auch den Nationalsozialisten:
"Im Dritten Reich wurde zwar vorwiegend marschiert und nicht mehr so sehr viel gewandert, die Hitlerjugend greift aber trotzdem das Prinzip der Sternwanderung auf. Und zwar im ‚Adolf-Hitler-Marsch der deutschen Jugend‘ und zwar kommen da Knaben aus allen deutschen Gauen nach Nürnberg. Sie sollen eben auf diesem Marsch die Heimat erkunden und kennenlernen. In Nürnberg ziehen sie dann am Hotel ‚Deutscher Kaiser‘ an Adolf Hitler vorbei, gehen dann zum Reichsparteitagsgelände. Und natürlich ist das Ganze auch eine Vorbereitung für den geplanten Krieg. Von Nürnberg ziehen sie noch nach Landsberg am Lech, wo sie dann ‚Mein Kampf‘ in die Hände gedrückt bekommen."
"Für mich ist es befreiend, wenn ich am Ende des Tages an einer Hütte ankomme, fühle ich mich ganz locker. Es ist anstrengend, aber die Anstrengung ist es einfach wert, wenn man dann vor so einer Bergkulisse sitzt und dann geht die Sonne unter, das ist schon ziemlich cool." - Ina aus Dresden und Friederike aus Bremerhaven sitzen auf der Terrasse des Hallangerhauses, sie haben sich erst auf der Hütte kennengelernt. Beide gehen den Weg Richtung Venedig, Friederike 23 Etappen bis nach Belluno, Ina nicht ganz so weit. Und für beide ist es nicht die erste Weitwanderung.
"Am Anfang ist noch so das Gedankenkarussell mit Terminen und ich muss das und ich muss das, hab ich an das gedacht? Und das dreht sich immer langsamer. Und dann gibt es Streckenabschnitte, da denkt man einfach gar nicht, und das ist schön. Und manchmal kommt dann irgendwas vorbei, was vielleicht auch so lose Enden vorher waren und die fügen sich von alleine zusammen. Und dann ist plötzlich alles klar, vor allen die Distanz auf seinen Alltag schauen zu können und zu sehen, dass die ganzen Probleme, mit denen man sich sonst so im Alltag rumschlägt, gar nicht so wild sind. Dass man atmen kann, dass man was essen kann, dass man laufen kann, zwei gesunde Beine hat, dass das erst mal echt viel ist. Das wird einem dann auch erst mal so bewusst."
"Es ist einfach schön, weit weg von allem zu sein, in dieser Höhe, wirklich diesen Abstand zu gewinnen, zum Alltag, zum Job, zu allem was im alltäglichen Leben los ist. Sich auch tatsächlich die Zeit zu nehmen, für sich selber auch einfach zu gehen und die Gedanken so laufen zu lassen, ohne in festen Strukturen zu sein oder in festen Terminen sich beugen müssen. Ja, schafft viel Freiraum."
Wandern als Lebenselixier
Wandern ist gesund – für Körper und Psyche, das belegen auch Studien. Der Sportwissenschaftlers Kuno Hottenrott von der Universität Halle Wittenberg hat das Gesundheitswandern untersucht, eine Kombination von Wandern und Bewegungsübungen. Nach sieben Wochen zeigten sich deutliche Verbesserungen im Allgemeinzustand der Teilnehmer, angefangen bei niedrigerem Blutdruck:
"Aber auch auf der Ebene der Stimmung, die Vitalität, die Energiegeladenheit der Teilnehmer war nach dem Wandern deutlich höher als vorher. Und zusätzlich: Das Körpergewicht hat auch etwas abgenommen. Also eine Reihe von gesundheitlichen Effekten, die wirklich gar nicht so zu erwarten waren."
Wandern eigne sich gerade für Menschen, die sich bisher wenig bewegt haben und das ändern wollen.
"Es ist ja niederschwellig. Wandern ist ja viel, viel einfacher als Joggen oder Radfahren. Der Einstieg ist sehr einfach. Man braucht kein Equipment. Es ist für jeden möglich. Das ist eigentlich die beste Methode überhaupt, in den Sport einzusteigen."
