Die Krise unseres Humankapitals

Von Inge Kloepfer |
Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Eurokrise - dies alles zusammen genommen ist nichts gegen das, was Deutschland in den nächsten Jahrzehnten tatsächlich in Atem halten wird. Unser Land steuert mit berechenbarer Sicherheit auf eine Krise seines Humankapitals zu.
Das bedeutet, dass die Menge an Wissen, an Leistungsfähigkeit, an Innovationskraft und Kreativität der Menschen in Deutschland im internationalen Vergleich abnehmen wird. Diese Krise wird uns ärmer machen und weniger wettbewerbsfähig, sie wird die Vermögen von Millionen Menschen massiv entwerten, sie wird die Sozialsysteme und damit die gesellschaftliche Solidarität erschüttern. Sie wird die Verhältnisse der Generationen dramatisch verändern. Warum?

Weil sich derzeit drei Entwicklungen gleichzeitig vollziehen, die sich in ihren negativen Auswirkungen gegenseitig verstärken. Erstens: Deutschland befindet sich wie alle Länder im globalen Produktivitätswettbewerb. Zweitens: Die Bevölkerung altert dramatisch und schrumpft. Drittens: Die Gesellschaft leistet sich seit Jahren einen Anteil von 20 bis 25 Prozent junger Menschen, die die Schule unvorbereitet für die Arbeitswelt verlassen.

Eine alternde und schrumpfende Gesellschaft hat es so oder so schwer, im Wettbewerb um Produktivität zu bestehen. Eine, die es Jahr für Jahr fertigbringt, auf ein Viertel der jungen Menschen zu verzichten und ihnen die Chancen auf Teilhabe, Aufstieg und Eigenständigkeit zu versagen, wird bald verloren haben.

Das ist der Hintergrund, vor dem man über die Notwendigkeit von Bildungsausgaben diskutieren muss. Das Ergebnis ergibt sich von selbst. Wir werden noch Milliarden in die Chancengerechtigkeit der Benachteiligten investieren müssen. Bleiben wir noch einen Moment in der ökonomischen Terminologie: Die gesellschaftlichen Investitionen mit der höchsten Rendite sind in rohstoffarmen Ländern genau die in die Köpfe, in die Talente und Fähigkeiten der Menschen. Und das auf der ganzen Bandbreite. Kindliche Frühförderung, Kindergarten, Schule, Berufschule, Fachhochschule, Universität, berufliche Weiterbildung - hier kann und darf unsere Gesellschaft nicht sparen.

Gleichwohl verbietet dieses Plädoyer nicht einen kritischen Blick auf die Verteilung der 120 Milliarden Euro, die sich Deutschland seine Bildung und Forschung jährlich kosten lässt. Wird das Geld richtig investiert? Offenbar nicht, denn sonst gäbe es jenes seit Jahrzehnten konstante Viertel an chancenlosen Jugendlichen nicht, die die Wirtschaft nicht will und die Gesellschaft einfach ausblendet.

Längst ist bekannt, dass in Deutschland die Bildungsmilliarden nicht an den Stellen ausgegeben werden, wo sie den höchsten Nutzen stiften. Hier stimmen die Verhältnisse nicht. Zu viel für Spitze des Bildungssystems, zu wenig für die Basis. Zu viel fließt in die höhere Schulbildung und die Forschung, zu wenig in die frühe Förderung vor allem der Kinder sozial benachteiligten Schichten, die an den Übergängen unseres Bildungssystems immer wieder aussortiert werden. Zu stark profitieren die Mittel- und Oberschichten, zu wenig die Kinder der Unterschicht.

Investitionsmöglichkeiten gäbe es viele: Mehr und bessere Kindergärten und Krippen mit einem Angebot auch für Eltern vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen und Gegenden. Ganztägige Grundschulen mit umfassenden Möglichkeiten, dort auch Sport, Musik, Theater und vieles mehr zu betreiben. Gleiches gilt für die weiterführenden Schulen, vor allem die Haupt- und viele Gesamtschulen.

Dringend notwendig ist die bessere Ausbildung von Erziehern und Lehrern. Und nicht zuletzt sollte endlich darüber nachgedacht werden, was 13 Wochen unterrichtsfreie Zeit im Jahr vor allem für die Kinder aus den unteren Schichten bedeuten. Eine Zeit nämlich, in der sich nachgewiesener Maßen Lernrückstände gegenüber den Kindern anderer Schichten aufbauen, die sie ein weiteres Mal um ihre Chancen bringen.

Eine Bemerkung zum Schluss: Die Chancenlosigkeit der Kinder aus unteren Schichten darf sich das schrumpfende Deutschland nicht leisten. Denn sie ist millionenfach individuell eine Katastrophe, moralisch ein Skandal, ökonomisch ein Desaster. Hier kann und darf Deutschland nicht sparen.


Inge Klöpfer, Jahrgang 1964, studierte Volkswirtschaftslehre und Sinologie. 1992 wurde sie Mitglied der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2001 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Bei Hoffmann und Campe erschien 2005 ihr Bestseller über die Verlegerin Friede Springer, für den sie mit dem Preis "Wirtschaftsjournalistin des Jahres 2005" ausgezeichnet wurde. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.
Inge Klöpfer
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