Die Krise und ich

Typanalyse

Vom Journalismus, wie er bislang betrieben wurde, kann man nicht mehr leben. Aber wovon dann? Zeit für eine Typanalyse.
Ich bin ein Wechsler, jedenfalls laut Persönlichkeitstest. Dieser Persönlichkeitstest ist die Grundlage für einen Fünf-Tage-Workshop mit dem Titel "Selbstvermarktung für arbeitslose Akademiker". Wechsler langweilen sich schnell, brauchen immer was Neues und haben den Kopf voller Ideen, erklärt der Dozent. Klingt gut. Aber! Der Wechsler im Extrem ist ein Chaot und kriegt nix mehr gebacken. Fast alle Teilnehmer sind Wechsler, was ganz plausibel scheint. Vor lauter Abwechselbedürfnis haben wir keine Arbeit mehr. Nur M., mein schwuler Sitznachbar, ist Distanzler, das sind die Menschen, die zum Chef-Sein geboren sind, sagt der Dozent. M. fragt, wie denn in diesem Fall die pathologische Form aussähe: Elfenbeinturm, kommt's zurück. Isolation. M. zuckt. Ihm entfährt ein kleiner Seufzer "Oh". Als hätt' er's befürchtet.
Zur Auswahl stehen noch die Typenkategorien Nähe (Extrem: Symbiose, Selbstaufgabe, Krankenschwester) und Dauer (Extrem: Erstarrung, der ewige Buchhalter). Aus den Werten für jede Eigenschaft ist auf dem Testbogen ein Viereck zu bilden. C., der rumänische Ingenieur, hat ein beinahe gleichschenkliges Gebilde auf seiner Skala eingezeichnet - ein ausgewogener Charakter, bedeutet das. Dabei kann C. nur verschwommen Deutsch, will auf keinen Fall von Hamburg weg und hat ein Foto auf seinem Lebenslauf - massive Brust, rasierter Schädel - darauf sieht er aus wie ein sowjetischer Plansollerfüller.
Wir gehen auch die Antreiber durch: Mach schneller, Mach keine Fehler, Mach's besser. Bei annähernd 40 Punkten droht Depression, Burnout, Infarkt. Der freundliche Dozent hatte gerade einen.
Unter seinem Hemd brummt alle zehn Minuten ein Apparat, der den nächsten verhindern soll. Der Co-Dozent erzählt uns von seiner Scheidung, der ein Herzinfarkt folgte. Die Geschäftsführerin hat ein Glasauge und das Institut hat seinen Spitznamen weg: Heart-Break-Hotel.
Im Kurs bin ich die einzige Arbeitssuchende. Das heißt, ich habe noch was zu tun, aber zu wenig. Zu wenig Aufträge für Buchkritiken, von denen ich mal gelebt habe. Das ist vorbei. Jetzt mach ich, was ich kriegen kann.
Zum Beispiel im Januar. Gleich zu Jahresbeginn drei Tage lang Feuerwehrmänner in Rhetorik unterrichten. Dann hat mich eine Fotografin auf der Straße angehauen, ob ich nicht Frisurenmodell für Bild der Frau sein will. Thema: graue Haare. Klar, ich will. Ich muss wollen. Eine nette Türkin fuhr mir ins Auto. Der Lackschaden brachte fast den Gegenwert der Miete auf die Hand, außerdem eine Packung "After eight" und - bei einem Kaffee - interessante Einblicke in den Berufsalltag einer Bankberaterin, die es kaum noch aushält, laufend Omas übers Ohr zu hauen. Dann: Eine Woche Pressereise durch Ostdeutschland auf den Spuren von Carl Philipp Emanuel Bach. War zwar kalt, aber - psst - es gab gutes Essen für lau. Allerdings: keine Einnahmen. Journalistisch hab ich auch gearbeitet: Eine Filmkritik für den NDR. Dann mein absoluter Lieblingsjob: Jeden Monat moderiere ich zwei öffentliche Literaturdebatten. Im Januar ging es um Christa Wolf und Fatou Diome. Termin und Titel gebe ich vor, sie stehen in der Zeitung. Jeder, der das Buch gelesen hat, kann kommen und mitreden. Insgesamt 44 Leute haben das im Januar getan. Ein Buch gekauft, gelesen, Eintritt gezahlt, auf den Fernsehsessel verzichtet. Diesen Jab hab ich mir ausgedacht. Würde ich gerne jeden Abend machen.
Der laufende Monat sieht auch noch ganz rosig aus. Außer diesen Kolumnen hier, schreib ich eine Buchbesprechung für den ORF, gebe einen Rhetorikworkshop und veranstalte wieder die beiden Literaturabende.
Aber im März steht noch kaum etwas auf dem Plan.
Literaturkritik als Ehrenamt
Journalismus, wie er bisher betrieben wurde, ist kein Geschäftsmodell mehr, schreibt Constantin Seibt im neuen "Journalist". Stimmt. Und zwar vor allen Dingen für Inhaltelieferanten wir mich. Die Redakteurin der "Neuen Züricher Zeitung" bedauert sehr, dass sie das Zeilenhonorar schon wieder nach unten korrigieren muss - auf nicht mal 200 Euro für eine halbe Zeitungsseite. Das letzte Mal, als ich für die "Süddeutsche" schrieb und nach dem Honorar fragte, antwortete die Redakteurin, das wisse sie nicht. Danach frage niemand mehr. Es sei ein Privileg, für die "Süddeutsche" zu arbeiten. Mein Redakteur beim Österreichischen Rundfunk sagt nicht Privileg, er sagt Ehrenamt. Literaturkritik sei heutzutage ein Ehrenamt. Einer vom Bayerischen Rundfunk hingegen meint, bald würden eh die Oberstufenlehrer die ganze Kulturkritik übernehmen - Literatur, Theater, Musik, Ausstellungen. Sind ja schließlich auch studierte Leut.
Journalismus ist kein Geschäftsmodell mehr. Und Literatur, sagt der amerikanische Großschriftsteller Philipp Roth, wird in zehn Jahren für die Menschen so attraktiv sein wie ein lateinisches Gedicht heute. Meine Mutter, mit der ich jeden Sonntag telefoniere, kennt Philipp Roth nicht, ist aber seit ein paar Jahren ganz grundsätzlich gegen Untergangsgerede jeder Art. "Ja schon", sie muss zugeben: "Der Hanauer Anzeiger, der ist schon dünner als früher. Aber die Anzeigen sind sogar mehr geworden." Ich frage nach, ob sie sich da nicht täusche. "Nö, hier … ", ich höre, wie sie nach der Zeitung angelt und blättert - "fünf Seiten Todesanzeigen, und das ist jeden Samstag so, mindestens."
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