Und: Wandern kann ähnlich wie Joggen auch bei psychischen Problemen wie leichten bis mittelschweren Depressionen helfen. Nützlich ist es auch als präventive Maßnahme:
"Beim Wandern sind wir abseits. Wir sind ja für uns. Wir nehmen viele Dinge wahr aus der Natur, sei es nun die Blätter, die Bäume, die Vögel, die Wege, die unterschiedlich sind. Das heißt, wir haben eine riesige Ablenkung, kognitive Ablenkung. Und zusätzlich wirkt natürlich auch der monotone Bewegungsreiz. Das heißt: Das Gehen hat auch gerade für die Gehirnfunktionen eine sehr positive Wirkung. Und es gibt eine ganze Reihe von Studien die nachweisen können, dass Wandern bestens geeignet ist bei depressiven Erkrankungen. Teilweise wirkt es besser als jedes Depressivum, wenn man regelmäßig wandert. Man schafft sich im Prinzip einen Tank, der gefüllt ist, um Alltagsstress besser verarbeiten zu können."
Auf der Suche nach dem Glück
"Mir hat es letztes Jahr auch schon Kraft für locker ein dreiviertel Jahr gegeben. Dann kam halt nochmal so viel Stress oben drauf, dass man urlaubsreif ist. Aber ich glaube, das ist auch ganz normal. Doch, ich merke, dass mir das jetzt schon nach zwei bis drei Tagen Kraft ohne Ende gibt, um dann aufgetankt in den weiteren Berufsalltag zu gehen."
"Dass man zurückdenkt: Mensch, du bist über die Berge gegangen, es war alles ganz weit weg und es war gar kein Problem. Warum machst du jetzt hier so ein riesen Fass auf? Ganz ruhig, easy und dann geht es auch."
Auf der Suche nach dem Glück – auch Pilgerwanderungen, eine Jahrhunderte alte Tradition, erleben seit Jahren einen Boom. Angefeuert auch durch Bücher wie Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg".
"Gehen auf der Suche nach etwas Ungreifbarem" Nnennt es die Kulturhistorikerin und Journalistin Rebecca Solnit in ihrem anregend vielschichtigen Buch "Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens."
"Der Wanderer, der sich eine Straße entlang zu einem fernen Ziel plagt, stellt eines der überzeugendsten und universellsten Bilder dessen dar, was Menschsein bedeutet, indem es den Einzelnen als klein und einsam in einer großen Welt zeigt, angewiesen auf die Kraft seines Körpers und seines Willens. Auf einer Pilgerfahrt ist die Reise von der Hoffnung durchdrungen, dass die Ankunft am konkreten Ziel einen spirituellen Gewinn mit sich bringen wird."
Auch ohne spirituellen Gewinn kann so eine Wanderung Kraft geben – und vielleicht neue Einsichten für den weiteren Lebensweg. Gehen und Denken gehören zusammen, nicht nur für den Philosophen Friedrich Nietzsche:
"So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern."
Beim Gehen kann man die Gedanken wandern lassen. Und man bekommt andere Zugänge zur Welt, was nicht nur Philosophen, sondern auch Schriftsteller anregte, sich auf den Weg zu machen. Zu den Klassikern gehören die "Reisen eines Deutschen in England" von Karl Philipp Moritz aus dem Jahr 1782 oder Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus" von 1802.
Ungewöhnliche Begegnungen
Der Journalist und Autor Wolfgang Büscher steht in dieser Tradition. Im Sommer 2001 bricht er in Berlin auf und geht zu Fuß nach Moskau, rund 2500 Kilometer. Eine Wanderung durch Raum und Zeit: Er ist der erste auf diesem Weg seit Jahrzehnten, die letzten vor ihm waren deutsche Soldaten – und die Spuren des Krieges sind für ihn auf dieser Reise immer noch präsent. Wandern als Grenzerfahrung, morgens los gehen ohne zu wissen, wo man abends schlafen kann, ohne zu wissen, wem man unterwegs begegnet.
"Es gab wirklich diese Momente, wo ich mich Lichtjahre fremd und fern von dem fühlte, wo ich war, wo ich das auch nicht verstanden habe, bis hin zu Wutanfällen auf gewisse Dinge und Situationen. Und auf der anderen Seite aber auch ganz, ganz erstaunliche Vertrautheiten, die sich einstellen können. Leute die einen aufnehmen, Leute, die einem helfen, Leute, zu denen man Vertrauen fasst. Das sind ja Begegnungen, die einem so in den Schoß fallen oder vor die Füße fallen. Und man muss dann einfach sehr schnell entscheiden, lasse ich mich darauf ein. Ja oder Nein. Also kann man da nicht so lange überlegen und deswegen ist diese Art von unterwegs sein auch gut für - ein altmodisches Wort - für die Charakterbildung, auch für die Herzensbildung. Weil es einen einfach zwingt, im Umgang mit Menschen sehr wach zu sein."
