Sprecher: Anika Mauer, Frank Arnold, Manuel Harder und Markus Hoffmann
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Dorothea Westphal
Industriebrachen und Punk
31:39 Minuten
Rijeka ist bei Kroatiens Nationalisten nicht beliebt: Zu klar demonstriert die Stadt ihre Mulitkulturalität und die Bereitschaft, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen. Gilt das Kulturjahr-Motto "Hafen der Vielfalt" auch für Rijekas Literaturszene?
"Wir sind Winteraustreiber. Mit unseren Masken und unseren Glocken sind wir eine Art Armee. Wir sind es, die jedes Jahr die kalten Dämonen aus der Stadt treiben."
Rund um Rijeka ist die Tradition der Winteraustreiber seit Jahrhunderten verwurzelt.
Wenn die Stadt erwacht, wird sie winterdämonenfrei und Kulturhauptstadt Europas sein. Noch ahnt hier niemand, dass ein Virus schon bald alle Planungen für das Kulturhauptstadtjahr zu Makulatur machen wird.
"Hafen der Vielfalt"
Im 18. Jahrhundert, als Rijeka noch Fiume hieß, entwickelte sich die Stadt zur wichtigsten Industriestadt der österreichisch-ungarischen Monarchie. Menschen aus allen Ecken des halb Europa umfassenden Reiches strömten zum "Hafen der Vielfalt". Das ist der Slogan, den sich die Stadt für das Kulturhauptstadtjahr gewählt hat.
Die Philosophie- und Geschichtslehrerin Sandra Bandera führt Touristen durch ihre Stadt. Rijeka sei Kroatiens unbekannteste Küstenstadt. Ihre Schönheit, ließe sich erst auf den zweiten Blick entdecken.
"Ich möchte ihnen unseren Fischmarkt zeigen. Für uns ist das ein sehr spezieller Ort. Wir lieben es, hier einzukaufen. Auf dem Fischmarkt geht es weniger um den Einkauf, als um unsere Lebensart, es ist eine Art Folklore".
Der Fischmarkt wurde zur Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie errichtet. Damals habe Rijeka unter ungarischer Verwaltung gestanden. Noch bevor in Budapest der erste überdachte Markt entstand, hätten die Ungarn dieses prächtige Jugendstilgebäude erbauen lassen.
Titos Yacht
Der Publizist und Stadthistoriker Velid Djekic ist auf dem Weg zu einem der wichtigsten Projekte der Kulturhauptstadt. 117 Meter lang und 15 Meter breit dümpelt an einem Werftkai ein rostiges Ungetüm.
"Es war zuerst ein italienisches Schiff, wurde 1938 in Genua gebaut. Als Bananenfrachter. Da aber ein Jahr später der Zweite Weltkrieg anfing, wurde es zum Minenleger umfunktioniert. Nach der Kapitulation Italiens haben die Deutschen das Schiff übernommen. Sie gaben ihm den Namen Kiebitz. Es wurde 1944 von Alliierten bombardiert und ist im Hafen von Rijeka gesunken".
1949 wurde das Schiff geborgen, instandgesetzt und drei Jahre später zur Yacht von Staatschef Tito umgebaut. Der taufte es auf den Namen "Galeb" – "Möwe". 1958 stach Tito mit der Yacht in See, um auf einer zehntägigen Reise die Bewegung der Blockfreien als politisches Gegengewicht zur NATO und dem Warschauer Pakt zu gründen.
Nach Titos Tod, erzählt Velid Djekic, wechselte die Yacht mehrfach ihre Besitzer, bevor die Stadt den bereits geplünderten Kahn kaufte. Seitdem rostet er weiter vor sich hin. Fünf Millionen Euro sollen nun investiert werden, um aus dem Schiff ein Museum zu machen. Es hätte das Zeug, ein wahrer Besuchermagnet zu werden.
Stadt mit einem vernarbten Gesicht
Zeljko Monjac ist Schiffsbauingenieur und arbeitet in einem der letzten Schiffsbaubetriebe von Rijeka. Im Dock liegt ein neuer Schüttgutfrachter für die großen Seen in Amerika.
Rijeka wirkt auf den ersten Blick spröde und abweisend. Von der Brücke des Frachters sieht man Beton und Baubrachen, Gerüste und Geröll.
"Wir sind sehr stolz", sagt Zeljko Monjac. "dass alles so organisiert wurde, dass wir in diesem Jahr Kulturhauptstadt sind und dass sich die Stadt so präsentiert, wie sie ist. Als offene Stadt mit dem vernarbten Gesicht ihrer wechselvollen Geschichte. Und dass man das Industrieerbe inzwischen auch als Kulturerbe begreift".
Geburtsstadt des jugoslawischen Punks
In den 1980er-Jahren wuchs in Rijeka eine Jugend auf, die ausbrechen wollte und es doch nicht konnte. Wer von der Werft aus auf die Stadt blickt, versteht plötzlich, warum Rijeka zur Geburtsstadt des jugoslawischen Punk wurde. Warum kein anderer Sound besser zu dieser Stadt passt.
"Vor dem Zweiten Weltkrieg war Rijeka ein kulturelles Zentrum. Eine offene Stadt, in der sich die Kulturen vermischten. Aber als wir hier aufwuchsen, war Rijeka nur noch eine Schlafstadt für Arbeiter. Das hat uns als Jugendliche geprägt."
Pavica Caprijan, alias Vim Zola. Die Sängerin der Band PARAF erzählt, wie die Band den Aufstand plante:
"Wir hatten damals nur einen Wunsch: Wir suchten eine neue Identität. Wir rebellierten gegen die Langeweile, die sich breitmachte, und standen sofort unter dem Druck des damaligen Regimes."
