Die Kraft des Wortes
Mit seinem Roman "Venushaar" ist dem russischen Autor Michail Schischkin ein ebenso sprachgewaltiges wie komplexes Meisterwerk gelungen. Es erzählt die Geschichten so genannter Gesuch-Steller, Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, die in der Schweiz um Asyl bitten.
Sie erzählen von ihrer Vergewaltigung im Kinderheim oder von der Ermordung der eigenen Mutter: Mit entsetzlichen Berichten von Leid und Verfolgung versuchen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion Asyl in der Schweiz zu ergattern. Die teils erfundenen, teils wahren Geschichten der "GS" (Gesuch-Steller) überprüft der Beamte Peter Fischer, ein unerbittlicher Petrus am Eingang zum Paradies. Assistiert wird Fischer vom "Dolmetsch", der zentralen Figur des Romans und dem Alter ego des Autors. Er ist ein Russe, der in der Schweiz lebt und sein Geld als Übersetzer in der Einwanderungsbehörde verdient. Die Arbeit hinterlässt seelische Wunden und relativiert das Bild vom Paradies: Selbst im goldenen Westen ist es unerreichbar.
"Venushaar", der Roman von Michail Schischkin, erzählt von Konflikten und Kriegen an den unterschiedlichsten Orten der Welt. Lebensgeschichten, Epochen und Orte, Traum und Realität, Erzählrhythmen, Perspektiven, Sprach- und Stilebenen ergeben ein dichtes Geflecht, ähnlich einem Frauenhaarfarn namens "Venushaar". Es überwuchert Mauern und Zeiten.
Der namenlose Dolmetsch liest in den Kaffeepausen zwischen den Befragungen seiner Landsleute in der "Anabasis" von Xenophon, der erzählt, wie er im 4. Jahrhundert vor Christus nach dem Tod des Kyros und der blutigen Schlacht 10.000 griechische Männer in die Heimat führt. Fiktive Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefe von Bella Jurjewa (1899-2000), einer russischen Romanzen-Sängerin, schildern den Ersten Weltkrieg und die Bürgerkriegsjahre in der Sowjetunion.
Der Dolmetsch hatte vor seiner Emigration Jurjewas Aufzeichnungen kopiert, um eine Biographie zu verfassen. Das gescheiterte Buchprojekt ist eine von vielen Episoden seiner Vergangenheit, die mit Schulzeit, Jugend und einem in der Heimat zurückgelassenen Sohn die dritte Ebene des Romans bilden. Auch in der Schweiz gibt es ein Kind aus der gescheiterten Beziehung zu Isolde, einer Schweizer Slavistin.
Zwischen diesen drei Erzählebenen finden sich, immer ausufernder erzählt, die Geschichten der Gesuch-Steller. Ihre Schicksale sind glaubwürdig bis ins letzte Detail. Sie machen die Frage nach wahr oder falsch hinfällig: "Die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! Wenn sie im Kinderheim nicht den mit den aufgeworfenen Lippen vergewaltigt haben, dann einen anderen!" Es ist die Kraft des Wortes, der Literatur, die Michail Schischkin in seinem Buch beschwört. Ihm vorangestellt hat er ein Zitat aus dem Alten Testament: "Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen."
"Venushaar" ist ein so kunstvolles wie komplexes Meisterwerk. Andreas Tretner hat es makellos ins Deutsche übertragen.
Rezensiert von Olga Hochweis
Michail Schischkin: Venushaar
Roman, aus dem Russischen von Andreas Tretner
DVA, München 2011
555 Seiten, 24,99 Euro
"Venushaar", der Roman von Michail Schischkin, erzählt von Konflikten und Kriegen an den unterschiedlichsten Orten der Welt. Lebensgeschichten, Epochen und Orte, Traum und Realität, Erzählrhythmen, Perspektiven, Sprach- und Stilebenen ergeben ein dichtes Geflecht, ähnlich einem Frauenhaarfarn namens "Venushaar". Es überwuchert Mauern und Zeiten.
Der namenlose Dolmetsch liest in den Kaffeepausen zwischen den Befragungen seiner Landsleute in der "Anabasis" von Xenophon, der erzählt, wie er im 4. Jahrhundert vor Christus nach dem Tod des Kyros und der blutigen Schlacht 10.000 griechische Männer in die Heimat führt. Fiktive Tagebuch-Aufzeichnungen und Briefe von Bella Jurjewa (1899-2000), einer russischen Romanzen-Sängerin, schildern den Ersten Weltkrieg und die Bürgerkriegsjahre in der Sowjetunion.
Der Dolmetsch hatte vor seiner Emigration Jurjewas Aufzeichnungen kopiert, um eine Biographie zu verfassen. Das gescheiterte Buchprojekt ist eine von vielen Episoden seiner Vergangenheit, die mit Schulzeit, Jugend und einem in der Heimat zurückgelassenen Sohn die dritte Ebene des Romans bilden. Auch in der Schweiz gibt es ein Kind aus der gescheiterten Beziehung zu Isolde, einer Schweizer Slavistin.
Zwischen diesen drei Erzählebenen finden sich, immer ausufernder erzählt, die Geschichten der Gesuch-Steller. Ihre Schicksale sind glaubwürdig bis ins letzte Detail. Sie machen die Frage nach wahr oder falsch hinfällig: "Die Leute sind vielleicht nicht echt, aber die Geschichten sind es! Wenn sie im Kinderheim nicht den mit den aufgeworfenen Lippen vergewaltigt haben, dann einen anderen!" Es ist die Kraft des Wortes, der Literatur, die Michail Schischkin in seinem Buch beschwört. Ihm vorangestellt hat er ein Zitat aus dem Alten Testament: "Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen."
"Venushaar" ist ein so kunstvolles wie komplexes Meisterwerk. Andreas Tretner hat es makellos ins Deutsche übertragen.
Rezensiert von Olga Hochweis
Michail Schischkin: Venushaar
Roman, aus dem Russischen von Andreas Tretner
DVA, München 2011
555 Seiten, 24,99 Euro