82 Tage dauert seine Wanderung durch Hitze, Regen und Nebel. Er notiert seine Erlebnisse und Begegnungen in Polen, Weißrussland, Russland – Länder im Umbruch mit ungewisser Zukunft. Neben der Wachheit ist das Ausgeliefertsein für Wolfgang Büscher die Essenz dieser Art des Wanderns:
"Das ist ja die Hoffnung, indem ich mich so sehr hergebe, so sehr, wenn man so will, ausliefere, dass was zurückkommt, dass das einfach eine Methode ist, um tiefer reinzukommen, als wenn ich da nur so eine Stippvisite mache. Oder meine Rückzugsmöglichkeiten auslebe, was beim Gehen nicht geht, da gibt es keine Rückzugsmöglichkeiten. Da bin ich wirklich von morgens bis abends und auch oft nachts in diesen Landstrichen wirklich sehr ausgeliefert."
Nach seiner Moskau-Wanderung war er auch in den USA unterwegs, wieder zu Fuß – auch wenn im Freunde vorher geraten hatten, nimm doch diesmal ein Motorrad.
"Es war aber gerade gut, in Amerika zu gehen, weil immer mal wieder Leute anhielten und mich ein Stück mitnahmen. Und all diese Leute hätte ich ja niemals kennengelernt, wenn ich Motorrad gefahren wäre. Dann hätte ich ein paar Hotelbesitzer und Tankwarte kennengelernt, aber sonst niemanden. Das war sozusagen Gold wert, dass ich einfach in viele, viele Pickups eingestiegen bin, die mich drei Meilen mitnahmen bis sie wieder in die 'dirt road' abgebogen sind zur Farm oder zur Ranch oder was weiß ich. Und das war gut, war gerade gut."
Der Wanderweg als Heimat
Während die meisten nach einer Wanderung wieder in ihren Alltag zurückkehren, machen andere das Wandern zu ihrem Alltag, so wie Christine Thürmer:
"Ich bin mittlerweile wirklich meines Wissens nach die meist gewandete Frau der Welt und habe mittlerweile 45.000 Kilometer zu Fuß auf dem Wandertacho."
Seit 2007 wandert sie immer weite Strecken, unter 1000 Kilometer fängt die 52-Jährige gar nicht erst an. Viele Menschen machen sich auf den Weg, weil sie in einer Lebenskrise sind und hoffen, auf dem Weg eine Lösung zu finden. Bei ihr sei es nicht so gewesen, sagt Christine Thürmer, auch wenn sie, als erfolgreiche Managerin, damals gerade die Kündigung erhalten hatte. Der Schlaganfall eines engen Freundes habe sie zum Nachdenken gebracht.
"Ich habe dann immer an seinem Bett überlegt, naja, wenn er jetzt, er war genau zehn Jahre älter als ich, wenn er vor zehn Jahren gewusst hätte, was ihn erwartet – hätte er weiter Karriere gemacht oder hätte er was ganz Verrücktes gemacht?"
Sie entscheidet sich, auszusteigen und zu wandern. Ihre erste lange Wanderung, ihr erster Trail ist von Mexiko nach Kanada, mit möglichst wenig Gepäck.
"Und erstaunlicherweise war mir bereits nach zwei Wochen klar: Das ist es jetzt. Mich hat es total fasziniert. Diese langen Distanzen, diese Leichtigkeit des Wanderns und auch diese Trail-Community. Da war mir klar: Das ist genau mein Leben, das mache ich nicht nur einmal. Das mache ich immer weiter."
Kleine Dinge, große Glücksgefühle
Die Trail-Communitiy – auf den Wanderwegen trifft sie immer wieder Menschen, mit denen sie ins Gespräch kommt, interessante Persönlichkeiten – um dann wieder alleine weiter zu gehen. Die Weitwanderin lebt von ihren Ersparnissen und wenn sie nicht wandert, schreibt sie Bücher über das Wandern. Doch was treibt sie an? Das Glücksgefühl, sagt Christine Thürmer. Wer so reduziert lebt wie sie, kann sich über vieles freuen, denn die Glücksschwelle ist niedriger. Da reicht ihr schon ein Schokoriegel nach der Wanderung oder eine heiße Dusche.