Dass es in Rijeka bis heute noch Punk- und dutzende Rockbands gibt, hat auch mit den jugoslawischen Zerfallskriegen zu tun und dem Chaos, das sie hinterließen, mit der De-Industrialisierung und dem Wegzug von 70.000 Einwohnern. In welcher Musik wäre die vernarbte Seele der Stadt besser aufgehoben als im Punk, fragt Pavica.
Das faschistische Trauma
Sandra Bandera führt die Touristengruppe an einen Ort, der symbolisch für das größte Trauma der Stadthistorie steht. Es habe sich, erklärt Sandra Bandera, tief in ihre eigene Familiengeschichte eingebrannt.
"Meine Großmutter wurde 1913 geboren. Sie war Bürgerin der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg war Rijeka für vier Jahre eine eigene Republik. Nach dem Willen der Siegermächte sollte sie an das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen fallen. Das wollte der italienische Dichter D’Annunzio nicht hinnehmen. Er marschierte mit 2000 Freischärlern in die Stadt ein und gründete die Republik von Carnero, bis er nach 16 Monaten von seinen eigenen Landsleuten vertrieben wurde. Mein Vater wurde dann als italienischer Staatsbürger geboren. 1943 kamen die Deutschen, 1946 Titos Partisanen. Als meine Großmutter 2008 starb, war sie kroatische Staatsbürgerin und hatte, ohne die Stadt je verlassen zu haben, in sieben Staaten gelebt."
Tea Perinic ist eigentlich Kuratorin des Maritim-Museums von Rijeka. Vor dem Hintergrund des einhundertsten Jahrestages der Besetzung der Stadt konzipierte sie eine Ausstellung. In einem Salon mit schweren dunklen Möbeln empfing der "poeta soldato" seine Gäste. Von hier trat er hinaus auf den Balkon. In den 15 Monaten seiner Herrschaft etablierten seine Legionäre einen Führerkult, der später Mussolini und Hitler inspirieren sollte: Fackelmärsche, geifernde Reden und der "römische Gruß", der gereckte rechte Arm, der damit in Rijeka wieder hoffähig wurde.
Die Metamorphose von Industriebrachen
Wann immer er kann, kommt Ivan Sarar in die alte Zuckerfabrik von Rijeka. Für ihn ist es die wichtigste Baustelle der Kulturhauptstadt. Vor Jahren spielte auch Sarar in einer Band.
Heute ist der Alt-Rocker Kulturstadtrat und der eigentliche Motor hinter der Kulturhauptstadt-Bewegung. Sein größter Traum: leerstehende alte Industrieareale einer neuen Nutzung zuzuführen.
"Wir haben in dieser Stadt eine Fläche an verfallenden Industriegebäuden von fast einer halben Million Quadratmeter. Davon, was wir mit denen machen, hängt die Metamorphose Rijekas zu einer neuen, modernen Stadt ab. Und hier, wo wir uns jetzt befinden, beginnen wir damit. Auf einer Fläche von fünf Hektar rekonstruieren wir die ersten 17.000 Quadratmeter."
Nicht Abriss, Metamorphose sei das Credo der Kulturhauptstadt. Und das Museum für moderne Kunst ist bereits fertig.
In der Buchhandlung Ex Libris blättert Tea Tulic zwischen zweistöckigen Bücherregalen und Wänden voller Grafiken in einem Roman.
Sie hat zwei Bücher veröffentlicht und Texte für ein Spoken-Word-Album für eine Rijekaer Band geschrieben. Ex Libris, sagt sie, sei mit seinen Veranstaltungen und Buchpremieren der eigentliche Treffpunkt der Kulturszene der Stadt.
Die Literaturszene der Stadt ist schmal. Mit Dasa Drndic ist vor kurzem eine der letzten auch international bekannten kroatischen Autorinnen der Stadt verstorben. Ihr Porträt steht hinter Tea auf einem Klavier. Zoran Zmiric ist nach Irland ausgewandert. Andere sind nach Zagreb gegangen. Tea Tulic ist geblieben.
Zu liberal für Nationalisten
Für sie ist Rijeka die am wenigsten nationalistische Stadt Kroatiens. Selbst in der Zeit der Zerfallskriege, hätte hier die nationalistische HDZ-Partei nie einen Fuß auf den Boden bekommen. Rijeka sei immer liberal geblieben. Keine andere Stadt im Land werde deshalb von den Politikern in Zagreb so gemieden. Und derart benachteiligt.
"Rijeka war im Gegensatz zu vielen anderen kroatischen Städten multiethnisch und multikulturell geprägt. Man kennt sich hier aus mit unterschiedlichen Mentalitäten. Wir haben seit jeher gelernt, mit dem Fremden, dem Anderen umzugehen. Und ich bin stolz darauf, dass wir uns bei der Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres zur ersten antifaschistischen Stadt Kroatiens erklären werden."
Der Abend wird in die Geschichte eingehen. Zum ersten Mal werden eine amtierende Präsidentin und ein Premierminister der eigenen Kulturhauptstadt die Teilnahme an den Eröffnungsfeierlichkeiten verweigern. Mehr noch, sie schickten nicht einmal eine offizielle Glückwunschadresse.
Während im Hafen die große Eröffnungsshow läuft, kommen die Zvontschari von Zamet und vertreiben die letzten Winterdämonen. Und ahnen nicht, dass ein anderer Dämon längst nach Rijeka unterwegs ist. Man wird ihn COVID-19 nennen und bis zum Sommer alle Veranstaltungen absagen.
(DW)
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 15.05.2020.