Aus den Tiefen der Subkultur
In den Fetisch-Klubs und der Avangarde-Szene Londons fand die Künstlerin Jo Brocklehurst ihre Motive: stolze Dragqueens oder Punks in Nietenwesten. Das Londoner "House of Illustrations" zeigt ihre Zeichnungen nun in der Ausstellung "Nobodies and Somebodies".
Halbnackte Punks in Nietenwesten. Stachelbewehrte Figuren in Lack und Leder. Und stolze Dragqueens. Das war die Welt, die Jo Brocklehurst inspirierte. Die 2006 gestorbene britische Zeichnerin liebte die Subkulturen, die Städte wie London in den 70ern, 80ern und 90ern zu bieten hatten.
Das Londoner "House of Illustrations" hat nun Zeichnungen der Künstlerin aus diesen Jahren zusammengetragen. Der Titel: "Nobodies and Somebodies". Über Brocklehursts Leben lernt man dort wenig. Sie hielt sich bedeckt - im wahrsten Sinne des Wortes, sagt Oliva Ahmad, der Kuratorin der Ausstellung.
"Sie war eine sehr schöne Frau. Aber sie trug immer eine Sonnenbrille. Manchmal mehr als eine. Oft trug sie auch eine blonde Perücke. Sie hatte eigentlich dunkle Haare - sie war halb britsch, halb srilankisch. Sie trug immer dieses Kostüm. Es gab also auch diese visuelle Mysterium."
Doch Brocklehursts Bilder sprechen für sich. Sie wirken energiegeladen. Als hätten sie die Schnelligkeit, mit der die Künstlerin zeichnete, gespeichert.
"Sie zeichnete jeden Tag. Und sie war rasend schnell. Sie studierte an der St. Martins Kunsthochschule hier und lernte bei Elizabeth Suter, einer bahnbrechenden Modezeichnerin. Und dort übten sie Live-Zeichnen. Sie fingen mit einer Einer-Minuten-Zeichnung an, dann folgte eine Fünf-Minuten-Zeichnung, dann eine 20-Minuten-Zeichnung. Aber Jos Freunde sagen: Auch wenn sie eine Stunde Zeit hatte, zeichnete sie so schnell, als hätte sie nur drei Minuten."
Oft zeichnete sie direkt vor Ort
Brocklehursts Figuren haben muskulöse Arme, volle Lippen und knochige Hände. Mehr als ein Kritiker dachte bei ihrem Stil an den Österreicher Egon Schiele. Die frühen Zeichnungen der Britin wirken fast zart, zurückgenommen. Doch damit ist in den 80ern Schluss. Brocklehurst entdeckt Anarchisten und Punks.
Es waren die Zeichnunge von Punks im London der 80er-Jahre, die Brocklehurst berühmt machten. Doch ihre Suche nach Lebensweisen jenseits der vermeintlichen Norm ging weiter. In den 80ern und 90ern zog es die Künstlerlin in die Schwulen- und Fetisch-Klubs der Stadt. Nicht selten zeichnete sie direkt vor Ort. Es wäre sicher leicht gewesen, das was sie dort sah, als grotesk darzustellen. Aber wie alle ihre Bilder sind auch die Zeichnungen aus dieser Zeit voller Zuneigung. Brocklehursts Bilder zeigen keine Freaks. Sie zeigen strahlende Superhelden und müde Krieger.
"Sie hatte eine unglaublich Empathie und Sensibilität. Sie schaute sich Menschen mit ungewöhnlichem Kleidungs- und Lebensstilen an. Aber sie interessierte sich auch für deren innere Haltung. Sie machte keine Schnappschüsse, die die Mode der Zeit festhalten sollten. Sie sah die Menschen."
"Sie war bereit in die dunkelsten Ecken hinabzusteigen"
Von dem London, das Brocklehurst über Jahrzehnte so faszinierte, scheint heute wenig übrig: London ist eine überteuerte Mega-City dominiert von der Finanzindustrie. Wenige Meter von der Galerie werden Luxusappartements angepriesen. Zumindest gefühlt ist hier kein Platz mehr für Subkulturen. Würde Jo Brocklehurst heute ihr Kunststudium hier beenden, wären solche Bilder noch möglich? Kuratorin Ahmad ist da optimistisch.
"Ich denke, sie suchte aktiv nach diesen Subkulturen. Sie passierten ihr nicht einfach. Und sie war bereit in die tiefsten, dunkelsten Ecken hinabzusteigen. Die Fetisch-Clubs und Avangarde-Szene. Und ich glaube solche Subkulturen gibt es immer noch. Sie würde losziehen und sie finden."