"Sie fühlen sich plötzlich total sauber und sie liegen plötzlich in weißen Laken in einem Bett, das sind einfach alles unglaublich körperliche und vor allen Dingen sehr direkte Glücksgefühle. Und die haben sie ja andauernd, sie brauchen nicht irgendwie schick essen gehen, sondern da reicht schon ein Schokoriegel. Das ist einfach total faszinierend und es kommt halt immer, immer, immer wieder. Und deswegen sage ich: Als ich los gewandert bin, habe ich überhaupt nicht das große Glück gesucht. Aber ich habe es trotzdem unterwegs gefunden. Und deswegen gehe ich auch immer wieder weiter, weil ich immer wieder dieses Glücksgefühl draußen habe."
Der Wein- und der Bier-Wanderweg
Das "fröhliche Durchstreifen der Landschaft" ist schon lange kein elitäres Freizeitvergnügen mehr. Jede Region in Deutschland versucht, möglichst viele Touristen anzuziehen. Claudia Selheim, die Kuratorin der Ausstellung "Wanderland" in Nürnberg:
"Es gibt Wanderwege wie den Wein-Wanderweg, den Bier-Wanderweg, es gibt den Caspar-David-Friedrich-Weg. Das ist ein Trend, der in den letzten 20 Jahren enorm zugenommen hat. Das Wandern wird immer diverser. Es gibt Wanderungen für Demenzkranke, es gibt aber eben auch Spezialwanderungen, Nachtwandern, Wandern ohne Ende ist eigentlich mittlerweile in Sicht."
Und auch das spießige Image von Karohemd und Kniebundhose hat Wandern schon lange verloren, zur Freude der Outdoor-Industrie. Funktionskleidung sieht man überall, auch in der Stadt, so als wollten die Träger signalisieren, jederzeit bereit zu sein, in die Wildnis aufzubrechen. Die Anziehungskraft der Berge ist ungebrochen, der Deutsche Alpenverein hat heute, 150 Jahre nach seiner Gründung, rund 1,3 Millionen Mitglieder.
"Ich persönlich bemerke, dass seit sechs, sieben Jahren das wirklich immer extremer wird, dass es immer schwieriger wird, auch auf Hütten überhaupt einen Schlafplatz zu bekommen."
In der Ausstellung "Die Berge und wir", die Friederike Kaiser kuratiert hat, sind auch Instagram-Posts zu sehen.
"Immer sind es kleine Menschen in einer großartigen Natur, die im Grunde ein sehr romantisches Motiv beinhalten. Caspar David Friedrichs 'Wanderer über dem Nebelmeer', wo ja auch der Protagonist von hinten gezeigt wird, der sozusagen die großartige Natur anschaut. Eigentlich hat sich von dieser Pose her nichts verändert in der Grundaussage. Mich hat eigentlich vor allem überrascht, wie stark dieses Motiv gerade auf Instagram wieder im Kommen ist. Und wirklich dieses sehr romantische Motiv und nicht 'Wir machen eine Brotzeit am Gipfel' oder irgendwie so was, sondern wirklich kleiner Mensch und große unberührte Natur."
Am nächsten Morgen starten Ina und Friederike früh vom Hallangerhaus Richtung Süden. Ich muss abends wieder nach Hause und gehe deswegen nur noch auf die Sunntigerspitze, ein Fußweg von rund 1,5 Stunden. Auf dem Weg laufe ich durch Wiesen, am Ende ein wenig im Fels. Oben angekommen, auf 2321 Metern: Stille.
"Und es stimmt, alles ist weit weg. Eigentlich könnte man auch hier sitzen bleiben. Für immer über den Dingen."
Die anderen Berggipfel sind in Wolken, nur kurz kommt die Sonne durch.
"Und wenn ich dann unten das Hallangerhaus sehe, wo ich übernachtet habe, und die Pfade, die weg führen, hoch, Richtung Süden, da würde ich jetzt natürlich auch gerne gehen, weitergehen und nicht zurück ins Tal. Aber geht halt gerade nicht anders. Aber das ist ja das Schöne am Wandern, dass man sich neue Ziele stecken kann, wenn man unten ist, hört nie auf, kann man immer weiter machen, gibt noch viel zu sehen."